Urteil des SozG Osnabrück vom 24.06.2009

SozG Osnabrück: beeinträchtigung des sehvermögens, blindheit, familie, jugend, erblindung, rechtsverordnung, behinderter, begriff, mensch, nystagmus

Sozialgericht Osnabrück
Urteil vom 24.06.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 9 SB 231/07
1. Der Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I., vom
31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007 wird aufgehoben. 2. Der
Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 20.06.2006 das Merkzeichen "Bl" zuzuerkennen. 3. Der Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" für Blind im Wege der
Neufeststellung. Der 1997 geborene Kläger leidet u.a. unter schwerstgradiger spastischer Tetraparese, unter multiplen
Kontrakturen der Hüft- und Kniegelenke sowie unter einer hochgradigen Sehminderung. Das Versorgungsamt J.,
Außenstelle I., stellte mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 31.7.1998 einen GdB von 100 fest und erkannte
die Merkzeichen G, B, aG, Bl, H und RF zu. Der GdB-Feststellung lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen
zugrunde: "Entwicklungsstörungen mit Koordinationsstörungen, hirnorganische Anfälle bei frühkindlichem
Hirnschaden" (Einzel-GdB 100); "Blindheit" (Einzel-GdB 100). Im Juli 1999 leitete der Beklagte ein
Überprüfungsverfahren ein. Vor Abschluss des Verfahrens verzichteten die Eltern des Klägers gegenüber dem
Beklagten mit Schreiben vom 13.2.2002 auf weitere Ansprüche aus der Blindengeldkasse. Mit Bescheid vom
19.2.2002 stellte das Versorgungsamt fest, dass der Verzicht auf die mit Bescheid vom 31.7.1998 erfolgte
Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" zulässig war. Am 20.6.2006 beantragte der Kläger die Zuerkennung des
Merkzeichens "Bl". Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I., holte einen
Befundbericht von dem Augenarzt K. ein. Anschließend lehnte es mit Bescheid vom 31.7.2006 die Zuerkennung des
Merkzeichens "Bl" ab. Zur Begründung führte es aus, dass nach den Richtlinien der DOG keine Blindheit bestehe.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und veranlasste den behandelnden Augenarzt L., eine ärztliche
Stellungnahme gegenüber dem Landesamt abzugeben. Das Landesamt holte Gutachten von M. (Radiologe) und von
der Augenärztin N. ein. Nach der Auswertung dieser Unterlagen wies der Beklagte den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 11.6.2007 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine im Vergleich zu anderen
Modalitäten starke Betroffenheit des Sehapparates nicht habe festgestellt werden können, da höhergradige
Schädigungen im Bereich der Sehrinde, der Sehbahnen oder der Sehnerven nicht nachgewiesen seien. Hiergegen hat
der Kläger am 9.7.2007 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung der Klage trägt er
ergänzend und vertiefend vor, dass eine corticale Blindheit vorliege. Er fixiere keinerlei Objekte oder Licht. Ein
Nystagmus sei nicht auslösbar. Lediglich das rechte Auge reagiere leicht auf direkten Lichteinfall. Eine spontane
Reaktion der Pupillen finde nicht statt. Er sei in der Wahrnehmung von akustischen Reizen nicht eingeschränkt. Er
leide unter einer faktischen Blindheit. Er beruft sich auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31.1.1995 (1
RS 1/93) und vom 20.7.2005 (B 9a BL 1/05 R). Der Kläger hat diverse Arztbriefe der Klinik und Poliklinik für
Kinderheilkunde O. eingereicht. Der Kläger beantragt, 1. den Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für
Soziales, Jugend und Familie, Außenstelle I. vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des
Beklagten vom 11.06.2007 aufzuheben, 2. den Beklagten zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "Bl" ab 20.06.2006
zuzuerkennen. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Der Beklagte meint demgegenüber, das Merkzeichen
könne nicht zuerkannt werden. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines schriftlichen
augenfachärztlichen Sachverständigengutachtens vom 14.9.2008 von Prof. Dr. Dr. Thanos. Wegen der weiteren
Einzelheiten wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Sie sind
Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und
Familie, Außenstelle I. vom 31.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 11.06.2007
ist rechtswidrig und beschwert den Kläger. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ab
20.06.2006 (Antragsdatum), weil die entsprechenden medizinischen Voraussetzungen vorliegen. I. Nach § 69 Abs. 4
Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) stellen die für die
Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden im Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX
neben dem Vorliegen einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die
Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die Blindheit. Ist ein schwerbehinderter
Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) oder
entsprechender Vorschriften, so ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in
dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "Bl" einzutragen. Blind ist derjenige, dem das Augenlicht
vollständig fehlt (vgl. Baur in Mergler/Zink, SGB XII-Kommentar, § 72 Rn. 15 m.w.N.). Nach § 72 Abs. 5 SGB XII
stehen blinden Menschen Personen gleich, deren beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als 1/50 beträgt oder bei
denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störungen des
Sehvermögens vorliegen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen P. ist der Kläger zwar nicht blind nach den
Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG), da kein organischer Befund vorliegt. Die Augen
und ihre Adnexe sowie die aufsteigende Sehbahn (Sehnerv, Sehtrakt, Sehstrahlung und Sehrinde) sind nach seinen
Feststellungen weitgehend intakt. Es liegt lediglich eine Makulaunreife vor. Auch ist nicht nachweisbar, dass der
Kläger faktisch blind im Sinne von § 72 Abs. 5 Alt. 1 SGB XII ist, da seine Sehschärfe wegen fehlender
Fixationsmöglichkeit nicht feststellbar ist. Er reagiert nur rudimentär und nicht reproduzierbar auf Lichtquellen, ohne
dabei gezielte Blickwendungen oder gar Folgebewegungen auszuführen. Es ist kein okulo-kinetischer Nystagmus
vorhanden, eine Fixationsaufnahme ist beidseits negativ. Allerdings leidet der Kläger an einer anderen Störung des
Sehvermögens mit einem solchen Schweregrad, die der Beeinträchtigung der Sehschärfe von 1/50 gemäß § 72 Abs.
5 Alt. 2 SGB XII gleichzusetzen ist. Schon nach dem Wortlaut des § 72 Abs. 5 Alt. 2 SGB XII ist es nicht
maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan selbst beschädigt ist.
Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, und zwar für sich
allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans (so auch die ständige Rechtsprechung des
BSG, vgl. etwa Urteil vom 20.7.2005, B 9a Bl 1/05 R). Es ist nach der Rechtsprechung des BSG, der sich u.a. auch
das LSG Niedersachsen-Bremen angeschlossen hat (vgl. etwa Urteile vom 17.6.2008, L 13 SB 51/05; vom 13.7.2007,
L 5 SB 90/05), allerdings zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d.h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können
beeinträchtigt ist, oder ob bei vorhandener Sehfunktion (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das
Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann. Bei
umfangreichen cerebralen Schäden muss sich im Vergleich zu anderen – möglicherweise ebenfalls eingeschränkten –
Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Dabei genügt zum Nachweis einer
zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich
stärker betroffen ist als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Der Kläger leidet an einer faktischen Erblindung im
vorgenannten Sinn. Nach den Feststellungen des Sachverständigen P. ist erwiesen, dass bei dem Kläger eine
faktische Erblindung vorliegt. Die Ursache der faktischen Erblindung liegt im Bereich einer sehwahrnehmungsbetonten
Agnosie (visuelle Agnosie), die mit einer Herabsetzung des Sehvermögens durch die Makulaunreife, mit fehlender
Fixationsfähigkeit und mit einer Störung der gezielten Augenfolgebewegungen verbunden ist. Auf taktile und
akustische Reize reagiert der Kläger. Die visuelle Wahrnehmung ist damit deutlich stärker betroffen als die
Wahrnehmung in anderen Modalitäten. II. Etwas anderes ergibt sich ab dem 1.1.2009 auch nicht aus Teil A Nr. 6 der
Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (VersMedV). Diese Vorschrift ist keine
Vorschrift im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV, die dem § 72 Abs. 5 SGB XII entspricht. Nach Teil A Nr. 6 der
Anlage zu § 2 VersMedV ist ein behinderter Mensch mit visueller Agnosie oder anderen gnostischen Störungen nicht
blind. Bei Zugrundelegung dieser Definition wäre dem Kläger das Merkzeichen "Bl" nicht zuzuerkennen. 1. Dieser
Begriff der Blindheit weicht von der Begriffsbestimmung des § 72 Abs. 5 SGB XII ab. Das BSG ging bislang von
einem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit aus (BSG a.a.O.). Daran ist auch nach Inkrafttreten der
Versorgungsmedizinischen Grundsätze festzuhalten. 2. Weder § 69 SGB IX noch § 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV
verweisen für die Feststellung von weiteren gesundheitlichen Merkmalen wie der Blindheit ausdrücklich auf die
VersMedV. a) Die Kammer hat schon Zweifel, ob die Begriffsbestimmung in Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV
bei der Feststellung, ob einem schwerbehinderten Menschen das Merkzeichen "Bl" zuzuerkennen ist, überhaupt
anwendbar ist. Denn § 69 Abs. 4 SGB IX verweist nur hinsichtlich des Verfahrens auf Abs. 1. Bezüglich materieller
Voraussetzungen findet sich kein Verweis auf Abs. 1. b) Nach systematischer Auslegung bezieht sich die in § 69
Abs. 1 Satz 5 SGB IX angeordnete entsprechenden Geltung der Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund
des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung nur auf die Feststellungen nach § 69 Abs. 1 SGB IX. Dazu
gehört nicht die Feststellung, wann jemand als blind anzusehen ist. Der Verweis in § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX selbst
enthält keine Bezugnahme auf die Feststellung von weiteren gesundheitlichen Merkmalen wie der Blindheit. 3. Zudem
ist Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht von der Ermächtigungsnorm § 30 Abs. 17 BVG gedeckt. Selbst
wenn man vorgenannte Bedenken nicht teilt und über § 69 Abs. 4, Abs. 1 Satz 5 SGB IX den § 30 Abs. 17 BVG
anwenden wollte, könnte Teil A Nr. 6 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Diese
Norm ist nach Ansicht der Kammer nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 30 Abs. 17 BVG erfasst. Nach § 30
Abs. 17 BVG wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem
Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze
aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der
Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer
Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 BVG maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der
Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG aufzustellen und das Verfahren für deren
Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln. Nicht erfasst ist von dieser Ermächtigungsgrundlage die Festlegung von
Grundsätzen zur Bestimmung von gesundheitlichen Merkmalen wie Blindheit.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.