Urteil des SozG Oldenburg vom 21.09.2005

SozG Oldenburg: behörde, erlass, untätigkeitsklage, brille, krankenkasse, auflage, augenoptiker, verfahrenskosten, verfahrensrecht, handbuch

Sozialgericht Oldenburg
Beschluss vom 21.09.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 2 SO 78/05
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe:
I. Die im Oktober 1976 geborene und ihr im November 1971 geborener Ehemann sowie deren beiden Söhne (geboren
Januar 1996 und Juli 2000) erhielten von der Beklagten seit längerer Zeit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt
und verschiedene einmalige Leistungen nach den Regelungen des BSHG. Am 05. Oktober 2004 wurde der
Antragstellerin eine Fernbrille mit 1,5 Dioptrien rechts und 1,25 Dioptrien links verschrieben. Am gleichen Tage
erstellte der Augenoptiker D. für die Anschaffung einer Brille einen so nicht bezeichneten "Kostenvoranschlag" über
158,10 EUR. Nach dem Vorbringen der Antragstellerin wandte sie sich daraufhin fernmündlich an ihre Krankenkasse
wegen der Übernahme dieser Kosten. Dies sei ihr von der Krankenkasse fernmündlich unter Hinweis auf neue
Bestimmungen des Krankenversicherungsrechts versagt worden. Weiterhin wandte sich die Antragstellerin nach ihrem
Vorbringen am gleichen Tage fernmündlich an einen Mitarbeiter der Antragsgegnerin im Sozialamt. Dabei habe sie
auch ausgeführt, dass sie ggf. nur mit einer darlehensweisen Gewährung des betreffenden Betrages einverstanden
sei. Der Mitarbeiter der Verwaltung habe aber mündlich die Kostenübernahme abgelehnt, da auch das Sozialamt nur
entsprechend den Regelungen, die für die Krankenkasse gelten, leisten könne. Mit dem Schreiben vom 08.04.2004
legte die Antragstellerin gegen die mündliche Versagung der begehrten Leistung Widerspruch ein. Sie wies dabei
allgemein auf die "aktuelle Rechtsprechung des OVG Lüneburg" hin. Am 10. Oktober 2004 wurde vom Augenoptiker
die Brille an die Antragstellerin geliefert und unter dem 11. Oktober 2004 eine Rechnung über 158,10 EUR gestellt. Mit
dem Schreiben vom 12. April 2005 erinnerte die Antragstellerin an die Bescheidung ihres Widerspruchs und kündigte
die Erhebung einer Untätigkeitsklage am 19. April 2005 an.
Am 19. April 2005 hat die Antragstellerin Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verpflichten, über ihren
Widerspruch zu entscheiden. Zugleich hat sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt und ausgeführt, dass
die Versagung von Leistungen für die Anschaffung einer Brille nicht gerechtfertigt sei und das die Erhebung einer
Untätigkeitsklage nunmehr geboten sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 04. August 2005 – ihrem Bevollmächtigten zugestellt am 05. August 2005 – wies die
Beklagte den Widerspruch als unbegründet ab. Zur Begründung führte sie aus, dass hinsichtlich des Brillengestells
eine Notwendigkeit der Gewährung von Sozialhilfe nicht gegeben sei, weil verschiedene Optiker bei Bestellung einer
neuen Brille das Gestell nicht berechnen würden. Hinsichtlich der Brillengläser habe die Antragstellerin nicht dargelegt,
warum sie nicht in der Lage gewesen sei, aus den ihr seit dem 01. Januar 2005 gewährten Leistungen nach dem SGB
II die Mittel aufzubringen.
Nach Erhalt des Widerspruchsbescheides hat die Klägerin am 11. August 2005 eine weitere Klage erhoben mit dem
Ziel, die Beklagte zur darlehensweisen Übernahme der begehrten Leistung zu verpflichten. Über die Klage wurde
bislang noch nicht entscheiden (Az.: S 2 SO 208/05).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
II. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da die Klage keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg gebietet (vgl. § 73 a SGG i.V.m. § 114 ZPO). Die Klage, die als reine "Verbescheidungsklage" erhoben worden
war, hat sich zwischenzeitlich durch den Erlass des Widerspruchsbescheides erledigt, so dass eine wirtschaftliche
Hilfe des Staates zur Führung des Prozesses nicht (mehr) notwendig ist. Denn mit dem Erlass des
Widerspruchsbescheides vom 04. August 2005 durch die Antragsgegnerin ist das eingetreten, was die Antragstellerin
durch den von ihr formulierten Klageantrag erreichen wollte. Auch wenn man davon ausgeht, dass hinsichtlich der
begehrten Prozesskostenhilfe auf die Situation zu Beginn des Prozesses abzustellen ist, so führt dies nicht zu einer
anderen Entscheidung. Regelmäßig wird nämlich bei einer Untätigkeitsklage, deren sachlichen Voraussetzungen nach
§ 88 SGG gegeben sind, und bei Erlass des begehrten Widerspruchsbescheides und sofortiger Erklärung der
Hauptsacheerledigung eine Kostenlastentscheidung zugunsten der Antragstellerin und zu Lasten der saumseligen
Behörde getroffen (vgl. Meyer-Ladewig/Leitherer, Kommentar SGG 8. Auflage München 2005, § 193 Rdn. 13c
m.w.N.). Wäre also von der Antragstellerin nicht unter dem 11. August 2005 die weitere Klage in der Sache erhoben
worden, sondern hätte sie sogleich die Hauptsache für erledigt erklärt, so wäre eine Kostenlastentscheidung zu ihren
Gunsten ergangen. Demgegenüber ist die Situation anders zu beurteilen, wenn die Antragstellerin den Prozess
fortsetzt wie im vorliegenden Falle. In § 193 SGG sind keine Prinzipien weiter ausgeführt, nach denen die
Kostenlastentscheidung zu treffen ist. Daher bietet es sich an, auf die Rechtsprinzipien zurückzugreifen, die in einer
anderen Verfahrensordnung gesetzlich angesprochen sind. Dies gebietet auch der Gedanke der Einheit der
Rechtsordnung. Nach § 161 Abs. 3 VwGO hat die Beklagte in den Fällen der Untätigkeitsklage (vgl. § 75 VwGO) stets
die Kostenlast, wenn der Kläger mit seiner Bescheidung vor Klageerhebung rechnen konnte. Setzt ein Kläger dagegen
nach Erhalt des Widerspruchsbescheides (und Beseitigung der Untätigkeit der Behörde) den Rechtsstreit fort, so
entfällt die Rechtfertigung für die Überbürdung der Kosten auf die Beklagte, weil dann ihre Untätigkeit nicht (mehr) die
Ursache für die Verfahrenskosten ist. Der Kläger riskiert durch die Fortsetzung des Prozesses eine
Kostenlastentscheidung zu seinen Ungunsten unabhängig von der ursprünglichen Untätigkeit der Behörde. Das hat
das Bundesverwaltungsgericht für den Fall entschieden, dass ein Kläger nach der rechtswidrig verzögerten Ablehnung
eines beantragten Verwaltungsaktes den Prozess fortsetzt (vgl. Beschluss vom 23. Juli 1991 – 3 C 56.90 – NVwZ
1991, 1180). Das Gleiche muss gelten, wenn ein Kläger statt einer förmlichen Fortsetzung des Verfahrens das
Verfahren nach dem Tätigwerden der Behörde, nämlich nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides, dieses durch
Erledigungserklärung beendet, seine Klageziel jedoch mit einer neuen Klage weiter verfolgt (vgl. VG Bremen,
Beschluss vom 05. Juli 2002 – 1 K 376/02 – zitiert nach Juris). Diese für den Verwaltungsprozess entwickelten
Grundsätze sind nach Ansicht des erkennenden Richters sinnvollerweise auch auf den sozialgerichtlichen Prozess zu
übertragen, weil nähere gesetzliche Bestimmungen zur Kostenlastentscheidung im sozialgerichtlichen Prozess fehlen
und die verwaltungsprozessrechtlichen Bestimmungen Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens sind, der im
Rahmen der nach § 193 SGG zu treffenden Billigkeitsentscheidung Berücksichtigung finden sollten.
Als selbständig tragender Grund kommt hinzu, dass der Klageantrag der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren in
der Zulässigkeit Bedenken begegnet, so dass auch insoweit die begehrte Prozesskostenhilfe mangels hinreichender
Erfolgsaussicht der Klage zu versagen war. Mit der Klageschrift hat die Antragstellerin beantragt, den Beklagten zu
verpflichten, ihren Widerspruch zu bescheiden. Zwar wird in der sozialgerichtlichen Literatur und der Rechtsprechung
die Auffassung vertreten, aus § 88 SGG ergebe sich unmittelbar ein Anspruch auf Erlass eines Verwaltungsaktes
bzw. Widerspruchsbescheides in Form einer sogenannten Bescheidungsklage, ohne das es auf einen bestimmten
Inhalt des begehrten Bescheides ankäme (vgl. Meyer-Ladewig, aaO, § 88 Rdn. 9 m.w.N.; BSGE 72/118, 120; 73/244,
247; 75/56, 58; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage Berlin 2002, Teil IV Rdn.
54, Seite 143; Zweifelnd: BSGE 75/262, 267). Indessen überzeugt diese Auffassung den erkennenden Richter nicht.
Denn dieses Verständnis beruht nicht auf einem klaren Wortlaut gesetzlicher Vorschriften, sondern es beruht lediglich
auf dem allgemeinen Gedanken, effektiven Rechtsschutz gewähren zu wollen. Dieser kann jedoch ohne weiteres
durch ein am Wortlaut des Gesetzes orientiertes Verständnis der Vorschrift ebenfalls gewährt werden. Daher begegnet
die Zulässigkeit des im vorliegenden Falle von der Antragstellerin formulierten Klageantrages durchgreifenden
Bedenken. Der Wortlaut des § 88 SGG bietet entgegen der zuvor wiedergebenen Ansicht des BSG keinen Anlass
dafür, zu meinen, im Gesetz sei an dieser Stelle eine allgemeine Bescheidungsklage als zulässig angesehen worden.
Denn in § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG wird im zweiten Satzteil als Rechtsfolge ausdrücklich nur auf die Zulässigkeit einer
Klage (unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen) abgestellt. Mithin ist aus dem Wortlaut des Gesetzes
ein eigener allgemeiner Verbescheidungsanspruch nicht erkennbar. Auch sonst ist im allgemeinen Verfahrensrecht
oder in den materiell rechtlichen Vorschriften des Fachrechts kein eigener Anspruch des Rechtssuchenden auf Erlass
eines Widerspruchsbescheides normiert. Denn das Begehren, dass auf Verpflichtung einer Behörde zu einer inhaltlich
nicht festgelegten "schlichten" Bescheidung gerichtet ist, ist kein Rechtsschutzbegehren, sondern hat eine
Verfahrenshandlung einer Behörde zum Ziel. Soweit in der Kommentierung (vgl. dazu auch: Kopp/Schenke, VwGO
13. Auflage, § 75 Rdn. 1a und 5) die Auffassung vertreten wird, der Sinn des erweiterten Verständnisses eines
Anspruchs auf Verbescheidung liege darin, dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG
Rechnung zu tragen und es zu vermeiden, eine bedenkliche Erschwerung des Zugangs zum Gericht aufgrund der
Untätigkeit einer Behörde zu verhindern, überzeugt dies nicht. Denn diesem Gebot zur Gewährung effektiven
Rechtsschutzes wird ohne weiteres dadurch Rechnung getragen, das Gegenstand der erhobenen Anfechtungs-,
Verpflichtungs- oder allgemeinen Leistungsklage immer ein bestimmtes konkretes Rechtsschutzbegehren sein muss,
dass aufgrund der Sonderregelung in § 88 SGG auch dann zulässig ist, wenn eine Behörde im Sinne der Vorschrift
untätig bleibt. Mithin wird durch das hier vertretene Verständnis der Vorschrift die Effektivität des Rechtsschutzes in
gleicher Weise sicher gestellt. Dass es keinen für sich einklagbaren allgemeinen Anspruch auf Erlass eines
Widerspruchsbescheides (gleich welchen Inhalts) gibt, wird auch dadurch deutlich, dass nach allgemeiner Ansicht
eine Untätigkeitsklage auch dann abgewiesen werden kann, wenn zwar die Voraussetzungen einer rügenswerten
Untätigkeit vorliegen, jedoch andere Prozessvoraussetzungen oder materielle Bedingungen nicht erfüllt sind: So kann
es an allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen fehlen wie dem Rechtsschutzbedürfnis oder die Klage kann gegen
eine unzuständige Behörde gerichtet sein. Ob abweichend von der hier vertretenen Ansicht eine allgemeine
Verbescheidungsklage auf Erhalt eines Widerspruchsbescheides dann zulässig sein könnte, wenn eine
Ermessensentscheidung im Raum steht, muss für den vorliegenden Fall nicht weiter vertieft werden. Für die Annahme
der Zulässigkeit einer derartigen Klage mag sprechen, dass durch den Erlass eines Widerspruchsbescheides dem
Bürgern die Möglichkeit erhalten bleibt, nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit seines
Begehrens in der Sache einer Überprüfung zuführen zu können. Jedenfalls ist bei gebundenen Entscheidungen, die
nicht im Ermessen der betreffenden Behörde stehen, ein allgemeiner Anspruch auf Erlass eines
Widerspruchsbescheides zu verneinen (vgl. Weides/Bertrams NVwZ 1988, 673; von Schledorn NVwZ 1995, 250;
Wimmer NJW 1999, 3690). Tatsächlich besteht auch kein praktisches Bedürfnis dafür, die Zulässigkeit einer
allgemeinen Verbescheidungsklage anzunehmen. Vielmehr zeigt gerade der vorliegende Fall, dass dies zu einer
unnötigen Zunahme der Prozesstätigkeit vor den Gerichten führt und zudem durch die Hintereinanderschaltung einer
Untätigkeitsklage und einer weiteren Klage in der Sache unnötige Verfahrenskosten anfallen.