Urteil des SozG Oldenburg vom 30.05.2005

SozG Oldenburg: behinderung, hauptsache, versorgung, pflege, fortbewegung, erwerbsfähiger, rechtsgrundlage, geburt, abgeltung, rechtsschutz

Sozialgericht Oldenburg
Beschluss vom 30.05.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 2 SO 49/05 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig der Antragstellerin Hilfe zur
Weiterführung des Haushalts im Umfang von wöchentlich 4 Stunden Hilfeleistung zu gewähren.
Die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin sind von der Antragsgegnerin zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin die Weiterführung von Hilfeleistungen, die ihr von der
Antragsgegnerin für einzelne hauswirtschaftliche Verrichtungen früher gewährt und nunmehr mit Hinweis auf den
Leistungsbezug nach SGB II versagt wurden.
Die im Dezember 1973 geborene Antragstellerin leidet von Geburt an an einer Lähmung der Arme und Beine und
bedarf zur Fortbewegung im Haus zweier Unterarmgehstützen, mit denen sie sich nur schwerlich und langsam
bewegen kann. Für die Fortbewegung außerhalb der Wohnung ist sie auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Ihr wurden
von der Versorgungsverwaltung die Merkzeichen "G", "H", "RF" und "aG" sowie ein Grad der Behinderung von 100
zuerkannt. In der Vergangenheit bezog die Antragstellerin von der Antragsgegnerin bis zum 31. Dezember 2004
laufende ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt. Außerdem geht die Antragstellerin seit längerem einer kleineren
Erwerbstätigkeit nach, für die sie monatlich Brutto etwa 600,00 Euro erhält. Seit dem 1. Januar 2005 erhält sie von der
örtlichen Arbeitsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 319,56 Euro.
In der Vergangenheit erhielt die Antragstellerin von der Antragsgegnerin neben der laufenden ergänzenden Hilfe zum
Lebensunterhalt auch Leistungen der Haushaltshilfe nach § 11 Abs. 3 BSHG (vgl. etwa Bescheid vom 19. Mai 2003,
Blatt 900 ff. der Beiakte A, oder auch Bescheid vom 14. Juli 2004, Blatt 1087 der Verwaltungsvorgänge). Dabei ging
die Antragsgegnerin in der Weise vor, daß die Haushaltshilfe an 4 Stunden in der Woche der Antragstellerin half, die
Hilfeleistung schriftlich von der Haushaltshilfe und der Antragstellerin bestätigt und anschließend ein Betrag von der
Antragsgegnerin direkt an die Haushaltshilfe überwiesen wurde. Außerdem übernahm die Antragsgegnerin die
Versicherungskosten der Haushaltshilfe beim Gemeindeunfallversicherungsverband. Im November 2004 wandte sich
die Antragstellerin an ihre Sachbearbeiterin beim Sozialamt der Antragsgegnerin und begehrte Auskunft darüber, ob
sie trotz ihrer teilweisen Erwerbsfähigkeit weiterhin Leistungen zur Verrichtung einzelner hauswirtschaftlicher
Tätigkeiten erhalten könne. Mitarbeiter der Antragsgegnerin stellten daraufhin ausweislích eines Vermerks vom 16.
November 2004 (Blatt 1122 der Verwaltungsvorgänge) fest, daß es der Antragstellerin nicht möglich sei, selbst den
Fußboden zu wischen, die Böden zu saugen, Wäsche zu bügeln, Betten zu beziehen, das Bad gründlich zu säubern,
Fenster zu putzen oder ähnliche hauswirtschaftliche Tätigkeiten zu verrichten. Auch sei sie nur in der Lage,
Kleinigkeiten für den Einkauf zu transportieren. Für den Januar und Februar 2005 übernahm die Antragsgegnerin noch
die Kosten der Haushaltshilfe, jedoch lehnte sie mit Bescheid vom 3. März 2005 die weitere Übernahme der Kosten
einer Haushaltshilfe ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß die Hilfe, die früher in § 11 Abs. 3 BSHG geregelt
gewesen sei, nunmehr in § 27 Abs. 3 SGB XII erfaßt werde. Da diese Vorschrift zum Bereich der laufenden Hilfe zum
Lebensunterhalt gehöre, werde sie vom Leistungsausschluß, wie er in § 21 SGB XII für die Bezieher von Leistungen
nach dem SGB II geregelt sei, erfaßt. Dagegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 8. März 2005 Widerspruch
ein und machte geltend, daß ihr Hilfe zur Weiterführung des Haushalts gem. § 70 SGB XII gewährt werden müsse.
Über den Widerspruch wurde – soweit ersichtlich – bislang noch nicht entschieden.
Am 8. März 2005 hat sich die Antragstellerin an das Sozialgericht Oldenburg mit der Bitte um Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes gewandt und wiederholt und vertieft ihre Ausführungen aus dem Widerspruchsschreiben. Außerdem
macht sie geltend, ihr sei kein Bewilligungsbescheid zuteil geworden, der als Ermächtigungsgrundlage § 11 Abs. 3
BSHG habe erkennen lassen. Zudem könnte ihr auch die begehrte Hilfe als Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII
oder als Hilfe zur Pflege nach § 61 Abs. 5 Nr. 4 SGB XII gewährt werden.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten und macht geltend, daß die Anwendung des § 27 Abs. 3 SGB
XII – was hier alleine in Betracht komme – durch die Sperrvorschrift des § 21 SGB XII ihr verboten sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg. Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine
einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sogenannte
Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher stets, dass sowohl ein
Anordnungsgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und ein
Anordnungsanspruch (d. h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen
Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. mit § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei
darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich
nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem
Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in einem
Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu Lasten
der Antragstellerin ausginge, nur unter sehr großen Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden
könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare,
anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zur deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 m.w.N.). Ausgehend von diesen Grundsätzen hat
die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft dargetan. Entgegen
der Ansicht der Antragsgegnerin kann sich der Anspruch auf § 61 SGB XII stützen. Da die Antragstellerin aufgrund
ihrer Behinderungen auf die Hilfeleistung gegenwärtig angewiesen ist, besteht auch ein Anordnungsgrund. Dazu im
Einzelnen:
Zutreffend weist die Antragsgegnerin darauf hin, daß sie früher der Antragstellerin Hilfe auf der Grundlage von § 11
Abs. 3 BSHG zur Sicherung der hauswirtschaftlichen Versorgung gewährt hat. Das ergibt sich zweifelsfrei aus den
Verwaltungsvorgängen und den von der Antragsgegnerin der Antragstellerin erteilten Bescheiden und knüpfte wohl an
die Überlegung an, daß die Antragstellerin nicht in der Lage ist, bestimmte erforderliche Tätigkeiten, die zum
notwendigen Lebensunterhalt gehören, selbst zu verrichten (vgl. dazu BVerwG FEVS 47, 63 und OVG Lüneburg
FEVS 45, 294). Dabei entsprach es durchaus der früher geltenden Rechtslage, daß dann, wenn der Hilfesuchende
meist aus Gründen einer körperlichen Behinderung nicht in der Lage ist, bestimmte hauswirtschaftliche Tätigkeiten
auszuführen, er einen Anspruch darauf hat, bei ihm eine Erhöhung der Regelsatzleistungen vorzunehmen. Denn § 11
Abs. 3 BSHG war regelmäßig nur dann anwendbar, wenn eigentlich die betreffenden Hilfesuchenden über
ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügten, was gerade – ausweislich der Gewährung von laufender Hilfe
zum Lebensunterhalt – bei der Antragstellerin nicht der Fall war. Insoweit dürfte die frühere Hilfegewährung auf einer
falschen Rechtsgrundlage erfolgt sein. Zutreffend weist die Antragsgegnerin jedoch darauf hin, daß nunmehr § 11
Abs. 3 BSHG in § 27 Abs. 3 SGB XII seine nahezu wortgleiche Fortführung findet. Daher wird auch in der
Kommentierung zu § 27 SGB XII die Ansicht vertreten, Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt, denen die
Verrichtung von einzelnen bestimmten Tätigkeiten nicht möglich sei, sei eine Erhöhung der Regelsatzleistungen nach
§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu gewähren (vgl. Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, München 2005, § 27 Randn. 7).
Auch ist der Antragsgegnerin zuzustimmen, daß die Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähiger
leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten können. Dies ergibt sich eindeutig aus §
21 Satz 1 SGB XII sowie aus § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II. Indessen führt dieser Ausschluß und der Verweis auf die
Leistungen nach dem SGB II für die Antragstellerin zu einer bedenklichen Regelungslücke. Obwohl in § 1 Abs. 1 Satz
4 Nr. 5 SGB II allgemein die Überwindung behindertenspezifischer Nachteile propagiert wird, enthalten die Vorschriften
über die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 bis 28 SGB II keine Regelungen darüber, den
Regelsatz individuell anzupassen oder einzelne abweichende Leistungen vom Regelsatz entsprechend den
Vorschriften der §§ 27, 28 SGB XII zu gewähren. Vielmehr sind die Leistungen nach dem SGB II davon geprägt, daß
nur ein Regelsatz zur Abgeltung der regelmäßigen und einmaligen Bedarfe gewährt wird und daß nur bei einem
unabweisbaren Bedarf nach § 23 SGB II eine darlehnsweise Leistung vom Träger der Leistungen nach dem SGB II
erfolgen kann. Diese Regelungslücke in den neuen gesetzlichen Systemen ist daher nach der gegenwärtigen
Erkenntnis des erkennenden Richters dahin zu schließen, daß – anders als bisher – ein erweiterndes Verständnis von
§ 61 Abs. 5 Nr. 4 SGB XII Platz greift. Nach dieser Vorschrift ist Hilfe zur Pflege durch hauswirtschaftliche
Tätigkeiten denjenigen Personen zu gewähren, die aufgrund ihrer körperlichen Behinderung für die gewöhnlichen und
regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer der Hilfe bedürfen. Dies ist
nach dem gegenwärtig bekannten Sachverhalt bei der Antragstellerin der Fall. Leistungen nach § 70 SGB XII kommen
deswegen nicht in Betracht, weil die Antragstellerin als Pflegebedürftige ihren Haushalt allein geführt hat (vgl. Grube
in: Grube/Wahrendorf, a. a. O. § 70 SGB XII Randn. 4). Gleichfalls kommen Leistungen der Eingliederungshilfe nach
§ 54 SGB XII nicht in Betracht, da bei der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht die Eingliederung in das Berufsleben
oder das Leben in der Gemeinschaft in Frage steht. Allerdings ist bei diesem Verständnis der Vorschrift nicht zu
verkennen, daß damit nur wegen des Leistungsausschlusses in § 21 SGB XII der sachlich möglicherweise
zutreffende Regelungstatbestand in § 27 Abs. 3 SGB XII eine Einengung erfährt. Auch ist es in gewisser Weise
mißlich, daß nunmehr die Antragstellerin – entgegen den Intentionen des Gesetzgebers – sowohl Leistungen nach
dem SGB II als auch Leistungen nach dem SGB XII (und damit Leistungen von verschiedenen Trägern) erhält.
Indessen erscheint es im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dem Gericht geboten, diese
Zuordnung des Bedarfs der Antragstellerin zum Leistungsspektrum der Antragsgegnerin vorzunehmen, weil sonst die
Erfüllung des unzweifelhaft bei der Antragstellerin bestehenden Bedarfs nicht sichergestellt ist und eine Verweisung
auf darlehnsweise Leistungen wegen der bei der Antragstellerin bestehenden dauerhaften Behinderungen sinnlos sein
dürfte.
Über die Kosten war gem. § 193 SGG analog zu entscheiden. Es entsprach der Billigkeit, die außergerichtlichen
Kosten der Antragstellerin für erstattungsfähig zu erklären, weil sie mit ihrem Begehren durchgedrungen ist. Die
Gerichtskostenfreiheit für die Antragstellerin beruht auf § 183 Satz 1 SGG.
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