Urteil des SozG Neuruppin vom 14.03.2017

SozG Neuruppin: reduktion, behörde, bestimmtheit, leistungsverhältnis, form, sammlung, quelle, link, beteiligter, rechtssicherheit

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Gericht:
SG Neuruppin 17.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 17 AS 627/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10, § 50
Abs 1 S 1 SGB 10, § 33 Abs 1
SGB 10, § 7 Abs 3 SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Unbestimmtheit von
Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden -
Bedarfsgemeinschaft
Leitsatz
Die gegenüber einem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft verfügte Aufhebung als globale
Gesamtaufhebung mit Bezug auf die sich insgesamt auf die Bedarfsgemeinschaft
beziehenden Aufhebungen stellt sich nicht mehr als lediglich betragsmäßige Verfehlung
sondern als ein Aliud dar. Eine geltungserhaltende Reduktion in Höhe des mit Bezug auf den
Aufhebungsadressaten zutreffenden Anteils ist daher nicht möglich (Anschluss
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. Mai 2009 - L 28 AS 1354/08 - [juris]).
Tenor
1. Der Teilaufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 14. Juni 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 5. Juni 2007 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte hat der Klägerin zwei Drittel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten
zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) sowie gegen die
diesbezügliche Erstattungsverpflichtung.
1. Der Klägerin und ihrem in Bedarfsgemeinschaft lebenden Ehemann wurden durch
Bescheid des Beklagten vom 15. November 2005 SGB II-Leistungen für den Zeitraum
Oktober 2005 bis März 2006 i. H. v. monatlich insgesamt 1.096,49 € bewilligt. Der
Beklagte hob mit an die Klägerin gerichteten Bescheid vom 14. Juni 2006 diesen
Bewilligungsbescheid mit Wirkung ab 1. Dezember 2005 wegen durch den Ehemann der
Klägerin nachträglich erzielten Einkommens auf und ordnete mit Bezug auf die
Leistungen für Dezember 2005 eine Erstattung i. H. v. 240,00 € an. Der Widerspruch der
Klägerin vom 19. Juni 2006 gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wurde
durch Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 2007 zurückgewiesen. Zugleich beschied der
Beklagte mit diesem Widerspruchsbescheid zwei weitere Widersprüche der Klägerin vom
3. Mai 2007 und vom 16. Mai 2007.
2. Mit der am 18. Juni 2007 bei dem Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage wendet
sich die Klägerin nunmehr noch gegen die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung.
Soweit die Klägerin sich mit ihrer Klage zunächst auch gegen die Zurückweisung ihrer
weiteren Widersprüche gewandt hat, hat sie am 12. April 2011 Teilklagerücknahme
erklärt. Die Klägerin beantragt,
den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 14. Juni 2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 5. Juni 2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und verweist auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide, an denen er festhält.
Das Gericht hat die Sach- und Rechtslagen mit den Beteiligten am 25. September 2007
sowie am 8. Dezember 2009 erörtert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten, die zum
Gegenstand des Verfahrens gemacht worden ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) -
soweit nach teilweiser Klagerücknahme noch anhängig (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG) -
statthaft und auch sonst zulässig. Sie ist insbesondere nicht nur in dem Umfang
zulässig, wie der Beklagte durch den Bescheid vom 14. Juni 2006 im Wege der Erstattung
vorgegangen ist. Zwar hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung zu
Protokoll erklärt, dass der Beklagte keine weiteren Erstattungsforderungen an die
Klägerin richten werde. Der formale Entzug durch die (vollständige) Aufhebung der
Rechtsposition, wie sie sich aus dem Bescheid vom 15. November 2005 ergeben hat, ist
jedoch für sich genommen eine Rechtsbeeinträchtigung der Klägerin, die in vollem
Umfang zur Überprüfung durch das Gericht gestellt werden kann.
2. Die Klage hat in vollem Umfang Erfolg, da sich die angefochtenen Bescheide als
rechtswidrig erweisen und die Klägerin in ihren Rechten verletzen. Dies ergibt sich bereits
daraus, dass der Beklagte unter Verstoß gegen den Grundsatz der Individualisierung den
Bewilligungsbescheid vom 15. November 2005 gegenüber der Klägerin in vollem Umfang
gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB X)
aufgehoben hat. Dies hat zunächst jedenfalls zur Folge, dass der Teil der Rückforderung,
der sich materiell gegen den Ehemann der Klägerin richtet, aufzuheben ist. Die Klägerin
war insoweit durch die Leistungsbewilligung nicht Inhaberin der Leistungsansprüche und
daher auch nicht zutreffender Aufhebungsadressat. Soweit die Klägerin mit Bezug auf
die ihr bewilligten Leistungen formal zutreffend Aufhebungsadressat ist, erweist sich die
Leistungsaufhebung jedoch auch insoweit als rechtswidrig, da eine geltungserhaltende
Reduktion der Aufhebungsentscheidung nach Überzeugung des Gerichts nicht möglich
ist.
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat insoweit ausgeführt (Urteil vom 7. Mai
2009 - L 28 AS 1354/08 - [juris]):
„Der vom Beklagten zu Recht auf §§ 48 Abs. 1 Satz 3, 50 SGB X gestützte
Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21. Juli 2005 ist jedoch rechtswidrig, da er
nicht hinreichend bestimmt ist. Gemäß § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt
inhaltlich hinreichend bestimmt sein, was insbesondere den Adressaten und den
Verfügungssatz betrifft. Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des aus Art. 20
Abs. 3 GG folgenden Rechtsstaatsprinzips, das der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
dient. Zur hinreichenden Bestimmtheit muss eine behördliche Entscheidung so
eindeutig formuliert sein, dass sich ohne Rückfrage ergibt, für wen was wie geregelt wird.
Gegenstand, Ziel und Regelungsgehalt der Entscheidung müssen demgemäß für den
Adressaten so eindeutig und vollständig sein, dass er sein Handeln danach ausrichten
und die rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung in vollem Umfange abschätzen
kann (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Oktober 2008 - L 25 B 1646/07 AS
PKH - zitiert nach juris Rn. 7). Ob hinreichend konkrete Verfügungen vorliegen, ist durch
Auslegung zu ermitteln. Maßstab für die Auslegung des Verwaltungsaktes ist die Sicht
eines verständigen Empfängers, der als Beteiligter die Zusammenhänge berücksichtigt,
welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen in ihre Entscheidung einbezogen hat,
wobei Unklarheiten zu Lasten der Behörde gehen (vgl. BSG, Urteil vom 14.08.1996 - 13
RJ 9/95 - zitiert nach juris Rn. 38 mwN).
...
Im Übrigen bestehen grundsätzliche Bedenken, eine pauschale
Gesamtaufhebung im Sinne einer geltungserhaltenden Reduktion in dem jeweils
rechnerisch und materiell zutreffenden Umfang hinsichtlich des oder der Adressaten
bestehen zu lassen. Damit hätten es die Behörden in der Hand, durch eine auf jeden Fall
zu hohe Aufhebung jedenfalls auch den richtigen Betrag als „Minus“ mitzuerfassen. Die
komplexe gesetzliche Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft mit den leistungs- und
einkommensmäßigen Zuordnungen der Einzelansprüche verbietet es nach
Überzeugung des Senats, aus einer möglicherweise zutreffenden Gesamtsumme auf
eine materiell richtige Einzelaufhebung gegenüber dem Adressaten zu schließen.
Globale Gesamtaufhebungen auch gegenüber einem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft
ohne konkrete Verfügungen im jeweiligen Leistungsverhältnis sind mangels
Bestimmtheit in Gänze und nicht nur in ihrem überschießenden - die anderen Mitglieder
betreffenden - Teil aufzuheben (a.A. LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. November
2008 - L 6 AS 16/07 - zitiert nach juris Rn. 27; wie hier LSG Baden-Württemberg, Urteil
vom 18. November 2007 - L7 SO 2899/06 - zitiert nach juris Rn. 19).“
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Das erkennende Gericht schließt sich nach eigener Prüfung dieser Rechtsauffassung an
und hält sie gegenüber der gegenteiligen Rechtsansicht anderer Landessozialgerichte
(siehe vorstehend) für vorzugswürdig. Der Aufhebungsverfügungssatz in dem Bescheid
vom 14. Juni 2006 leidet nicht nur darunter, dass sich die Höhe der
Aufhebungsentscheidung mit Blick auf die bzgl. der Klägerin vorzunehmende
Berechnung als unzutreffend erweist. Eine lediglich betragsmäßig überhöht verfügte
Aufhebung hätte in dem sich als rechtmäßig erweisenden Umfang Bestand. Der
Aufhebungsverfügungssatz nimmt die Klägerin jedoch als in dieser Form insgesamt
unzutreffende Adressatin bzw. Schuldnerin in Anspruch. Der Beklagte ist vorliegend im
Wege einer „globalen Gesamtaufhebung“ vorgegangen und somit in Verkennung der
individuellen Leistungs- und Aufhebungsverhältnisse. Er hat die Klägerin als Schuldnerin
der die Bedarfsgemeinschaft insgesamt betreffenden Aufhebungen angesehen und
dabei nicht hinreichend auf die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft abgestellt.
Die Grundstruktur der individuellen Leistungsansprüche innerhalb der
Bedarfsgemeinschaft und der aus dieser Grundstruktur folgenden
Aufhebungsverhältnisse wurde nicht beachtet. Die Klägerin wurde nicht als Adressatin
individueller Aufhebungsansprüche sondern als Adressatin der Gesamtheit aller
Aufhebungen bzgl. der Bedarfsgemeinschaft in Anspruch genommen. Die gegenüber
einem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft verfügte Aufhebung als globale
Gesamtaufhebung mit Bezug auf die sich insgesamt auf die Bedarfsgemeinschaft
beziehenden Aufhebungen stellt sich nicht mehr als lediglich betragsmäßige Verfehlung
sondern als ein Aliud dar. Dem steht nicht entgegen, dass in beiden Fällen der
Verfügungssatz (übereinstimmend) die Aufhebung von in Euro bezifferten Leistungen
anordnet. Denn in dem einen Fall liegt mit Bezug auf den rechtmäßigen
Aufhebungsadressaten eine der Höhe nach unzutreffende Berechnung und nachfolgend
eine überhöhte Aufhebung vor, in dem anderen Fall wird der Aufhebungsadressat -
mangels Leistungsanspruchs der Bedarfsgemeinschaft und dementsprechend auch
mangels rechtmäßiger Aufhebung gegenüber der Bedarfsgemeinschaft - in der geltend
gemachten Gesamtheit durch ihn noch nicht einmal anteilig betreffende
Aufhebungsentscheidungen in Anspruch genommen. Es lässt sich dem
Aufhebungsverfügungssatz vorliegend nicht entnehmen, dass der Beklagte die
Aufhebungen als individualisierte (Teil-) Aufhebungen gewollt und lediglich formal
fehlerhaft gegenüber der Klägerin - und nicht gegenüber der Klägerin einerseits und
ihrem Ehemann andererseits - verfügt hat. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten,
wenn der Beklagte gegenüber der Klägerin zwei bereits dem Verfügungssatz nach
individuelle Aufhebungsentscheidungen mit Bezug auf die Klägerin einerseits und mit
Bezug auf ihren Ehemann andererseits in einem Bescheid erlassen hätte. Dann wäre die
Klägerin mit Bezug auf die Aufhebung gegenüber ihrem Ehemann unrichtiger Adressat
und insoweit formal beschwert, doch könnte die ihr gegenüber verfügte individualisierte
Aufhebung unter formalen Gesichtspunkten Bestand haben.
Diese Sichtweise korrespondiert letztlich auch mit der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts, dass eine für mehrere Monate erfolgende Aufhebung nach
Monaten individualisiert sein muss und bereits aus formalen Gründen eine sich über
mehrere Monate erstreckende Gesamtaufhebung rechtswidrig ist (vgl. Urteile vom 2.
Juni 2004 - B 7 AL 58/03 R - [juris] und vom 15. August 2002 - B 7 AL 66/01 R - [juris]).
Da sich die Aufhebungsentscheidung als rechtswidrig erweist, stellt sich auch die darauf
gegründete Erstattungsforderung (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X) als rechtswidrig dar und
war aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt die
Teilklagerücknahme.
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