Urteil des SozG Münster vom 10.03.2006

SozG Münster: bemessung der beiträge, behinderung, wehr, begünstigung, eltern, entlastung, kompetenz, rente, beitragssatz, pauschal

Sozialgericht Münster, S 6 P 136/05
Datum:
10.03.2006
Gericht:
Sozialgericht Münster
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 6 P 136/05
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen Verfassungswidrigkeit des
Gesetzes zur Berücksichtigung von Kindererziehung im Beitragsrecht der sozialen
Pflegeversicherung (Kinder-Berücksichtigungsgesetz – KiBG) vom Beitragszuschlag für
Kinderlose zu befreien ist.
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Der im August 1955 geborene Kläger ist behindert. Ein Grad der Behinderung (GdB)
von 100 ist nach dem Schwerbehindertenrecht festgestellt. Die Merkzeichen "G" und "H"
sind zuerkannt.
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Aufgrund des Bezugs einer Rente der gesetzlichen Rentenversicherung ist der Kläger
bei der Beklagten krankenversichert und bei der Pflegekasse der Beklagten
pflegeversichert.
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Für die Zeit ab 01. Januar 2005 behielt der Rentenversicherungsträger von der Rente
des Klägers zusätzlich zu dem Pflegeversicherungsbeitrag mit dem Beitragssatz von 1,7
v. H. einen Beitragszuschlag für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung von 0,25
v. H. ein und führte ihn zu Gunsten der Pflegeversicherung ab.
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Mit seinem vom Rentenversicherungsträger an die Beklagte als Einzugsstelle
weitergeleiteten Schreiben vom 03. Juli 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf
seine Behinderung eine Ermäßigung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung.
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Durch Bescheid vom 23. August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 17. Oktober 2005 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Eine Ermäßigung des
Beitragssatzes für Kinderlose (insgesamt 1,95 v. H.) aufgrund einer bestehenden
Behinderung sähen die gesetzlichen Vorschriften nicht vor. Ob die dem
Beitragszuschlag zugrunde liegende Regelung des Kinder-Berücksichtigungsgesetzes
verfassungswidrig sei, könne dahinstehen, weil nur das Bundesverfassungsgericht
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(BVerfG) die Kompetenz habe, die Ungültigkeit der Vorschrift festzustellen.
Mit der am 14. November 2005 erhobenen Klage räumt der Kläger ein, daß der ihm
auferlegte Beitragszuschlag dem Gesetz entspreche. Es sei jedoch zu berücksichtigen,
daß er behinderungsbedingt von Geburt an zeugungsunfähig sei. Wenn er gleichwohl
einen Beitragszuschlag für Kinderlose zu zahlen habe, werde sein Grundrecht aus Art. 3
Abs. 3 S. 2 des Grundgesetzes (GG) verletzt, wonach niemand wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden dürfe. Auch verstoße der Umstand, daß Wehr- und
Zivildienstleistende sowie Bezieher von Arbeitslosengeld II von dem Beitragszuschlag
ausgenommen seien, gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. August 2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005 zu verurteilen, ihn für die Zeit ab
Antragstellung vom Beitragszuschlag für Kinderlose zu befreien; hilfsweise, das
Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des BVerfG zu
der Frage einzuholen, ob die Regelung des Beitragszuschlags für Kinderlose im KiBG
mit Art. 3 GG vereinbar sei.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist darauf, daß sie an die gesetzlichen Vorschriften gebunden sei. Personen
die aus medizinischen oder sonstigen Gründen nicht in der Lage gewesen seien, Kinder
zu zeugen, seien nach der gesetzlichen Regelung nicht von der
Beitragszuschlagspflicht ausgenommen.
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Zur Darstellung der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsakten der
Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
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Der Kläger ist durch die angefochtenen Verwaltungsakte nicht beschwert im Sinne des
§ 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil sie nicht rechtswidrig sind.
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Zu Recht hat die Beklagte festgestellt, daß der Kläger vom Beitragszuschlag für
Kinderlose nicht zu befreien ist.
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Mit Wirkung zum 01. Januar 2005 führte das Gesetz zur Berücksichtigung von
Kindererziehung im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung vom 15. Dezember
2004 (KiBG, BGBl. I 2004, 3448) einen Beitragszuschlag für Kinderlose ein. Nach der
nunmehr geltenden Fassung des § 55 Abs. 3 S. 1 des Sozialgesetzbuches – Elftes
Buch – (SGB XI) erhöht sich der Beitragssatz (nach Abs. 1 1,7 v. H.) für Mitglieder nach
Ablauf des Monats, in dem sie das 23. Lebensjahr vollendet haben, um einen
Beitragszuschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten (Beitragszuschlag für
Kinderlose). Nach Satz 2 dieser Vorschrift gilt dies nicht für Eltern im Sinne des § 56
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Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 des Ersten Buches. § 55 Abs. 3 S. 7 SGG XI
bestimmt, daß Satz 1 nicht gilt für Mitglieder, die vor dem 01. Januar 1940 geboren
wurden, für Wehr- und Zivildienstleistende sowie für Bezieher von Arbeitslosengeld II.
Unstreitig erfüllt der 1955 geborene kinderlose Kläger, der keinen Wehr- oder Zivildienst
leistet und auch kein Arbeitslosengeld II bezieht, die tatbestandlichen Voraussetzungen
für die Auferlegung eines Beitragszuschlags.
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Die Verfassungswidrigkeit der gesetzeskonform umgesetzten Regelung kann der Kläger
nicht mit Erfolg geltend machen. Eine Vorlage an das BVerfG konnte nicht in Betracht
kommen. Nach Art. 100 Abs. 1 GG hat ein Gericht, das ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit
es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält, das Verfahren
auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Diese Voraussetzungen
liegen nach der überzeugung der Kammer nicht vor.
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Mit der Regelung über den Beitragszuschlag für Kinderlose hat der Gesetzgeber auf das
Urteil des BVerfG vom 03. April 2001 (BVerfGE 103, 242) reagiert. Das BVerfG hat mit
diesem Urteil entschieden, daß es mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG
nicht zu vereinbaren sei, daß Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder
betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur
Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit
einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet
werden. Bis Ende Dezember 2004 habe der Gesetzgeber eine verfassungsgemäße
Neuregelung zu treffen, die leistungspflichtige Versicherte mit einem oder mehreren
Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung bei der
Bemessung der Beiträge relativ entlastet.
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Der durch das KiBG eingeführte Beitragszuschlag für Kinderlose entspricht den
Vorgaben des BVerfG. Nicht zu beanstanden ist, daß der Gesetzgeber den Auftrag des
BVerfG durch eine Erhöhung des Beitragssatzes für Mitglieder ohne Kinder statt durch
eine Beitragsermäßigung für Mitglieder mit Kindern erfüllt hat, weil bereits die relative
Entlastung die vom BVerfG für verfassungswidrig erachtete Gleichbehandlung von
Versicherten mit und ohne Kinder beseitigt.
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Ferner bestehen nach Auffassung der Kammer keine verfassungsrechtlichen Bedenken,
daß der Gesetzgeber eine recht grob typisierende Regelung getroffen hat. Das KiBG
stellt nicht darauf ab, ob Versicherte Kinder tatsächlich erziehen oder erzogen haben,
sondern lediglich auf die Elterneigenschaft. Auch ist eine Staffelung des Beitragssatzes
nach der Kinderzahl nicht vorgesehen, was insbesondere Eltern mit mehreren Kindern
weiterhin benachteiligt. Erinnert sei insoweit nur an den Beschwerdeführer des dem
Urteil des BVerfG vom 03. April 2001 zugrunde liegenden Verfahrens, der Vater von
zehn Kindern war.
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Die grob typisierende Neuregelung ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil der
Gesetzgeber, wie das BVerfG bereits in dieser Entscheidung ausdrücklich betont hat
(BVerfGE 103, 242/270), über einen großen Spielraum bei der Ausgestaltung eines dem
GG entsprechenden Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung verfügt. Die
gerade auch für das Gebiet des Sozialversicherungsrechts bestehende weitgehende
sozialpolitische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (zuletzt betont vom BVerfG im
Beschluss vom 18. Juli 2005, Az.: 2 BvF 2/01) beinhaltet nach Auffassung der Kammer
aber auch die Kompetenz des Gesetzgebers darüber zu entscheiden, in welchem Maße
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der vom BVerfG geforderte Familienlastenausgleich durch das Beitragsrecht zu
vollziehen ist oder in welchem Umfang der Ausgleich – weil die finanzielle Entlastung
Erziehender eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist – durch das Steuer- und
Kindergeldrecht (möglicherweise effektiver) zu leisten ist.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber,
wesentlich Gleiches gleich und wesentliche Ungleiches ungleich zu behandeln. Der
Gleichheitssatz ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder
Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt wird, obwohl
zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht
bestehen, daß sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (ständige
Rechtsprechung des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 55, 72). Nach der Rechtsprechung des
BVerfG (BVerfGE 78, 214) ist der Gesetzgeber durch das Gleichheitsgebot aber nicht
gehindert, sich gerade in Massenverfahren an Stelle eines ausschließlich individuellen
Wirklichkeitsmaßstabes aus Gründen der Verfahrensvereinfachung generalisierender,
pauschalierender und typisierender Regelungen zu bedienen.
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Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, daß der
Gesetzgeber durch § 55 Abs. 3 S. 7 SGB XI die vor 1940 geborenen Mitglieder von dem
Beitragszuschlag für Kinderlose ausgenommen hat, weil – so die Begründung des
Gesetzentwurfs (BT-Drucks. 15/3671 S. 6) – die bis 1940 geborenen Jahrgänge noch in
ausreichendem Maße Kinder geboren und erzogen haben.
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Auch ist nicht zu beanstanden, vielmehr sachlich geboten, daß Kinder und junge
Erwachsene von der Zuschlagspflicht ausgenommen sind. Die aus Gründen der
Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung (Gesetzesbegründung aaO) vom Gesetz
absolut bestimmte Altersgrenze von 23 Jahren knüpft an das regelmäßige Ende der
Familienversicherung an und erscheint sachgerecht.
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Der Kläger hat vorgetragen, er werde gegenüber Wehr- oder Zivildienstleistenden und
Beziehern von Arbeitslosengeld II, die – anders als er – von der Zuschlagspflicht
pauschal ausgenommen sind, ungerechtfertigt benachteiligt. Mit diesem Einwand kann
der Kläger keinen Erfolg haben. Zwar ist einzuräumen, daß erhebliche Bedenken
bestehen, ob für die Privilegierung dieser Personengruppen hinreichende sachliche
Gründe bestehen. So vermutet Peters (in: Kasseler Kommentar, § 55 SGB XI Rdnr. 12),
daß sich der Staat mit der Begünstigung dieser Gruppen lediglich von dem
Beitragszuschlag, den er selbst zu tragen hätte, auf Kosten der Mitglieder der
Pflegeversicherung entlasten wollte. Ob die Ausnahmen sachlich gerechtfertigt sind,
kann jedoch dahinstehen. Denn die Beanstandung der Vorenthaltung einer
gesetzlichen Begünstigung als gleichheitswidrig kann nach der Rechtsprechung des
BVerfG, (vgl. etwa BVerfGE 93, 386/395) die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage
nach Art. 100 GG nur dann begründen, wenn dem Kläger die Feststellung der
Verfassungswidrigkeit die Chance offenhält, eine für ihn günstigere Regelung durch den
Gesetzgeber zu erreichen. Dies trifft hier nicht zu. Selbst wenn die Begünstigung der
Vergleichsgruppen der Wehrdienstleistenden und der Bezieher von Arbeitslosengeld II
vom BVerfG als verfassungswidrig festgestellt werden würde, könnte nämlich eine
Heilung des Gleichheitsverstoßes durch den Gesetzgeber in Form einer Freistellung der
Grup-pe der Kinderlosen von der Zuschlagspflicht selbstverständlich nicht in Betracht
kommen. Kann sich aber das Interesse des Klägers insoweit nur auf die Beseitigung
einer Drittbegünstigung beschränken, scheidet eine Vorlage nach Art. 100 GG aus.
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Auch der vom Kläger vorgetragene Umstand, er sei behinderungsbedingt kinderlos,
kann eine andere Entscheidung nicht rechtfertigen. Auf die Gründe der Kinderlosigkeit
stellt das Gesetz nicht ab. In der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucks. 15/3671
S. 5) heißt es hierzu: "Die Gründe, warum jemand keine Kinder hat, spielen für die
Zuschlagspflicht keine Rolle. Eine Motivforschung, warum jemand keine Kinder hat,
kann und soll es nicht geben. Es geht auch nicht darum Kinderlose zu bestrafen."
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Zwar kann die Kammer durchaus nachvollziehen, daß der Kläger die aus seiner
behinderungsbedingten Kinderlosigkeit folgende Zuschlagspflicht als ungerecht
empfindet. Allerdings sind aufgrund typisierender Regelungen in Einzelfällen
auftretende Härten (vgl. hierzu BVerfGE 77, 308/338) verfassungsrechtlich grundsätzlich
nicht zu beanstanden.
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Eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, wonach niemand wegen
seiner Behinderung benachteiligt werden darf, liegt entgegen der Ansicht des Klägers
nicht vor. Die gesetzliche Regelung über den Beitragszuschlag knüpft nämlich nicht an
eine Behinderung an, sondern lediglich an die Kinderlosigkeit. Eine
behinderungsbezogene Ungleichbehandlung besteht nicht. Zwar könnte auch das
Anknüpfen an ein anderes Differenzierungskriterium das Benachteiligungsverbot des
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verletzen, wenn eine Regelung sich zwar nicht direkt auf die
Behinderteneigenschaft bezieht, es aber dadurch im Ergebnis im wesentlichen zu einer
Benachteiligung Behinderter kommt (vgl. hierzu Jarass, in: Kommentar zum GG, 7.
Auflage, 2004, Art. 3, Rdnr. 128). Aber auch eine indirekte Ungleichbehandlung stellt die
Regelung über den Beitragszuschlag für Kinderlose nicht dar. Denn die weit verbreitete,
auf vielfältige Gründe beruhende Kinderlosigkeit in unserer Gesellschaft ist nur in
geringem Umfang behinderungs- oder krankheitsbedingt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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