Urteil des SozG Münster vom 10.12.2010

SozG Münster (veröffentlichung, ergebnis, anordnung, bewertung, wesentlicher nachteil, evaluation, beurteilung, anhalt, aufgabe, sachsen)

Sozialgericht Münster, S 6 P 138/10 ER
Datum:
10.12.2010
Gericht:
Sozialgericht Münster
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 6 P 138/10 ER
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegner werden im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens (Az.:
S 6 P 176/10 SG Münster) die Veröffentlichung des Transparenzberichts
über den von der Antragstellerin betriebenen ambulanten Pflegedienst
aufgrund der MDK- Prüfung am 17. März 2010 über die Internetportale
der Antragsgegner - oder in sonstiger Weise - zu unterlassen. Die
Antragsgegner tragen die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird auf
5.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
1
I.
2
Streitig ist, ob die Antragstellerin im Wege einer einstweiligen Anordnung die
Unterlassung der Veröffentlichung eines Transparenzberichts über ihren ambulanten
Pflegedienst verlangen kann.
3
Der gemäß § 72 des Sozialgesetzbuches - Elftes Buch - (SGB XI) durch
Versorgungsvertrag zugelassene, einer Klinik angeschlossene Krankenpflegedienst der
Antragstellerin wurde am 17. März 2010 gemäß §§ 114 ff SGB XI im Auftrag der
Antragsgegner vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe
(MDK) geprüft. Zu diesem Zeitpunkt versorgte der Pflegedienst insgesamt 79 Kunden,
davon 40 Pflegebedürftige mit Sachleistungsbezug. Fünf Kunden wurden vom MDK in
die Prüfung einbezogen.
4
Der auf der Grundlage des Prüfberichts erstellte, der Antragstellerin per Internet mit
einem Erkennungscode zugeleitete, aber noch nicht veröffentlichte Transparenzbericht
weist als Gesamtergebnis die Note "ausreichend" (3,8) aus. Der Qualitätsbereich
"Pflegerische Leistungen" erhielt die Note "mangelhaft" (4,6). Der Bereich "Ärztlich
verordnete pflegerische Leistungen" wurde ebenfalls mit "mangelhaft" (5,0) bewertet. Im
Qualitätsbereich "Dienstleistung und Organisation" wurde der Pflegedienst mit
"befriedigend" (2,6) beurteilt. Als Ergebnis der Befragung der Kunden, das nicht in das
Gesamtergebnis einfließt, wurde die Note "gut" (2,2) angegeben.
5
Mit Schreiben vom 23. April 2010 wandte sich die Antragstellerin gegen eine Reihe von
Bewertungen in dem Prüfbericht. Gestützt auf eine Stellungnahme des MDK vom 07.
Juni 2010 gaben die Antragsgegner durch Bescheid vom 16. Juni 2010 der
Antragstellerin auf, die vom MDK vorgeschlagenen Maßnahmen zur Beseitigung von
Qualitätsdefiziten zu treffen.
6
Gegen diesen nach Angaben der Antragstellerin ihr erst am 16. September 2010
zugegangenen Bescheid richtet sich die am 11. Oktober 2010 erhobene Klage (Az.: S 6
P 196/10) und der zugleich gestellte Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz (Az.: S 6 P
195/10 ER), mit dem die Antragstellerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
ihrer Anfechtungsklage begehrt.
7
Bereits am 12. Juli 2010 stellte die Antragstellerin den hier streitigen Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung, mit der den Antragsgegnern die vorläufige Unterlassung
der Veröffentlichung des Transparenzberichts aufgegeben werden soll. Am 23.
September 2010 erhob die Antragstellerin eine entsprechende Unterlassungsklage (Az.:
S 6 P 176/10).
8
Die Antragstellerin vertritt die Auffassung, ihr stehe ein öffentlich-rechtlicher
Unterlassungsanspruch gegen die Antragsgegner zu. Die geplante Veröffentlichung des
Transparenzberichts stelle einen schweren Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit dar.
Der Transparenzbericht entspreche nicht den gesetzlichen Anforderungen für die
Veröffentlichung, nach denen die Pflegeeinrichtungen insbesondere hinsichtlich der
Ergebnis- und Lebensqualität überprüft werden sollen. Die angewandten Prüfkriterien
stellten hingegen überwiegend lediglich Dokumentationsdefizite fest. Aufgrund der
drohenden irreversiblen Verletzung ihres Grundrechts der Berufsfreiheit bestehe auch
ein Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Bei einer
Veröffentlichung des Transparenzberichts bereits vor einer Entscheidung in der
Hauptsache wäre der zu befürchtende, mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen
verbundene Reputationsschaden bereits unumkehrbar eingetreten. Es sei auch zu
berücksichtigen, dass der Wettbewerb unter Anbietern von ambulanten Pflegediensten
im Vergleich zu stationären Einrichtungen größer sei. Denn die Entscheidung für einen
anderen als den bisher benutzten ambulanten Pflegedienst falle deutlich leichter als der
Umzug von einer stationären Pflegeeinrichtung in eine andere.
9
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens die
Veröffentlichung des Transparenzberichts über den von ihr betriebenen ambulanten
Pflegedienst aufgrund der MDK-Prüfung am 17. März 2010 über die Internetportale der
Antragsgegner - oder in sonstiger Weise - zu unterlassen.
10
Die Antragsgegner beantragen, den Antrag zurückzuweisen.
11
Sie vertreten die Auffassung, der Antragstellerin stehe weder ein Anordnungsanspruch
noch ein Anordnungsgrund zu. Sie stützen sich auf die Beschlüsse des Sächsischen
Landessozialgerichts vom 24. Februar 2010 (Az.: L 1 P 1/10 B ER), des
Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 2010 (Az.: L 10 P
10/10 B ER) und des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 05. Oktober 2010 (Az.:
L 4 P 12/10 B ER).
12
Durch die Zwischenentscheidung vom 13. Juli 2010 hat die Kammer die Antragsgegner
vorläufig bis zu einer Eilentscheidung des Gerichts verpflichtet, von einer
Veröffentlichung des Transparenzberichts abzusehen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen
den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, auf die Verwaltungsakten der Antragsgegner
sowie auf die Streitakten der Verfahren S 6 P 176/10, S 6 P 195/10 ER und S 6 P
196/10 verwiesen.
14
II.
15
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
16
Ziel des Begehrens der Antragstellerin ist die Verhinderung der Veröffentlichung eines
Transparenzberichts. Deshalb ist die Sicherungsanordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1
des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) der statthafte Rechtsbehelf. Nach dieser Vorschrift
kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf
den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung
des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt
oder wesentlich erschwert werden könnte.
17
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines
Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes voraus. Dabei genügt es nach
der gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 920
der Zivilprozessordnung (ZPO), dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
glaubhaft gemacht, d. h. überwiegend wahrscheinlich gemacht sind. Ein
Anordnungsanspruch liegt bei der hier begehrten Sicherungsanordnung vor, wenn der
Antragsteller das Bestehen einer zu sichernden Rechtsposition glaubhaft macht. Ein
Anordnungsgrund ist gegeben, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass die
unmittelbar bevorstehende Gefahr einer Rechtsvereitelung oder Erschwerung der
Rechtsverwirklichung durch eine Veränderung des bestehenden Zustands droht.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht beziehungslos
nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein
bewegliches System. So vermindern sich etwa die Anforderungen an den
Anordnungsgrund, wenn der Anordnungsanspruch offensichtlich begründet ist (vgl.
Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008, § 86 b Rdnr. 25 a, 27a,
29).
18
Ein Anordnungsanspruch ist nach Auffassung der Kammer gegeben. Der Antragstellerin
steht ein aus der Abwehrfunktion der Grundrechte abzuleitender öffentlich-rechtlicher
Unterlassungsanspruch zu. Eine Veröffentlichung des Transparenzberichts würde das
Grundrecht der Antragstellerin auf Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 des Grundgesetzes -
GG - ) verletzen.
19
Nach der gesetzlichen Regelung (§ 115 Abs. 1 a, Satz 1 SGB XI) stellen die
Landesverbände der Pflegekassen sicher, dass die von Pflegeeinrichtungen erbrachten
Leistungen und deren Qualität, insbesondere hinsichtlich der Ergebnis- und
Lebensqualität, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen verständlich,
übersichtlich und vergleichbar sowohl im Internet als auch in anderer geeigneter Form
kostenfrei veröffentlicht werden. Hierbei sind die Ergebnisse der Qualtitätsprüfungen
des MDK zugrunde zu legen ( § 115 Abs. 1 a Satz 2 SGB XI). Für ambulante
20
Pflegedienste wird § 115 Satz 1 a SGB XI konkretisiert durch die auf der Grundlage des
§ 115 Abs. 1 a Satz 6 SGB XI vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen, der
Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene, der
Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der
Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände erlassene Pflege-
Transparenzvereinbarung ambulant (PTVA) vom 29. Januar 2009. Diese beinhaltet die
Kriterien der Veröffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualitätsprüfungen.
Die Qualitätsprüfung bildet die Grundlage der Transparenzberichte.
Ob der Unterlassungsanspruch der Antragstellerin bereits deshalb begründet ist, weil
die in § 115 Abs. 1 a Satz 6 SGB XI vorgesehene Übertragung von
Rechtsetzungsbefugnissen auf die demokratisch nicht hinreichend legitimierten
Vertragsparteien angesichts des Parlamentsvorbehalt und der Schranken des Art. 80
GG verfassungswidrig ist, mag hier dahinstehen. Denn der Unterlassungsanspruch ist
schon aus anderen Gründen gegeben.
21
Die auf der Grundlage der PTVA erstellten Transparenzberichte über ambulante
Pflegedienste entsprechenden nämlich ebenso wie die Transparenzberichte nach der
Pflege-Transparenzvereinbarung stationär (PTVS) - vgl. insoweit das Urteil der Kammer
vom 20. August 2010, Az.: S 6 P 111/10 - nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die
PTVA sieht für ambulante Pflegedienste die Veröffentlichung von Noten für 49
aufgelistete Bewertungskriterien vor, die vier Qualitätsbereichen zugeordnet werden, die
jeweils - für ihren Bereich- eine Gesamtnote erhalten. Das Gesamtergebnis errechnet
sich - ohne das Ergebnis der Befragung der Kunden - aus 37 Beurteilungskriterien. Die
Bewertungssystematik sieht vor, dass jedes Kriterium eine Einzelbewertung anhand
einer Skala von 0 bis 10 erhält, wobei 0 die schlechteste und 10 die beste Bewertung
ist. Die Skalenwerte werden sodann nach einer im Anhang der Anlage 2 der PTVA
dargestellten Tabelle in Noten "mit einer Stelle nach dem Komma" umgerechnet. Die
nicht arithmetische Zuordnung dieser Tabelle sieht etwa für die Skalenwerte von 8,7 -
10 die Note "sehr gut" und für die Skalenwerte von 0 - 4,49 die Note "mangelhaft" vor.
Für neun einrichtungsbezogene - den gesamten ambulanten Pflegedienst betreffende -
Kriterien ist bestimmt, dass sie nur eine dichotome (erfüllt / nicht erfüllt) Bewertung
erhalten. In diesen Fällen können nur die Skalenwerte 10 oder 0 vergeben werden. Aber
auch bei den kundenbezogenen Kriterien erfolgt die Bewertung über dichotome
Bewertungen des einzelnen in die Prüfung einbezogenen Kunden. Dies bedeutet, dass
bespielsweise dann, wenn ein bestimmtes Kriterium bei acht von zehn einbezogenen
Kunden erfüllt ist, der Skalenwert 8 vergeben wird. In einer Anlage zu den PTVA ist die
"Ausfüllanleitung für die Prüfer" niedergelegt. Sie beschreibt, wann ein Kriterium durch
den Prüfer als erfüllt oder nicht erfüllt zu bewerten ist. In einer weiteren Anlage wird das
Verfahren der Veröffentlichung und die Darstellung der Prüfergebnisse im Internet
geregelt. Hier ist z.B. bestimmt, dass der ambulante Pflegedienst dem
Transparenzbericht einen Kommentar mit einem maximalen Umfang von "3.000
Zeichen inklusive Leerzeichen" beifügen kann und dass der Vergleichwert im jeweiligen
Bundesland nur einzutragen ist, wenn mindestens 20 % aller ambulanten Pflegedienste
im Bundesland durch den MDK geprüft sind.
22
Die nach diesem - hier nur zusammenfassend skizzierten - Regelungswerk erstellten
Transparenzberichte können nach Auffassung der Kammer nicht rechtmäßig sein.
23
Angesichts der Grundrechtsbetroffenheit bei marktsteuernden Veröffentlichungen und
angesichts der dabei bestehenden öffentlichen Interessen an einer zuverlässigen
24
Information dürfen bei der rechtlichen Prüfung der veröffentlichten Bewertungen keine
großzügigen Maßstäbe angelegt werden. Die Antragsgegner können sich nämlich bei
ihrer hoheitlichen, quasi staatlichen Beurteilung nicht auf das Grundrecht der
Meinungsfreiheit berufen. An hoheitliche Informationsakte sind grundsätzlich die
gleichen Anforderungen an das Maß der Sachverhaltsaufklärung und die Richtigkeit zu
stellen, wie bei regulativen staatlichen Eingriffen. Insoweit verweist die Kammer - wie
schon in ihrem Beschluss vom 26. Mai 2010 (Az.: S 6 P 35/10 ER) und in ihrem Urteil
vom 20. August 2010 (Az.: S 6 P 111/10) - auf Aufsätze des Richters am
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Di Fabio (Grundrechte im präzeptoralen Staat am
Beispiel hoheitlicher Informationstätigkeit, JZ 1993, 689 ff, und Information als
hoheitliches Gestaltungsmittel, JuS 1997, 1 ff), der überzeugend vor dem "unbesorgten
grundrechtlichen Umgang mit staatlicher Informationstätigkeit" warnt. Auch dem
sogenannten Glykol-Beschluss des BVerfG vom 26. Juni 2002 (Az.: 1 BvR 558/91) ist zu
entnehmen, dass die Anlegung eines strengen Maßstabs an die inhaltliche Richtigkeit
der zur Veröffentlichung anstehenden Bewertungen geboten ist. In dieser Entscheidung
hat das BVerfG zum Problem der Verbreitung marktbezogener Informationen des
Staates - um das es auch vorliegend geht - dargelegt, dass die Veröffentlichung solcher
Informationen den grundrechtlichen Gewährleistungsanspruch von betroffenen
Wettbewerbern aus Art. 12 GG nur dann nicht beeinträchtigt, wenn bei Vorliegen einer
staatlichen Aufgabe insbesondere die Anforderungen an die Richtigkeit und
Sachlichkeit der Informationen beachtet würden. Blieben - so das BVerfG - selbst nach
sorgsamer Aufklärung des Sachverhalts im Rahmen des Möglichen Unsicherheiten in
tatsächlicher Hinsicht, könnte eine Verbreitung der - unsicheren - Information nur
zulässig sein, wenn sie im öffentlichen Interesse läge und außerdem die
Marktteilnehmer auf die verbliebenen Unsicherheiten hingewiesen würden (BVerfG,
aaO, Juris, Rdnr. 60 ). Ferner hat das BVerfG klargestellt, dass Informationen wie jedes
Staatshandeln dem Sachlichkeitsgebot unterliegen. Wertungen dürften nicht auf
sachfremden Erwägungen beruhen. Die Information dürfe auch bei zutreffendem Inhalt
in der Form weder unsachlich noch herabsetzend formuliert sein. Im Übrigen sei die
Verbreitung von Informationen unter Berücksichtigung möglicher nachteiliger Wirkungen
für die betroffene Wettbewerber auf das zur Infomationsgewährung Erforderliche zu
beschränken (BVerfG, aaO, Juris, Rdnr. 61). Des weiteren hebt das BVerfG (aaO, Juris,
Rdnr. 62) hervor: "Insbesondere kann die staatliche Informationstätigkeit eine
Beeinträchtigung im Gewährleistungsbereich des Grundrechts sein, wenn sie in der
Zielsetzung und ihren Wirkungen Ersatz für eine staatliche Maßnahme ist, die als
Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre. Durch die Wahl eines solchen funktionalen
Äquivalents eines Eingriffs können die besonderen Bindungen der Rechtsordnung nicht
umgangen werden; vielmehr müssen die für die Grundrechtseingriffe maßgebenden
rechtlichen Anforderungen erfüllt sein".
Diesen Maßstäben können die auf der Grundlage der PTVA erstellten
Transparenzberichte nicht genügen. Die Beurteilungskriterien der PTVA sind nämlich
nicht geeignet, die von den ambulanten Pflegediensten erbrachten Leistungen und
deren Qualität, insbesondere - wie das Gesetz es ausdrücklich verlangt - hinsichtlich der
Ergebnis- und Lebensqualität zu beurteilen. Die Systematik der Bewertung ist verfehlt,
die Ermittlung der Pflegenoten für den Leser nicht nachvollziehbar. Die
Transparenzberichte führen die Verbraucher in die Irre.
25
Statt zuverlässige Aussagen über die vom Gesetzgeber in den Vordergrund gerückte
Ergebnis- und Lebensqualität zu machen, betreffen die Bewertungskritierien der PTVA
ganz überwiegend nur die Prozessqualität. Die Pflegenoten beurteilen nicht das
26
erreichte Ergebnis der pflegerischen Bemühungen, sondern bewerten im wesentlichen
nur die Qualität der Dokumentation.
So gibt z. B. das Kriterium Nr. 1 - "Werden die individuellen Wünsche der Körperpflege
im Rahmen der vereinbarten Leistungserbringung berücksichtigt ?" - dann nach der
Ausfüllanleitung für die Prüfer als erfüllt , wenn in der Pflegedokumentation die auf die
Maßnahmen der Körperpflege bezogenen Wünsche nachvollziehbar dokumentiert und
bei der Umsetzung berücksichtigt sind. In welchem Maße den individuellen Wünschen
der Kunden tatsächlich nachgekommen wird, ist nicht Prüfgegenstand.
27
Bei den übrigen Kriterien verhält es sich nicht anders. Bei dieser Feststellung kann sich
die Kammer auf die im Auftrag der Vereinbarungspartner erstellte "Wissenschaftliche
Evaluation" zur Beurteilung der Pflege-Transparenzvereinbarungen für den ambulanten
(PTVA) und stationären (PTVS) Bereich" der Professorinnen Hasseler und Wolf-
Ostermann vom 21. Juli 2010 stützen. In dieser Studie wird aufgezeigt, dass - nicht viel
anders als für den stationären Bereich, bei dem immerhin zwei Kriterien als Kriterien der
Ergebnisqualität identifiziert werden konnten - für den ambulanten Bereich in keinem (!)
der Qualitätsbereiche Kriterien der Ergebnisqualität oder der Lebensqualität gefunden
werden konnten. Dieses Ergebnis kann nicht überraschen. Denn schon im Vorwort der
PTVA heißt es, dass die Vertragsparteien die Vereinbarung in dem Wissen geschlossen
hätten, dass es derzeit keine pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über
valide Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualität der pflegerischen Versorgung in
Deutschland gäbe. Deshalb sei die Vereinbarung als vorläufig zu betrachten. Es
bestehe Einvernehmen, diese Vereinbarung anzupassen, sobald
"pflegewissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Indikatoren der Ergebnis- und
Lebensqualität" vorlägen.
28
Solange aber die Transparenzberichte der PTVA die vom Gesetz als Maßstab
vorgegebene Ergebnis- und Lebensqualität gar nicht messen können, dürfen sie nicht
veröffentlicht werden. Noten, die im Wesentlichen nur die Qualität der Dokumentation
widerspiegeln, entsprechen nicht nur nicht dem Gesetz, sondern führen den
Verbraucher auch in die Irre. Zwar kommt der Dokumentation und anderen Aspekten der
Prozessqualität in der Pflege fraglos eine große Bedeutung zu. Zu Recht sind sie auch
Gegenstand regelmäßiger Qualitätsprüfungen. Nicht zu rechtfertigen ist aber eine
Abqualifizierung durch Pflegenoten - ob bei einzelnen Kritierien oder bei den
Qualitätsbereichen - wenn der Leser nicht erkennen kann, dass Grundlage der
Berwertung nicht die erbrachte tatsächliche Pflegeleistung, sondern lediglich -
möglicherweise überzogene - Beanstandungen bei der Dokumentation sind.
29
Die Transparenzberichte sind aber nicht nur deshalb rechtswidrig, weil die
Beurteilungskriterien nicht dem Gesetz entsprechen. Der Unterlassungsanspruch der
Antragstellerin ist auch dadurch begründet, weil die Bewertungssystematik der PTVA
misslungen ist.
30
In der "Wissenschaftlichen Evaluation" vom 21. Juli 2010 kommen die Autorinnen zu
dem Ergebnis, dass die Bewertungssystematik und die darauf aufbauende
Notenbildung theoretisch-methodisch als "äußerst problematisch" zu bewerten sei (S.
202). Die dichotome Beurteilung der Einzelkriterien und die für die Zuordnung einer
Note gebildeten unterschiedlich breiten Intervallbereiche führten zu einem unzulässigen
Mittelwert. Wörtlich heißt es in der Studie: "Aufgrund der beschriebenen Schwächen bei
der Berechnung von Bereichs- und Gesamtnoten ist eine genaue inhaltliche
31
Interpretation dieser Noten auf der Basis der gewählten Methodik nicht mehr
nachvollziehbar" (S. 204).
Anschaulich und plausibel wird die Methodenkritik, wenn man die Bewertungen der
einrichtungsbezogenen Kriterien (Nr. 29 - 37) betrachtet. Die vergebenen Noten können
nur "sehr gut" (1,0) oder "mangelhaft" (5,0) sein. Eine differenzierende Bewertung mit
anderen Noten ist ausgeschlossen. Eine dichotome Bewertung ("Daumen hoch oder
runter") könnte zwar grundsätzlich zulässig sein. Wenn man sich jedoch für eine
Bewertungssystematik nach Noten entschieden hat, die - wie es in der dem
Transparenzbericht angefügten "Erläuterung zum Bewertungssystem" heißt - "jeder aus
seiner eigenen Erfahrung" kennt, kann eine undifferenzierte Wertung nur mit der besten
Note "sehr gut" oder der schlechtesten Note "mangelhaft" nicht mehr zulässig sein.
32
Benotet ein Lehrer mangels Kriterien für die Beurteilung der gedanklichen Qualität von
Aufsätzen die Arbeiten allein nach dem Schriftbild und der Orthographie und vergibt
darüber hinaus nur die Noten "sehr gut" oder "mangelhaft", wird er bei seinen Schülern
auf helle Empörung stoßen. Aber auch Pflegeeinrichtungen müssen dergleichen -
jedenfalls nach Auffassung der Kammer - nicht hinnehmen.
33
In der am 21. Juli 2010 veröffentlichten "Wissenschaftlichen Evaluation" haben Hasseler
und Wolf-Ostermann eingehend aufgezeigt, dass die klassischen Gütekriterien für jedes
Bewertungsverfahren (Objektivität, Reliabilität, Validität) nicht erfüllt seien. Ihr Fazit
lautet: "Aussagen, ob das Verfahren tatsächlich Pflegequalität misst, sind nicht möglich"
(S. 212, 270).
34
Trotz dieses Ergebnisses der Evalutation haben das LSG Sachsen-Anhalt, das
Hessische LSG und das LSG NRW in ihren jüngsten Beschlüssen die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes für Träger von stationären Pflegeeinrichtungen gegen die
Veröffentlichung von Transparenzberichten abgelehnt. Die Begründungen dieser
Entscheidungen geben der Kammer keinen Anlass, von ihrer bisherigen
Rechtsprechung abzuweichen.
35
Der ausführlich begründete Beschluss des LSG Sachsen-Anhalt vom 05. Oktober 2010
(Az.: L 4 P 12/10 B ER) kann schon deshalb nicht überzeugen, weil er mit keinem Wort
die im Juli 2010 veröffentlichte "Wissenschaftliche Evaluation" erwähnt. Offenbar hatte
der Senat von dieser Studie keine Kenntnis. Gleiches gilt wohl auch für das Urteil des
SG Münster vom 20. August 2010, mit dessen Argumentation der Senat sich nicht
befasst hat. Das LSG Sachsen-Anhalt vertritt im Kern die Auffassung, aufgrund der
Fachkunde und der ausgewogenen Zusammensetzung der Vereinbarungsparteien
entzöge sich die PTVS "mit ihrer normsetzenden Wirkung jeglicher inhaltlichen
Überprüfung durch die Gerichte, soweit sie sich im Rahmen der gesetzlichen
Ermächtigungsgrundlage hält" (aaO, Juris, Rdnr. 38). Deshalb könne insbesondere die
zugrunde gelegte Bewertungssystematik nicht auf ihren "Gerechtigkeitsgehalt" überprüft
werden. Dass das Bewertungssystem "völlig ungeeignet" sei, sei nicht ersichtlich.
36
Ähnlich ist die Argumentation des Hessischen LSG im Beschluss vom 28. Oktober 2010
(Az.: L 8 P 29/10 B ER). Das LSG vertritt die Auffassung, der Gesetzgeber habe sich
nachvollziehbar von der Überlegung leiten lassen, dass die "Einzelheiten der Kriterien
der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik im Hinblick auf den
Sachverstand der Vereinbarungsparteien und der umfassenden Beteiligung der
maßgeblichen Organisationen der verschiedenen Interessen in einem
37
Abstimmungsprozess, der in einer vertraglichen Vereinbarung ende, am ehesten
sachgerecht festgelegt werden könnten" (aaO, Juris, Rdnr. 26). Das LSG berücksichtigt,
dass angesichts des vom Gesetzgeber geschaffenen Zeitdrucks für die Festlegung der
Kriterien der Veröffentlichung es auf der Hand lag, dass die Erstellung von
wissenschaftlich fundierten Instrumenten und Qualitätsindikatoren, die valide und
reliabel seien, "nicht zu leisten" gewesen sei (aaO, Juris, Rdnr. 25). Es bestehe keine
Veranlassung, die in den PTVS "niedergelegten Bewertungskriterien und die
Einzelheiten der Bewertungssystematik auf ihre Sachgerechtigkeit zu überprüfen". Dies
gelte auch für die im Evaluationsgutachten und im Urteil des SG Münster vom 20.
August 2010 dargestellte Problematik der Mittelbewertung aus dichotomen
Merkmalswerten. Insoweit sei in Rechnung zu stellen, dass die Berechnungssystematik
von den Vertragsparteien im "ernsthaften Bemühen" entwickelt worden seien, den
gesetzlichen Vorgaben Rechnung zu tragen (aaO, Juris, Rdnr. 27). Es sei weiter - so
das LSG - "in Rechnung zu stellen", dass der die Evaluation begleitende Beirat
empfohlen habe, die Kriterien entsprechend den in dem Evaluationsgutachten
aufgezeigten Alternativen "kurzfristig zu überarbeiten". Diese "Rechnung" kann nicht
aufgehen. Dies schon deshalb, weil vor wenigen Wochen die Bemühungen zur
einvernehmlichen "Weiterentwicklung" der Pflegenoten durch das Ausscheiden des
Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe e.V. (VDAB) und des Arbeitgeber-
und Berufsverbands Privater Pflege e.V. (ABVP) aus den Verhandlungen gescheitert
sind.
Die Landessozialgerichte vertrauen auf den Sachverstand der Vereinbarungspartner,
üben Nachsicht wegen des aus Zeitdruck mangelhaften Regelwerks, honorieren das
ernsthafte Bemühen, gewähren gleichsam Kredit im Hinblick auf künftige
Verbesserungen und lehnen eine inhaltliche Überprüfung der Sachgerechtigkeit der
Bewertungssystematik ab. Damit werden - nach Auffassung der Kammer - diese
Gerichte ihrer Aufgabe, effektiven Rechtsschutz zu gewähren nicht gerecht.
38
"Mitnichten", so dass Hessische LSG, aaO, Juris, Rdnr. 21, treffe die vom Sozialgericht
Münster aus dem Ergebnis der Evaluation gezogene Schlussfolgerung zu, das
gegenwärtige Bewertungssystem sei in der Pflegewissenschaft auf - soweit ersichtlich -
einhellige Ablehnung gestoßen. Zwar sei das Ergebnis "eher ernüchternd". Auch habe
die Evaluation im Ergebnis festgestellt, dass zurzeit kein Nachweis der Validität des
Verfahrens gegeben sei, und dass Aussagen, ob das Verfahren tatsächlich
Pflegequalität messe, nicht möglich seien. Aber in dem Evalutationsgutachten (S. 270)
heiße es auch: "Der bisher fehlende Nachweis von Güteeigenschaften des Verfahrens
bedeutet dabei nicht, dass diese prinzipiell nicht gegeben sind, sondern weist darauf
hin, dass dieser Nachweis bisher fehlt". Allein aus dieser Einschränkung, die die
Autorinnen offenkundig im Hinblick auf das von ihnen zuvor angesprochene Projekt
"Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in
der stationären Altenhilfe" für noch in der Zukunft zu entwickelnde Methoden der
Qualitätsprüfung machen, folgert das Hessische LSG, dass die Untauglichkeit des
gegenwärtig vorliegenden Verfahrens nicht festgestellt werden könne.
39
In seinem Beschluss vom 15. November 2010 (Az.: L 10 P 76/10 B ER) übernimmt das
LSG NRW diese Argumentation (aaO, Juris, Rdnr: 25). Es stützt sich ferner auch auf die
Antwort der Bundesregierung vom 25. Oktober 2010 auf eine Kleine Anfrage mehrerer
Abgeordneter und der Franktion DIE LINKE (BT-Drucks. 17/3372), nach der die
Weiterentwicklung der Transparenzvereinbarungen anhand praktischer Erfahrungen
und deren Auswertung durch die Pflegekassen und Leistungserbringer erfolgen solle. In
40
dieser Stellungnahme räumt jedoch die Bundesregierung durchaus zutreffend ein, dass
die Transparenzvereinbarung der Pflegeselbstverwaltung nur ein "erster Schritt" auf
dem Weg zum " Ziel des Gesetzgebers" sei. Dass das gesetzgeberische Ziel mit den
aktuell geltenden PTVA und PTVS noch nicht erreicht ist, ist auch die Auffassung der
Kammer.
Nach der Ansicht des LSG NRW, aaO, Juris, Rdnr. 26, sind die
Entscheidungsbefugnisse der Landesverbände der Pflegekassen nur dann unzulässig
überschritten, "wenn die Bewertung den Boden der Neutralität, der Objektivität und der
Sachkunde verlassen hätte, insbesondere bei offensichtlich oder sogar bewussten
Fehlurteilen, bewussten Verzerrungen, der Behauptung unwahrer Tatsachen,
willkürlichem Vorgehen oder Schmähkritik (vgl. BVerfG Beschluss vom 26. Juni 2002, 1
BvR 558/91 ; vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 14. Juni 2010 und 05.
Oktober 2010, aaO)".
41
Bei diesem für maßgebend erachteten Prüfungsmaßstab beruft sich das LSG NRW zu
Unrecht auf die Entscheidung des BVerfG vom 26. Juni 2002. In dieser Entscheidung
hat das BVerfG (aaO, Juris, Rdnr. 49) ausgeführt, dass marktbezogene Informationen
des Staates den grundrechtlichen Gewährleistungenbereich der betroffenen
Wettbewerber nicht beeinträchtigen, sofern der Einfluss auf wettbewerbserhebliche
Faktoren ohne Verzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe der rechtlichen
Vorgaben für staatliches Informationshandeln erfolgt. Verfassungsrechtlich von
Bedeutung seien das Vorliegen einer staatlichen Aufgabe und die Einhaltung der
Zuständigkeitsordnung sowie die Beachtung der Anforderungen an die Richtigkeit und
Sachlichkeit der Informationen. Von "bewussten Fehlurteilen", "bewussten
Verzerrungen", "willkürlichem Vorgehen" oder von "Schmähkritik" ist in der
Entscheidung des BVerfG nirgendwo die Rede.
42
Das LSG NRW hat diesen besonders großzügigen Prüfungsmaßstab bereits in seinem
Beschluss vom 10. Mai 2010 (Az.: L 10 P 10/10 B ER) unter Hinweis auf die Beschlüsse
des SG Würzburg vom 20. Januar 2010 (Az.: S 14 P 7/10 ER) und des SG Bayreuth vom
11. Januar 2010 (Az.: S 1 P 147/09 ER) angewandt, ohne eine rechtliche Begründung
für diesen Maßstab zu geben (aaO, Juris, Rdnr. 42). Die Sozialgerichte Würzburg und
Bayreuth hatten unser Hinweis auf die zivilrechtliche Rechtsprechung, die zur
Beurteilung von Leistungs- und Warentests entwickelt worden ist, diesen Maßstab auf
die hier zu prüfende Frage der Rechtmäßigkeit von Transparenzberichten übertragen.
Dies ist allerdings rechtsdogmatisch verfehlt.
43
Wenn - wie jüngst - der ADAC Parkhäuser testet oder die Stiftung Warentest - eine
Stiftung des privaten Rechts - Lebkuchen benotet, unterliegen diese Testberichte
nämlich gänzlich anderen rechtlichen Bindungen als hoheitliche, quasi staatliche
Benotungen, wie sie im Falle der Veröffentlichung von Transparenzberichten gemäß §
115 SGB XI gegeben sind. Denn der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seiner
grundlegenden Entscheidung vom 09. Dezember 1975 (Az.: VI ZR 157/73) zur Haftung
der Stiftung Warentest für wertende Äußerungen im Rahmen vergleichender Warentests
ausdrücklich nur im Hinblick auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG dem
Beurteilenden einen weiten Freiraum eingeräumt. Deshalb sei eine Testveröffentlichung
nicht schon dann unzulässig, wenn sie nur "falsch" oder nicht "sachgerecht" sei (BGH
aaO, Juris, Rdnr. 24, 25). Der Entwicklung der Rechtsprechung zum Recht der freien
Meinungsäußerung müsse - so der BGH - auch für die Beurteilung der Veröffentlichung
von Wertungen in vergleichenden Warentests Rechnung getragen werden. Wegen des
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Grundrechts aus Art. 5 GG seien die Grenzen zulässiger Kritik sehr weit gezogen.
Deshalb sah der BGH (u.a.) erst bei einer "Schmähkritik" oder bei Bewertungen, die
"undiskutabel" seien, die Grenze der zulässigen Bewertung erreicht.
Dieser - sehr weite - Prüfungsmaßstab kann hier jedoch nicht gelten, weil sich die
hoheitlich handelnden Antragsgegner auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht
berufen können. Auch eine nur "entsprechende Anwendung" von Art. 5 GG wäre
dogmatisch abwegig (vg. hierzu Bachem, Sozialrecht Aktuell, 2010, 123/132). Bei der
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung von Transparenzberichten
geht es nicht um den Schutz des den Antragsgegnern nicht zustehenden Grundrechts
der Meinungsfreiheit. Vielmehr haben die Sozialgerichte die Aufgabe, den
Einrichtungsträgern Rechtsschutz gegen die Verletzung ihres Grundrechts der
Berufsfreiheit zu gewähren.
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Der Antragstellerin steht nach allem ein Anordnungsanspruch zu. Aber auch ein
Anordnungsgrund ist gegeben. Die drohende Veröffentlichung des Transparenzberichts
mit der Gesamtnote "ausreichend" und den Noten "mangelhaft" für die Qualitätsbereiche
"Pflegerische Leistungen" und "Ärztlich verordnete pflegerische Leistungen" würde
ganz offenbar zu einem gravierenden Reputationsschaden der Einrichtung der
Antragstellerin führen und sie in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit irreversibel
verletzen. Daran könnte auch die der Antragstellerin gegebene Möglichkeit nichts
ändern, dem Transparenzbericht eine eigene Kommentierung - im Umfang von 3.000
Zeichen - anzufügen. Ein eigener Kommentar der Pflegeeinrichtung kann nämlich
gegen die hoheitliche Bewertung nur eine sehr begrenzte Marktwirksamkeit erlangen.
Nach der Ansicht des LSG NRW (vgl. Beschluss vom 15. November 2010, Az.: L 10 P
76/10 B ER, Juris, Rdnr. 28) ist ein wesentlicher Nachteil, der einen Anordnungsgrund
begründen könnte, nur anzunehmen, wenn der Träger einer Pflegeeinrichtung durch die
Veröffentlichung eines Transparenzberichts "konkret" in seiner "wirtschaftlichen
Existenz bedroht ist" oder ihm "sogar die Vernichtung der Lebensgrundlage droht". Mit
diesen überzogenen Anforderungen wird das LSG NRW dem aus Art. 19 Abs. 4 GG
folgenden Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht. Nach der
Rechtsprechung des BVerfG (vgl. zuletzt Beschluss vom 08. April 2010, Az.: 1 BvR
2709/09, Juris, Rdnr. 22, m. w. N.) hat der Grundrechtsträger einen substanziellen
Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Der
Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kommt daher - so das BVerfG, aaO - nicht
nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in Rechte des Grundrechtsträgers
eingreift, vollständig der richterlichen Prüfung zu unterstellen, sondern auch irreparable
Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme
eintreten können, soweit als möglich auszuschließen.
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Die zeitliche Dauer der vorläufigen Untersagung der Veröffentlichung des
Transparenzberichts hat die Kammer nach ihrem freien Ermessen gemäß § 86 b Abs. 2
Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Klageverfahrens in der Hauptsache geknüpft.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Bei der auf § 197 a SGG i.V.m. § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG)
beruhenden Streitwertfestsetzung (5.000 Euro) folgt die Kammer unter Aufgabe ihrer
bisherigen Rechtsprechung der aus unterschiedlichen Gründen vertretenen Auffassung
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der meisten Landessozialgerichte (vgl. etwa LSG NRW, Beschluss vom 15. November
2010, Az.: L 10 P 76/10 B ER, Hessisches LSG, Beschluss vom 28. Oktober 2010, Az.: L
8 P 29/10 B ER, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07. Oktober 2010, Az.: L 27 P
32/10 B ER, LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05. Oktober 2010, Az.: L 4 P 12/10 B
ER; anderer Ansicht Bayerisches LSG, Beschluss vom 04. Oktober 2010, Az.: L 2 P
19/10 B ER, das in Streitigkeiten der vorliegenden Art einen Streitwert von nur 2.500
Euro weiterhin für zutreffend erachtet).