Urteil des SozG München vom 20.11.2007

SozG München: untätigkeitsklage, gebühr, rechtliches gehör, billigkeit, vertretung, behörde, aufwand, erlass, auflage, verfügung

Sozialgericht München
Kostenbeschluss vom 20.11.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 51 SF 74/07 F
Auf die Erinnerung vom 11.09.2007 wird der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 22.08.2007 abgeändert und die zu
erstattenden Kosten werden auf 172,55 Euro festgesetzt.
Gründe:
I.
Streitig ist die Höhe der von der Erinnerungsführerin der Erinnerungsgegnerin zu erstattenden außergerichtlichen
Kosten einer Untätigkeitsklage.
Der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegnerin vertritt am Sozialgericht München jährlich Dutzende Untätigkeitsklagen
im Bereich des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II).
Mit Bescheid vom 11.10.2006 bewilligte die Erinnerungsführerin der Bedarfsgemeinschaft der Erinnerungsgegnerin
Arbeitslosengeld II nach SGB II. Gegen den Bescheid wurde mit Schreiben vom 08.11.2006 Widerspruch erhoben.
Am 09.02.2007 erhob der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegnerin eine Untätigkeitsklage für die Klägerin. Die
Untätigkeitsklage einschließlich Kostenantrag wurde mit knapp sechs Zeilen begründet. Nach Erlass des
Widerspruchsbescheids vom 17.02.2007 erklärte die Erinnerungsgegnerin die Untätigkeitsklage in der Hauptsache für
erledigt. Beigefügt war folgende Kostennote:
Verfahrensgebühr gemäß § 3 Rechtsanwaltsvergütungs- gesetz (RVG) i.V.m. Nr. 3102 Vergütungsverzeichnis (VV
RVG) und wegen Vertretung zweier Auftraggeber Erhöhung um 0,3 gemäß Nr. 1008 VV RVG 140,- Euro
Auslagenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG 20,- Euro
Nettobetrag zusammen 160,- Euro
19 % Umsatzsteuer gemäß Nr. 7008 VV RVG 30,40 Euro
Gesamtbetrag 190,40 Euro
Die Erinnerungsführerin erkannte die Kostentragung dem Grunde nach an. Die Höhe der Kosten wurde dagegen
bestritten.
Der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegnerin verwies darauf, dass die vorgelegte Gebührenberechnung auch im
Verfahren zum Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gängig sei, Untätigkeitsklagen zum Sozialgericht nur von
wenigen Anwälten überhaupt betrieben werden, üblicherweise durchaus auch eine Besprechung mit Mandanten vor
Erhebung einer Untätigkeitsklage erfolge und das Interesse der Betroffenen an einer zügigen Entscheidung, mithin die
Bedeutung der Angelegenheit, sehr groß sei.
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 22.08.2007, S 51 AS 276/07 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
die zu erstattenden außergerichtlichen Kosten gemäß § 197 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf 190,40 Euro fest.
Eine Verfahrensgebühr in Höhe der Hälfte der Mittelgebühr sei angemessen (125,- Euro). Wegen des
Toleranzrahmens von 20 Prozent könne eine Unbilligkeit der geforderten 140,- Euro nicht angenommen werden.
Am 14.09.2007 legte die Erinnerungsführerin Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss ein. Dem
Bevollmächtigten der Erinnerungsgegnerin sei aufgrund zahlreicher Verfahren bekannt, dass eine Verfahrensgebühr
von 125,- Euro angemessen sei. Es sei nicht zu akzeptieren, dass die angemessene Verfahrensgebühr wegen des
Toleranzrahmens überschritten werde. Es handle sich um eine permanente, von vornherein beabsichtigte und
rechtsmissbräuchliche Überschreitungen der angemessenen Verfahrensgebühr.
Der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegnerin verwies darauf, dass die Untätigkeitsklage zeitnahes rechtliches Gehör
gewährleiste. Die Behörde könne durch rechtzeitige Entscheidung die Kosten für eine Untätigkeitsklage vermeiden.
Die wirtschaftliche Bedeutung für die Betroffenen sei hoch. Durch zeitnahe Entscheidungen der Behörde seien die
Rechte der Betroffenen zu wahren.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle half der Erinnerung nicht ab und legte sie dem Richter zur Entscheidung vor.
II.
Das Gericht ist gemäß § 197 Abs. 2 SGG zur Entscheidung über die Erinnerung zuständig. Die Erinnerung ist
zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden. Die Erinnerung ist im tenorierten Umfang begründet.
In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz nicht anwendbar ist,
also bei Verfahren kostenprivilegierter Beteiligter nach § 183 SGG, entstehen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 RVG
Betragsrahmengebühren. Die Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102 VV RVG hat einen Gebührenrahmen von 40,- Euro
bis zu 460,- Euro. Die Mittelgebühr (Mitte des Rahmens) beträgt 250,- Euro.
Prüfungsmaßstab zur Bestimmung der Höhe der Rahmengebühren ist § 14 Abs. 1 RVG. Danach bestimmt der
Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der
Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit, der Einkommens- und
Vermögensverhältnisse des Auftraggebers sowie des Haftungsrisikos nach billigem Ermessen. Ist die Gebühr von
einem Dritten zu erstatten, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig
ist.
Die Gebührenhöhe ist anhand einer Gesamtabwägung zu bestimmen. Die in § 14 Abs. 1 RVG genannten Kriterien
sind nicht abschließend. Im vorliegenden Fall sind jedoch keine weiteren wesentlichen Kriterien ersichtlich.
Angemessen ist die Hälfte der Mittelgebühr, mithin 125,- Euro. Eine weitere Erhöhung im Rahmen der "Billigkeit"
kommt nicht in Betracht. Die anwaltliche Gebührenbestimmung von 140,- Euro ist unbillig. Da die Gebühr von der
Erinnerungsführerin zu erstatten ist, ist die Bestimmung nicht verbindlich.
Gegenstand des Klageverfahrens war eine Untätigkeitsklage gemäß § 88 SGG. Ziel einer solchen Untätigkeitsklage
ist ausschließlich der Erlass eines beantragten Bescheides bzw. Widerspruchsbescheides. Materiellrechtliche Fragen
bleiben unberücksichtigt.
Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit ist weit unterdurchschnittlich. Erforderlich ist lediglich die Kenntnis der
entsprechenden Vorschrift sowie der darin angeführten Frist. Es handelt sich um eine anwaltliche Tätigkeit der
einfachsten Art. Wenn, wie der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegnerin vorträgt, nur wenige Anwälte von der
Untätigkeitsklage Gebrauch machen, dann liegt das nicht an der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit.
Der Umfang der Tätigkeit des Anwalts ist weit unterdurchschnittlich. Der Aufwand für die Klagebegründung ist
minimal. Im vorliegenden Fall umfasst sie knapp sechs Zeilen einschließlich der Begründung des Kostenantrags. Die
Laufzeit des Verfahrens war mit weniger als zwei Monaten ausgesprochen kurz. Auch sofern im Einzelfall tatsächlich
eine Besprechung mit dem Mandanten erfolgte, ist hierfür nur ein geringer Aufwand erforderlich.
Die Bedeutung der Angelegenheit für den Betroffenen ist allenfalls durchschnittlich. Der Leistungsbezug ist für
Empfänger von Arbeitslosengeld II zwar von erheblicher Bedeutung. Darauf kommt es kostenrechtlich hier aber nicht
an. Gegenstand des Verfahrens war nicht eine Sachentscheidung über einen Leistungsanspruch, sondern
ausschließlich eine behördliche Untätigkeit, die mithilfe des Gerichts beendet werden soll. Für sehr dringliche
Leistungsansprüche stellt das Gesetz das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Verfügung.
Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Auftraggeberin sind bei Empfängern von Arbeitslosengeld II
regelmäßig deutlich unterdurchschnittlich.
Das Haftungsrisiko ist angesichts der Einfachheit der Tätigkeit sehr gering.
Die Mindestgebühr von 40,- Euro kommt in Betracht, wenn ein Mindestbemittelter betroffen ist, die Sache einfach liegt
und nur geringen Umfang hat oder wenn ein einziges Merkmal so überwiegt, dass schon deshalb nur die
Mindestgebühr gerechtfertigt ist (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 36. Auflage, § 14 Rn. 17 RVG). Im vorliegenden Fall
spricht allein die allenfalls durchschnittliche Bedeutung der Angelegenheit gegen den Ansatz der Mindestgebühr.
Bei vier Kriterien, die weit oder deutlich unterdurchschnittlich sind und nur einem Kriterium von allenfalls
Durchschnittlichkeit ist es angemessen, die Verfahrensgebühr auf die Hälfte der Mittelgebühr, mithin auf 125,- Euro
festzusetzen. Dies entspricht einer Empfehlung des Kostenrevisors am Bayerischen Landessozialgericht, den
Entscheidungen der Bayerischen Sozialgerichte (z.B. SG München S 22 AS 1231/06, S 22 AS 374/07, S 51 AS
758/07, S 52 AS 1430/06, S 52 AS 1260/07, S 53 AS 364/06, S 53 AS 1593/06 sowie SG Augsburg S 9 AS 286/06
Ko und S 10 P 34/03 Ko) und auch dem hier streitigen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 22.08.2007.
Eine Gebührenerhöhung um 0,3 nach § 7 RVG i.V.m. Nr. 1008 VV RVG wegen Vertretung mehrerer Auftraggeber ist
nicht anzusetzen, weil der Bevollmächtigte die Untätigkeitsklage nur für die Erinnerungsgegnerin erhoben hat.
Eine Erhöhung der 125,- Euro in Rahmen der "Billigkeit" kommt nicht in Betracht.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Urteil vom 26.02.1992 (9a RVs 3/90) dem Anwalt grundsätzlich einen
Toleranzrahmen von 20 Prozent eingeräumt. Nur eine Bestimmung des Rechtsanwalts, die um 20 von Hundert oder
mehr von der Vorstellung der anderen Seite abweicht, sei unbillig im Sinn von § 12 Abs. 1
Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (jetzt § 14 RVG). Gleichzeitig hat das BSG diese Aussage eingeschränkt: Der
Gedanke des Spielraums sei nicht so zu verstehen, dass Rechtsanwälte in Durchschnittsfällen immer bis zu 20
Prozent über die Mittelgebühr hinausgehen dürften. Der Gedanke des Spielraums sei nur für Fälle hilfreich, in denen
mit der Mittelgebühr-Methode kein fester Betrag ermittelt werden kann. Dies könne dann so sein, wenn einige
Gesichtspunkte dafür sprechen, dass das Verfahren etwas über dem Durchschnitt liegt.
Das Urteil des BSG ist nicht so zu verstehen, dass immer dann ein Toleranzzuschlag von bis zu 20 Prozent möglich
ist, wenn eine andere Gebühr als die Mittelgebühr angemessen ist. Der Grundgedanke der Entscheidung ist vielmehr,
dass ein Zuschlag dann nicht in Frage kommt, wenn dem Anwalt eine eindeutige Bestimmung der Gebühr möglich ist.
Wenn eine Gebühr für den Anwalt klar bestimmbar ist, gibt es keinen Grund, einen Toleranzrahmen in Anspruch zu
nehmen. Es ist dann unbillig, einen Zuschlag zu fordern.
Im vorliegenden Fall ist die Hälfte der Mittelgebühr angemessen. Aufgrund der Vielzahl von Untätigkeitsklagen und der
zugehörigen Kostenbeschlüsse muss der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegnerin wissen, dass die Hälfte der
Mittelgebühr die angemessene Gebühr ist. Mit Hilfe des Toleranzzuschlag eine höhere Gebühr zu fordern, ist unbillig.
Die Gebühren sind daher wie folgt festzusetzen:
Verfahrensgebühr gemäß § 3 RVG i.V.m. Nr. 3102 125,- Euro
Auslagenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG 20,- Euro
Nettobetrag zusammen 145,- Euro
19 % Umsatzsteuer gemäß Nr. 7008 VV RVG 27,55 Euro
Gesamtbetrag 172,55 Euro
Dieser Beschluss ergeht kostenfrei. Er ist endgültig (§ 197 Abs. 2 SGG).