Urteil des SozG München vom 17.09.2007

SozG München: eheähnliche gemeinschaft, gesetzliche vermutung, hauptsache, haushalt, zusammenleben, gerichtsakte, wohngemeinschaft, beweismittel, behörde, unternehmen

Sozialgericht München
Beschluss vom 17.09.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 22 AS 1453/07 ER
I) Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab
26.07.2007 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis 30.11.2007, vorläufig
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Höhe von 260,25 EUR monatlich zu gewähren. II) Im Übrigen
wird der Antrag abgelehnt. III) Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zur Hälfte.
Gründe:
I.
Der im Jahre 1962 geborene Antragsteller (Ast.) bewohnte bis 1998 mit seinem Vater eine 4-Zimmer-Mietwohnung (ca.
91 qm) in München. Nach dessen Auszug wohnte er zunächst allein in der Wohnung. Zu Beginn des Jahres 2001 zog
die im Jahre 1961 geborene Frau W. K. (K.) in die Wohnung; es wurde ein neuer Mietvertrag geschlossen, in dem als
Mieter sowohl der Ast. als auch Frau K. genannt waren.
Der Ast. war bis Februar 2001 als Lagerverwalter beschäftigt. Dann wurde er arbeitslos und bezog bis 23.12.2002
Arbeitslosengeld.
Am 13.12.2004 beantragte der Ast. erstmals Arbeitslosengeld II (Alg II). Dabei gab er an, mit Frau K. in
Wohngemeinschaft zu leben; die Miete werde hälftig aufgeteilt. Er legte einen mit Frau K. geschlossenen, auf den
30.04.2003 datierten Darlehensvertrag vor, wonach Frau K. dem Ast. für die Zeit vom 01.05.2003 bis zum 31.12.2005
ein Darlehen "zur Deckung der anteiligen Kosten für Miete und Nebenkosten" des Ast. gewähre; hinsichtlich der
Einzelheiten wird auf Blatt 20 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin (V-Akte) verwiesen. Dem Antrag war weiter
eine schriftliche Erklärung von Frau K. vom 29.11.2004 beigefügt, deren Inhalt Blatt 16 V-Akte zu entnehmen ist.
Die Ag. gewährte dem Ast. ab 01.01.2005 Alg II. Die Leistungen wurden bis 31.05.2007 mehrfach weiterbewilligt.
Gestützt insbesondere auf das Ergebnis eines Hausbesuchs vom 14.05.2007 lehnte die Ag. mit Bescheid vom
16.07.2007 den Weitergewährungsantrag des Ast. für die Zeit ab Juni 2007 wegen fehlender Mitwirkung ab. Nach den
Ergebnissen der von der Ag. vorgenommenen Ermittlungen bestehe zwischen dem Ast. und Frau K. eine eheähnliche
Gemeinschaft. Da der Ast. die finanziellen Verhältnisse von Frau K. nicht offengelegt und somit seine
Mitwirkungspflichten verletzt habe, könne seine Hilfebedürftigkeit nicht festgestellt und müssten somit die beantragten
Leistungen versagt werden. Hiergegen erhob der Ast. mit am 26.07.2007 eingegangenem Schriftsatz seiner
Bevollmächtigten Widerspruch.
Gleichfalls am 26.07.2007 ist sein Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht München
eingegangen. Trotz scheinbar dafür sprechender Indizien liege eine eheähnliche Gemeinschaft nicht vor; der Ast. und
Frau K. seien lediglich befreundet. Von einer fehlenden Mitwirkung könne nicht die Rede sein, da dem Ast. die von der
Ag. geforderten Unterlagen der Frau K. nicht zugänglich seien. Der Ast. sei mittellos, erhalte insbesondere kein Geld
für seinen Lebensunterhalt von Frau K. Um sich versorgen zu können, habe er von seiner Mutter Geld geliehen und
müsse sich weiter verschulden. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 9 ff. der Gerichtsakte Bezug
genommen.
Der Ast. beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller über den 31.05.2007
hinaus bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitssuchende in Höhe von 774,81 EUR monatlich, ab 01.07.2007 in Höhe von 776,81 EUR monatlich zu gewähren.
Die Ag. beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Da sich der Ast. seit 2001 mit Frau K. eine Wohnung teile, werde in seinem Fall das Bestehen einer
Bedarfsgemeinschaft gesetzlich vermutet. Auch nach den übrigen Ermittlungsergebnissen der Ag. sei im vorliegenden
Fall kein wesentlicher Unterschied zu Paaren oder gar Eheleuten zu erkennen. Im Übrigen habe sich die Ag.
zwischenzeitlich mit einer Anforderung von Unterlagen auch an Frau K. gewandt. Diese habe sich geweigert, die
gewünschten Auskünfte zu erteilen, wie aus einem am 23.08.2007 eingegangenem Schreiben (Blatt 30 Gerichtsakte)
hervorgehe.
Der Kammer lagen die Behördenakten der Ag. (154 Blatt) bei ihrer Entscheidung vor.
II.
Der zulässige Antrag ist in dem im Tenor angegebenen Umfang begründet.
Der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gem. § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist statthaft.
Zwar ist in dieser Sache bislang lediglich ein Versagungsbescheid gem. § 66 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB I) ergangen und somit an sich die Situation der reinen Anfechtungsklage gegeben. Für solche
Fälle sieht das Prozessrecht grundsätzlich den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vor, der dem Ast.
hier allerdings nicht entscheidend weiterhelfen würde. Wurde jedoch - wie hier - eine inhaltliche Entscheidung über die
beantragte Sozialleistung noch nicht getroffen und ist allein ein Versagungsbescheid ergangen, so muss dem
Betroffenen im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzgarantie jedenfalls dann die
Möglichkeit eröffnet sein, die (vorläufige) Leistung mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geltend
zu machen, wenn der Versagungsbescheid - nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich
vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage - rechtswidrig ist.
Dies ist jedoch hier der Fall: Die Ag. hat die Versagung der Grundsicherungsleistungen darauf gestützt, dass der Ast.
es unterlassen hat, Unterlagen seiner (mutmaßlichen) Partnerin vorzulegen. Dem Ast. kann jedoch nicht ohne
weiteres widerlegt werden, dass er zu diesen Unterlagen keinen Zugang hat. Die ihm gem. §§ 60 ff. SGB I
obliegenden Mitwirkungspflichten gehen auch nicht so weit, dass von ihm verlangt werden könnte, sich Beweismittel -
etwa Nachweise über Einkommensverhältnisse - von einem privaten Dritten (und sei es auch die nichteheliche
Lebenspartnerin) zu beschaffen und der Ag. vorzulegen (Urteil des Bundessozialgerichts vom 10.03.1993 - 14b/4 Reg
1/91, BSGE 72, 118 ff.). Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich die Ag. im Nachhinein auch an Frau K.
gewandt und ihren Auskunftsanspruch gem. § 60 Abs. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) dieser gegenüber
geltend gemacht hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob von der Behörde verlangt werden kann, zusätzlich
jedenfalls einen Vollstreckungsversuch (siehe dazu Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, 2005, § 60 Rn.
53) zu unternehmen, bevor sie eine ablehnende Entscheidung trifft. Denn diese ablehnende Entscheidung wäre dann
eine Entscheidung in der Sache, gegen die der Ast. mit den entsprechenden Rechtsmitteln einschließlich eines
Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorgehen könnte, und keine Versagung im Sinne von § 66 Abs. 1
Satz 1 SGB I.
Der nach alledem statthafte Antrag ist zum Teil begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt somit voraus, dass neben einem Anordnungsanspruch
(dem materiell-rechtlichen Rechtsanspruch) auch ein Anordnungsgrund als Ausdruck der besonderen Dringlichkeit der
Entscheidung glaubhaft gemacht worden ist. Dieser ist gegeben, wenn die Regelungsanordnung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile notwendig ist.
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn das Obsiegen des Ast. in der
Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig
oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung
abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende
Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den
Anordnungsgrund und -anspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. anhand einer Folgenabwägung
unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast. zu entscheiden (siehe Beschluss des Bayerischen
Landessozialgerichts vom 27.04.2006 – L 11 B 138/06 SO ER).
Gem. § 19 Satz 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Alg II Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Hilfebedürftig ist gem. § 9
Abs. 1 SGB II derjenige, der seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit
ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln,
vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus seinem zu berücksichtigenden Einkommen (§ 11
SGB II) oder Vermögen (§ 12 SGB II) sicherstellen kann. Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind
gem. § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Ist in einer
Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt gem. § 9 Abs. 2 Satz 3
SGB II jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig.
Gem. § 7 Abs. 3 SGB II in der ab 01.08.2006 geltenden Fassung gehört zur Bedarfsgemeinschaft eine Person, die
mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger
Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen
(§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II). Ein solcher Wille wird gem. § 7 Abs. 3 a SGB II vermutet, wenn die Partner
länger als ein Jahr zusammenleben, mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, Kinder oder Angehörige im
Haushalt versorgen oder befugt sind, über das Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.
Nach diesen Grundsätzen spricht im vorliegenden Fall viel für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft. Der Ast. und
Frau K. sind etwa gleichaltrig, leben seit 2001 in einer gemeinsamen Wohnung, in der sie einen Großteil der Räume
gemeinschaftlich nutzen, haben sich gegenseitig durch den Abschluss von Lebensversicherungen abgesichert und
haben bis August 2007 über ein gemeinsames (Miet-)Konto verfügt.
Andererseits steht beiden in der Wohnung ein eigener privater Rückzugsbereich zur Verfügung. Nach der Darstellung
von Frau K. in ihrer schriftlichen Äußerung vom 29.11.2004 handelt es sich beim gegenseitigen Abschluss der
Lebensversicherungen nicht um einen Ausdruck persönlicher Verbundenheit, sondern um ein ganz rational kalkuliertes
Arrangement, was - so ungewöhnlich eine solche Vorgehensweise zwischen bloßen "Freunden" auch sein mag -
jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen erscheint.
Vor allem aber kommt die gesetzliche Vermutung des § 7 Abs. 3 a SGB II nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 3 Nr. 3
Buchst. c SGB II nur dann zum Tragen, wenn die Partner "in einem gemeinsamen Haushalt" zusammenleben.
Voraussetzung ist also das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft. Das SGB II definiert den Begriff der
Haushaltsgemeinschaft nicht, sondern setzt ihn in § 9 Abs. 5 SGB II voraus. Aus der amtlichen Begründung ergibt
sich, dass es darauf ankommt, ob die betreffenden Personen in einem gemeinsamen Haushalt leben und "aus einem
Topf wirtschaften" (vgl. BT-Drucks. 15/1516, S. 53; siehe dazu auch Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom
14.07.2006 - L 1 B 23/06 AS ER). Voraussetzung ist somit, dass über die bloße Wohngemeinschaft hinaus der
Haushalt im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam geführt wird (Mecke in: Eicher/Spellbrink, aaO., § 9 Rn.
52). Dies ist im vorliegenden Fall nach der Aktenlage nicht völlig sicher zu beurteilen. Dafür spricht, wie die Ag. zu
Recht argumentiert (Blatt 20 Gerichtsakte), dass Frau K. den Ast. bereits in der Vergangenheit tatkräftig finanziell
unterstützt hat; die Ausgestaltung als "zinsloses Darlehen" ändert an dieser Tatsache nichts Entscheidendes.
Andererseits geben der Ast. und Frau K. an, im Übrigen strikt "getrennte Kassen" zu führen.
Nach alledem ist derzeit der Ausgang des zu erwartenden Hauptsacheverfahrens offen, wenn auch insgesamt mehr
für das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft und dementsprechend eine erheblich verminderte, wenn nicht fehlende
Hilfebedürftigkeit des Ast. spricht. Es erscheint somit angezeigt, zur Vermeidung einer Situation, in der eine
Gefährdung der existentiellen Rechte des Ast. eintreten könnte, diesem im Wege der einstweiligen Anordnung einen
monatlichen Betrag vorläufig zuzusprechen, der dem "für ein menschenwürdiges Dasein Unerlässlichen" entspricht.
Dieser beläuft sich aus der Sicht der Kammer auf ca. ¾ der Regelleistung gem. § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II (siehe
dazu Lang in: Eicher/Spellbrink, aaO., § 20 Rn. 3 mwN.), also auf 260,25 EUR. Diese Leistung ist vorläufig bis zum
Ende des Bewilligungsabschnitts gem. § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II zu gewähren. Hinsichtlich der Kosten der
Unterkunft fehlt es allerdings nach dem oben Gesagten an einem Anordnungsgrund. Im Hinblick auf das Verhalten
von Frau K. in der Vergangenheit ist nicht zu erwarten, dass dem Ast. auf absehbare Zeit ein Verlust der Wohnung
droht, wenn er seinen Mietanteil vorläufig schuldig bleibt, zumal Frau K. diesen offensichtlich ohne größere
Schwierigkeiten mit aufbringen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.