Urteil des SozG München vom 26.09.2007

SozG München: verpflegung, verfügung, hauptsache, niedersachsen, pauschalierung, marktwert, heizung, erlass, dringlichkeit, unwürdigkeit

Sozialgericht München
Beschluss vom 26.09.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 22 AS 1711/07 ER
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom
01.10.2007 bis zum Ende seines stationären Aufenthalts, längstens bis zum 31.03.2008, vorläufig höhere Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts, ohne Anrechnung der dort zur Verfügung gestellten Verpflegung als Einkommen,
zu gewähren.
II. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
I.
Der im Jahre 1982 geborene Antragsteller (Ast.), der gerichtlich durch seine Mutter und Betreuerin vertreten wird,
leidet an den Folgen einer Hirnhautentzündung und ist deshalb seit Juni 2005 auf Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitssuchende angewiesen. Mit Bescheid der Antragsgegnerin (Ag.) vom 03.04.2007 wurden ihm für die Zeit vom
01.04.2007 bis zum 30.09.2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 756,83 EUR monatlich
bewilligt. Mit Bescheid vom 31.05.2007 wurden die Leistungen für die Zeit vom 01.05.2007 bis zum 30.06.2007 auf
804,33 EUR monatlich und für die Zeit vom 01.07.2007 bis zum 30.09.2007 auf 806,33 EUR monatlich erhöht.
Ab dem 16.07.2007 befand sich der Ast. in stationärer Behandlung im Krankenhaus M ... Mit Schreiben vom
31.07.2007 hörte die Ag. den Ast. zu einer beabsichtigten Teilaufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom
16.07.2007 bis zum 31.08.2007 an, mit der Begründung, wegen des stationären Aufenthalts sei die Regelleistung des
Ast. um 35 % zu kürzen. Für den Monat September 2007 zahlte die Ag. dem Ast. zunächst lediglich einen Betrag in
Höhe von 684,88 EUR aus. Mit Bescheid vom 23.08.2007 setzte sie auch die monatlichen Leistungen für die Zeit
vom 01.10.2007 bis zum 31.03.2008 in dieser Höhe fest. Dieser Betrag ergab sich infolge einer Anrechnung von
"sonstigem Einkommen" in Höhe von 121,45 EUR. Hiergegen hat der Ast. mit Schreiben vom 25.08.2007
Widerspruch eingelegt.
Am 28.08.2007 ist sein Eingang auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht München (SG)
eingegangen, welcher sich auf die (vorläufige) Gewährung höherer Leistungen, ohne die Berücksichtigung von
Einkommen, ab September 2007 richtete.
Mit Schriftsatz vom 11.09.2007 hat die Ag. mitgeteilt, an der Entscheidung, die mit Bescheid vom 31.05.2007
festgesetzten Leistungen für September 2007 in geringerer Höhe auszuzahlen, werde nicht festgehalten. Die
(vorläufige) Auszahlung des Differenzbetrages in Höhe von 121,45 EUR werde veranlasst.
Mit Bescheid vom 12.09.2007 hat die Ag. ihren Bescheid vom 23.08.2007 aufgehoben und die dem Ast. für die Zeit
vom 01.10.2007 bis 31.03.2008 zustehenden monatlichen Leistungen auf 631,33 EUR neu festgesetzt. Das zu
berücksichtigende Einkommen wurde abweichend von diesem Bescheid mit 205,00 EUR, abzüglich einer Pauschale
von 30,00 EUR, bemessen.
Der Ast. beantragt sinngemäß,
die Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflich ten, dem Ast. für die Zeit vom 01.10.2007 bis zum Ende
seines stationären Aufenthalts, längstens bis zum 31.03.2008, vorläufig höhere Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts, ohne Anrechnung der dort zur Verfügung gestellten Verpflegung als Einkommen, zu gewähren.
Die Ag. beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Dem Gericht lag die Behördenakte der Ag. (265 Blatt) bei seiner Entscheidung vor.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt somit voraus,
dass neben einem Anordnungsanspruch (dem materiell-rechtlichen Rechtsanspruch) auch ein Anordnungsgrund als
Ausdruck der besonderen Dringlichkeit der Entscheidung glaubhaft gemacht worden ist. Dieser ist gegeben, wenn die
Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist.
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn das Obsiegen des Ast. in der
Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig
oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung
abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende
Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den
Anordnungsgrund und -anspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. anhand einer Folgenabwägung
unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast. zu entscheiden (siehe Beschluss des Bayerischen
Landessozialgerichts vom 27.04.2006 - L 11 B 138/06 SO ER).
Nach diesen Grundsätzen sind dem Ast., aufgrund einer überwiegenden Erfolgsaussicht in der Hauptsache sowie des
existenzsichernden Charakters der hier im Streit stehenden Leistungen, ab 01.10.2007, längstens bis zum 31.03.2008
(Ende des Bewilligungsabschnitts), vorläufig höhere Leistungen zuzusprechen. Die Kammer teilt nicht die
Rechtsauffassung der Ag., wonach die Verpflegung, die der Ast. während seines Krankenhausaufenthalts erhält, bei
der Bemessung des ihm zustehenden Arbeitslosengeldes II (Alg II) anspruchsmindernd zu berücksichtigen ist.
Gem. § 19 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Alg II
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung.
Diese Leistungen schließen die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II), Leistungen für
bestimmte gesetzlich definierte Mehrbedarfe (§ 21 SGB II), Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II)
sowie im Gesetz abschließend aufgezählte, von der Regelleistung nicht umfasste einmalige Leistungen (§ 23 Abs. 3
SGB II) ein. Die Höhe der Leistungen bemisst sich nach dem Ausmaß der Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II), also vor
allem danach, in welchem Umfang Einkommen (§ 11 SGB II) und Vermögen (§ 12 SGB II) des erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen zu berücksichtigen sind.
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang die während eines
Krankenhausaufenthalts zur Verfügung gestellte Verpflegung bei der Bemessung dieser Leistungen als Einkommen
(oder in anderer Weise) zu berücksichtigen ist, in der Rechtsprechung derzeit noch umstritten ist. Aus der Sicht der
Kammer stellt eine solche Verpflegung kein Einkommen dar.
Gem. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind grundsätzlich (bis auf die dort genannten Ausnahmen) alle Einnahmen in Geld
oder (mit) Geldeswert als Einkommen zu berücksichtigen. Einnahmen sind Geld oder Sacheinnahmen einschließlich
Dienstleistungen mit Geldeswert, das heißt solche, die einen Marktwert haben, also gegen Geld tauschbar sind.
Voraussetzung ist bei letzteren eine (bedarfsbezogene) Verwendungsmöglichkeit, also die jederzeitige Tauschbarkeit
in Geld (Brühl in: LPK-SGB II, 1. Aufl. 2005, § 11 Rn. 11 f.).
Aus der Sicht der Kammer haben Naturalleistungen wie die Verpflegung im Krankenhaus keinen Marktwert. Etwas
anderes folgt insbesondere nicht daraus, dass für diese Leistungen möglicherweise ein anderer Sozialleistungsträger
(oder ein anderer Kostenträger) in dem Sinne aufgekommen ist, dass er für die dem Ast. gewährte Verpflegung ein
Entgelt an den Einrichtungsträger erbracht hat (so aber Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom
19.07.2007, L 7 AS 1431/07). Denn dieser Umstand führt nicht zu einer Verwertbarkeit für den Ast., welche
Voraussetzung dafür wäre, um dem Ast. diese Zuwendungen als Einkommen zurechnen zu können. Zwar mag es
dem Ast. theoretisch freistehen, diese Sachleistung "an Dritte weiterzugeben, so er einen Abnehmer findet" (so das
Bayerische LSG, Urteil vom 19.06.2007, L 11 AS 4/07). Praktisch wird das aber kaum zu realisieren sein, weil ein
entsprechender "Markt" schlicht nicht existiert (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30.07.2007, L 8
AS 186/07 ER), von der Absurdität und der Unwürdigkeit eines entsprechenden Versuchs einmal ganz abgesehen.
Wenn das LSG Baden-Württemberg (aaO.) weiter argumentiert, eine bedarfsbezogene Verwendbarkeit der
Verpflegungsleistungen liege schon deshalb vor, weil der Ast. damit ja seinen Verpflegungsbedarf gedeckt und somit
Aufwendungen für den Lebensunterhalt erspart habe, die er ansonsten aus der Regelleistung hätte bestreiten müssen,
so klingt das nur auf den ersten Blick einleuchtend. Tatsächlich nimmt das LSG damit aber gleichsam "durch die
Hintertür" eine leistungsschädliche Berücksichtigung auf der Bedarfsseite vor. Eine solche wird jedoch durch das
SGB II gerade ausgeschlossen, da dort die Regelleistungen (anders als im SGB XII, vgl. dort § 28) ausdrücklich als
strikte Pauschalleistungen ausgestaltet sind. Dem LSG Niedersachsen-Bremen (aaO.) ist somit darin beizupflichten,
dass eine Berücksichtigung der in einer stationären Einrichtung zur Verfügung gestellten Verpflegung zu einer
Umgehung dieses Grundprinzips der Pauschalierung führen würde. Geht man von der von Brühl (aaO.)
vorgeschlagenen Definition der "bedarfsbezogenen Verwendbarkeit" im Sinne einer jederzeitigen Tauschbarkeit in
Geld aus, so ist auch unter diesem Aspekt eine mögliche Ersparung von Aufwendungen nicht ausreichend bzw. nicht
relevant. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die in der Einrichtung dargereichte Verpflegung vom Insassen des
Krankenhauses eben nicht "zu Geld machen" lässt. Im Übrigen müsste, wollte man anders entscheiden, wohl auch
berücksichtigt werden, dass ein Krankenhausaufenthalt, wie der Ast. zu Recht vorträgt, immer mit Mehraufwendungen
in anderer Hinsicht verbunden ist, welche dann ggf. "gegengerechnet" werden müssten - all dies soll aber durch die
Pauschalierung der Regelleistungen nach dem Verständnis der hier entscheidenden Kammer gerade verhindert
werden. Das hier gefundene Ergebnis wird schließlich durch den Umstand bestätigt, dass eine Anrechnung der
Verpflegungsleistungen nach der Sachbezugsverordnung (§ 2 b i. V. m. § 2 Abs. 4 Alg II-V) in Fällen dieser Art zu
offensichtlich nicht tragbaren Ergebnissen führt. Denn mit dem von der Ag. mit Bescheid vom 12.09.2007
angerechneten Betrag in Höhe von 205,00 EUR (abzüglich der Pauschale gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V) wird der
Betrag überschritten, der in die monatliche Regelleistung des § 20 SGB II (ab 01.07.2007: 347,00 EUR) als
Verpflegungsaufwand eingerechnet ist (siehe LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.01.2007, L 20 B 304/06
AS ER). Das dies nicht richtig sein kann, bedarf wohl keiner weiteren Begründung (siehe nur LSG Nordrhein-
Westfalen, aaO.). Dem Antrag ist nach alledem stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.