Urteil des SozG München vom 02.07.2008

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Sozialgericht München
Urteil vom 02.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 19 SO 348/06
Bayerisches Landessozialgericht L 8 SO 86/08
I. Der Bescheid der Beklagten vom 23.02.2006 in Gestalt des Wider-spruchsbescheides der Regierung von
Oberbayern vom 17.05.2006 wird aufgehoben. II. Die Beklagte wird verpflichtet, die Grundsicherungsbescheide vom
05.06. und vom 16.06.2003 zurückzunehmen und die Ansprüche des Klägers auf Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsunfähigkeit für den Zeitraum vom 01.04.2003 bis zum 30.06.2004 ohne Anrechnung von Kindergeld neu
festzusetzen. III. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Parteien streiten darüber, ob für Leistungen nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden Gesetz über eine
bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsgesetz - GSiG) ein Anspruch
auf Überprüfung und Neufestsetzung von Sozialleistungen gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X)
gegeben war. Der 1983 geborene Kläger ist aufgrund infantiler Zerebralparesen spastisch gelähmt und wohnt im Haus
seiner Eltern, die für ihn Kindergeld beziehen. Am 01.04.2003 beantragte der Kläger Leistungen nach dem
Grundsicherungsgesetz. Aufgrund von Bescheiden der Beklagten vom 05.06.2003 und vom 16.06.2003 wurde dem
Kläger vom 01.04.2003 bis zum 30.06.2004 Grundsicherung unter Anrechnung des an seine Eltern ausbezahlten
Kindergeldes gewährt. Die Bescheide waren mit Rechtsbehelfsbelehrungen versehen. Die dagegen mit Schreiben vom
29.12.2003, 13.01.2004 und 17.11.2005 eingelegten Wider-sprüche des Klägers legte die Beklagte als Anträge auf
Überprüfung der bestandskräfti-gen Bescheide nach § 44 SGB X aus und lehnte diese Anträge mit Bescheid vom
23.02.2006 mit der Begründung ab, dass § 44 SGB X auf das Grundsicherungsgesetz nicht anwendbar sei. Den
dagegen am 07.03.2006 eingelegten Widerspruch wies die Re-gierung von Oberbayern durch Widerspruchsbescheid
vom 17.05.2006 als unbegründet zurück. Die dagegen entsprechend der im Widerspruchsbescheid gegebenen
Rechtsmittelbeleh-rung beim Verwaltungsgericht München erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Mün-chen
durch Beschluss vor 04.07.2006 an das Sozialgericht München verwiesen. Der Kläger beantragt, den Bescheid der
Beklagten vom 23.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Regierung von Oberbayern vom 17.05.2006
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Grundsicherungsbescheide vom 05.06.2003 und vom 16.06.2003 für
den Zeitraum vom 01.04.2003 bis zum 30.06.2004 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und die
Grundsicherungsleistungen ohne Anrechnung des Kinder-geldes als Einkommen des Klägers neu festzusetzen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakte, die Akte der Beklagten und die Akte der Regierung von
Oberbayern verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Für die Entscheidung über die zulässige Klage war das Sozialgericht München örtlich (§ 57 Sozialgerichtsgesetz –
SGG) und sachlich (§ 8 SGG) zuständig. Die Klage wurde ge-mäß §§ 87, 90, 92 SGG form- und fristgerecht erhoben.
Die Klage ist auch begründet, weil der Kläger gemäß § 44 SGB X einen Anspruch auf Rücknahme der
Grundsicherungsbescheide vom 05.06. und vom 16.06.2003 sowie dar-auf hat, dass seine Ansprüche auf
Grundsicherung im Zeitraum vom 01.04.2003 bis zum 30.06.2004 ohne Anrechnung von Kindergeld neu festgesetzt
werden. Dass das an die Eltern des im streitgegenständlichen Zeitraum schon volljährigen Klägers ausbezahlte
Kindergeld nicht auf die Grundsicherungsleistungen des Klägers als Ein-kommen anzurechnen war, ist zwischen den
Parteien unstreitig und entspricht der neuesten BSG-Rechtsprechung (BSG Urteil vom 08.02.2007 Az. B 9 B SO 6/06
R). Auch die Bestandskraft der Bewilligungsbescheide vom 05.06.2003 und vom 16.06.2003, mit denen die Beklagte
dem Kläger Grundsicherungsleistungen unter Anrechnung des Kindergeldes für den Zeitraum vom 01.04.2003 bis zum
30.06.2004 bewilligt hatte und gegen die der Kläger entgegen der ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung nicht in-
nerhalb einer Frist von einem Monat Widerspruch eingelegt hatte, steht einer Neufestsetzung der Ansprüche für den
genannten Zeitraum nicht entgegen, da es sich bei den An-sprüchen des Klägers auf Grundsicherung um
Sozialleistungen im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB X handelt, die zu Unrecht nicht erbracht worden sind. § 44 SGB X ist
aus denselben Gründen auf die Leistungen nach dem vom 01.01.2003 bis zum 31.12.2004 geltenden
Grundsicherungsgesetz anwendbar, wie sie vom Bundessozi-algericht zur Begründung der Anwendbarkeit des § 44
SGB X auf die Grundsicherungs-leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII herangezogen worden sind (dazu BSG,
Urteil vom 16.10.2007 Aktenzeichen B 8/9 B SO 8/06 R). Nach der Grundnorm des § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB X gelten
die Vorschriften des 1. Kapitels (§§ 1 – 66 SGB X) grundsätzlich für die gesamte öffentlich-rechtliche
Verwaltungstätigkeit der Behörden, die nach dem SGB ausgeführt wird. Eine Ausnahme hiervon macht § 1 Abs. 1
Satz 2 SGB X für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und
Gemeindeverbände, der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen
Rechts zur Ausführung der besonderen Teile des SGB, die nach dem In-krafttreten des ersten Kapitels des SGB X,
am 01.Januar 1981, Bestandteil des SGB wer-den. § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB X gilt dann nur unter der Voraussetzung,
dass diese beson-deren Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften des ersten Kapitels des SGB X für
anwendbar erklären. Für das am 01.01.2005 in Kraft getretene SGB XII hat nun das Bundessozialgericht in dem o.g.
Urteil entschieden, dass dieses als Folgegesetz zum BSHG keines besonderen Anwendungsbefehls bezogen auf das
SGB X bedurft ha-be, da das BSHG seinerseits nach § 68 Nr. 11 SGB I bereits vor dem 01.Januar 1981 bis zu der
Einordnung des Sozialhilferechts und das SGB als Bestandteil des SGB gegolten habe (a.a.O. RdNr. 16). Eines
besonderen Anwendungsbefehls habe es auch bezüglich der Regelungen im 4. Kapitel des SGB XII über die
Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung nicht mehr bedurft, was – soweit ersichtlich – allgemeiner
Meinung ent-spreche (a.a.O. RdNr. 17). Zwar seien diese Leistungen vor Inkrafttreten des SGB XII im
Grundsicherungsgesetz geregelt gewesen, für das die Anwendbarkeit des 1. Kapitels des SGB X umstritten sei. Das
Grundsicherungsgesetz sei jedoch materiell dem Leistungsbe-reich der Sozialhilfe zuzuordnen und wegen der in ihm
enthaltenen Verweise auf das BSHG mittelbar als sozialhilferechtliche Verwaltungsaufgabe anerkannt. Mit der Einord-
nung des Grundsicherungsgesetzes in das SGB XII habe der Gesetzgeber (unter Anpas-sung der Terminologie,
weitgehende Harmonisierung der Leistungsvoraussetzungen und der Leistungshöhe, Zuordnung zum selben Träger
sowie begrifflich-systematische Erfas-sung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als Sozialhilfe in §
8 Nr. 2 SGB XII und in § 28 Abs. 1 Nr. 1a SGB I in Verbindung mit § 9 SGB I) die Leistungen der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung nur noch ausdrücklich und formell der Sozialhilfe zugeordnet.
Unter Zugrundelegung der vom Bundessozialgericht für das SGB XII dargelegte Grün-dung für die Anwendbarkeit des
1. Kapitels des SGB X muss diese Anwendbarkeit auch für das Grundsicherungsgesetz bejaht werden. Entscheidend
ist hierbei, dass das Grund-sicherungsgesetz nach Auffassung des Bundessozialgerichts bereits selbst materiell als
Sozialhilferecht zu beurteilen war. Damit muss das Grundsicherungsgesetz ebenso wie jetzt auch das 4. Kapitel des
SGB XII bereits als partielle Nachfolgeregelung bzw. Aus-gliederung zum damals noch im Übrigen weiter geltenden
BSHG angesehen werden, das nach § 68 Nr. 11 SGB I bereits als besonderer Teil des SGB galt, so dass das
Grundsi-cherungsgesetz als partielles Folgegesetz zum BSHG ebenso wenig eines besonderen Anwendungsbefehls
bezogen auf das SGB X bedurfte wie das zwei Jahre später in Kraft getretene SGB XII, das als Folgegesetz zum
BSHG und zum Grundsicherungsgesetz die beiden auseinandergezogenen Sozialhilfezweige formell wieder in einem
einzigen Gesetz vereinte.
Die Anwendbarkeit des § 44 SGB X scheitert auch nicht an dem als Strukturprinzip der Sozialhilfe postulierten
Grundsatz, dass "keine Hilfe für die Vergangenheit" zu gewähren sei. Das Bundessozialgericht hat in dem zitierten
Urteil die alte Geltung dieses vom Bun-desverwaltungsgericht zum BSHG postulierten Grundsatzes unter dem SGB
XII stark in Zweifel gezogen, jedenfalls aber ausgeschlossen, dass dieser Grundsatz einer Anwend-barkeit des § 44
SGB X entgegen stehe (a.a.O. RdNrn. 18-21). Die Bedeutung dieses Grundsatzes sei unter der Geltung des SGB XII
deshalb stark zu relativieren, weil das SGB XII - anders als noch das BSHG - die Leistungen nicht mehr in Form
differenzierter einmaliger Leistungen, sondern weitgehend in Form von Pauschalen vorsehe. Die früher gewährten
Einmalbedarfe seien weitgehend pauschaliert in dem Regelsatz enthalten. Damit diene die Leistung nach dem SGB
XII nicht mehr allein der Befriedigung eines aktuellen, sondern auch eines zukünftigen und vergangenen Bedarfs,
wobei der Eintritt bzw. der Zeitpunkt des Eintritts dieses Bedarfs ungewiss sei. Dieser Systemwechsel – weg von der
Befriedigung konkreter Einmalbedarfe und hin zu einer verstärkten Pauschalierung, die dann nicht mehr konkret auf
einen bestimmten Zeitraum bezogen werden kann – fand nicht erst mit Einführung des SGB XII am 01.01.2005 statt,
sondern – worauf das BSG selbst ausdrücklich hinweist (a.a.O. RdNr. 19 erster Satz) – schon mit Einführung des
Grundsicherungsgesetzes, das in § 3 GSiG einen um 15% erhöhten Regelsatz und im Übrigen wesentlich reduzierte
Einmalbedarfe vorsah. Damit gelten die Gründe, die nach Auffassung des Bundessozialgerichts zur Anwendbarkeit
des § 44 SGB X auf das 4. Kapitel des SGB XII führen, in gleicher Weise für die Leistungen nach dem
Grundsicherungs-gesetz.
Darüber hinaus folgt, was den Zeitraum vom 29.12.2003 bis zum 30.06.2004 betrifft, die Notwendigkeit einer
Durchbrechung der Bestandskraft der Bescheide vom 05.06.2003 und vom 16.06.2003 bereits aus einer
verfassungskonformen Auslegung der genannten Vorschriften. Am 29.12.2003 legte der Kläger nämlich zum ersten
Mal gegen den Be-scheid vom 16.06.2003, mit dem Grundsicherungsleistungen bis zum 30.06.2004 im Vor-aus
bewilligt worden waren, Widerspruch ein, der wegen seiner Verspätung als Überprü-fungsantrag ausgelegt werden
kann. Eine an Artikel 1 Abs.1 Grundgesetz orientierte Auslegung der genannten Vorschriften kann es nicht zulassen,
dass für einen Bescheid, mit dem über Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein Jahr im Voraus
entschie-den wird, während des gesamten Bewilligungszeitraumes von einem Jahr aufgrund der Bestandskraft dieses
Bescheides nicht einmal ein in die Zukunft gerichteter Überprü-fungsanspruch besteht. Ansonsten könnte sich das
Versäumen der Widerspruchsfrist – aus welchen Gründen auch immer diese erfolgt sein mag – während der
einjährigen Lauf-zeit des Bescheides existenzvernichtend auswirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.