Urteil des SozG Mannheim vom 02.07.2013

schutz der menschenwürde, rechtskräftiges urteil, verfassungskonforme auslegung, restriktive auslegung

SG Mannheim Urteil vom 2.7.2013, S 9 AY 988/13
Asylbewerberleistung - Anspruchseinschränkung - Verfassungsmäßigkeit -
Anwendbarkeit - restriktive Auslegung - Anforderungen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes - Hinweis auf Mitwirkungsobliegenheit und
Rechtsfolgen fehlender Mitwirkung - zeitliche Befristung - Umfang der
Leistungskürzung
Leitsätze
§ 1a AsylbLG ist auch nach der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 anwendbar.
Allerdings müssen hierbei im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung zur
Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowohl in formeller, als auch in
materieller Hinsicht strenge Regularien beachtet werden.
Tenor
1. Unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 25.09.2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 01.03.2013 wird der Beklagte verurteilt, dem Kläger für
die Monate August bis November 2012 zusätzlich zu den bereits bewilligten und
ausgezahlten Leistungen monatlich weitere 133,33 EUR zu gewähren.
2. Der Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach in
voller Höhe zu erstatten.
3. Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit
zugelassen.
Tatbestand
1 Im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom
18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) streiten die Beteiligten um die Frage, ob
der am ... geborene Kläger höhere Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) beanspruchen kann.
2 Der aus Algerien stammende Kläger, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet jetzt nur
noch geduldet wird, bezieht schon seit längerem Leistungen nach dem AsylbLG.
3 Zuletzt bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 25.9.2012 für die
Monate August bis November 2012 in Umsetzung des zitierten Urteils des BVerfG
monatliche Leistungen von jeweils 541,20 EUR. Zur Begründung führte der
Beklagte aus, die Grundleistungen nach § 3 Abs. 1 AsylbLG seien wie zuvor
„gemäß § 1a AsylbLG um die Höhe des Taschengeldes gekürzt“ worden. Somit
setzte sich der monatliche Leistungsbetrag wie folgt zusammen (vgl.
Berechnungsbogen):
4
- Mietkosten:
255,60 EUR
- Heizkosten:
85,00 EUR
- Grundleistungen (§ 3 Abs. 2 AsylbLG):
212,00 EUR
- abzüglich Haushaltsstrom (aus Nebenkosten):
20,00 EUR
- zuzüglich Erhöhung für Mehrbedarf Warmwasser: 8,60 EUR
5 Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 9.10.2012 Widerspruch, denn er
sei „mit der Kürzung des Taschengeldes nicht einverstanden“. Später (Schreiben
vom 21.2.2013) führte der Kläger aus, das BVerfG habe am 18.7.2012 „eindeutig“
festgelegt, dass eine Kürzung der Leistungen „aus migrationspolitischen Gründen“
nicht erfolgen dürfe.
6 Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens teilte das zuständige Ausländeramt mit
(Schriftsatz vom 23.10.2012), dass der Kläger „in keinster Weise bei der
Passbeschaffung“ mitwirke. Er sei „schon bei verschiedenen Botschaften
vorgeführt“ worden, überall sei „das Ergebnis negativ“ gewesen. „Bezüglich des
Kindes“ seien „schon mehrfach Unterlagen wie eine Geburtsurkunde“ und ein
„Sorgerechtsnachweis“ angefordert worden. Auch dies sei „erfolglos“ geblieben.
Stattdessen habe der Kläger immer wieder „beteuert ..., dass er ein Kind“ habe
„und sich darum kümmern möchte“. Entsprechende Nachweise habe er aber nicht
vorgelegt. Später (31.10.2012) teilte das Ausländeramt telefonisch ergänzend mit,
mittlerweile habe der Kläger eine Geburtsurkunde seines Kindes vorgelegt. Es
müsse noch geprüft werden, ob deshalb „ein Abschiebungshindernis“ bestehe.
Nach Aktenlage habe der Kläger aber bislang noch nie einen Antrag gestellt, „um
nach Meiningen (Südthüringen) besuchsweise reisen zu dürfen“.
7 Mit weiteren Bescheiden vom 21.11.2012 und vom 30.1.2013 bewilligte der
Beklagte dem Kläger auch für die Monate Dezember 2012 bis Februar 2013 bzw.
März bis Mai 2013 Leistungen in Höhe von (unverändert) monatlich 541,20 EUR.
In beiden Bescheiden wies der Beklagte darauf hin, über den Widerspruch wegen
der „Taschengeldkürzung“ werde entschieden, sobald das Ausländeramt eine
weitere Anfrage beantwortet habe (Bescheid vom 21.11.2012) bzw. der Kläger
werde wegen dieses Widerspruchs eine „gesonderte Nachricht“ erhalten
(Bescheid vom 30.1.2013).
8 Mit Widerspruchsbescheid vom 1.3.2013 wies der Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück: Der Bescheid vom 25.9.2012 sei rechtmäßig, denn der
Kläger habe bereits vor Jahren einen Asylantrag gestellt und sei vollziehbar
ausreisepflichtig. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet werde nur geduldet. Nach
Auskunft des Ausländeramtes bzw. des zuständigen Regierungspräsidiums habe
er nämlich „trotz mehrfacher Aufforderung ... nicht ausreichend bei der
Passbeschaffung mitgewirkt“. Der Kläger sei schon (erfolglos) „bei verschiedenen
Botschaften vorgeführt“ worden. „Letztlich“ seien „die fehlenden Reisedokumente
ursächlich dafür, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden“
könnten. Dies sei „eindeutig“ auf das Verhalten des Klägers zurückzuführen.
9 Am 21.3.2013 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben und führt aus, er sei
algerische Staatsangehöriger. Da das BVerfG entschieden habe, „dass eine
Kürzung der Mittel zur Wahrung des physischen und soziokulturellen
Existenzminimums aus migrationspolitischen Gründen unzulässig“ sei, sei er mit
der Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG nicht einverstanden. Im Übrigen habe er
seine „Passlosigkeit nicht zu vertreten“, denn er habe sich „immer wieder erfolglos
bemüht, einen Pass zu erhalten“.
10 Sinngemäß beantragt der Kläger somit,
11 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 25.9.2012 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 1.3.2013 zu verurteilen, ihm nach Maßgabe
des Urteils des BVerfG vom 18.7.2012 ungekürzte Leistungen zu gewähren.
12 Der Beklagte tritt der Klage entgegen und beantragt,
13 die Klage abzuweisen.
14 Die streitige Frage, ob § 1a AsylbLG auch nach dem Urteil des BVerfG vom
18.7.2012 weiterhin anzuwenden sei, müsse bejaht werden. Denn das BVerfG
habe in der zitierten Entscheidung lediglich „die Höhe der Grundleistungen gemäß
§ 3 AsylbLG für verfassungs-widrig“ erklärt und nur „diesbezüglich auch
Übergangsregelungen“ angeordnet. Die hier maßgebliche Norm (§ 1a AsylbLG)
sei „nicht Gegenstand des Urteils“, denn der diesem Verfahren zugrunde liegende
Vorlagebeschluss des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen habe sich
nur auf § 3, nicht aber auf § 1a AsylbLG bezogen. Es treffe zwar zu, dass das
BVerfG in seiner Entscheidung ausführe, „dass der Anspruch auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums auch ein Mindestmaß an Teilhabe
am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ umfasse und dass
„migrationspolitische Erwägungen von vornherein ein Absenken des
Leistungsstandards ... nicht rechtfertigen könnten“. Jedoch werde § 1a AsylbLG „in
diesem Bezug mit keiner Silbe erwähnt“. Vor diesem Hintergrund gehe auch das
Integrationsministerium des Landes Baden-Württemberg davon aus, dass § 1a
AsylbLG „weiter anwendbar“ sei. Zusammenfassend stehe somit fest, dass es sich
bei der zitierten Vorschrift weiterhin „um geltendes Recht“ handele und daher „bis
zu einer möglichen Änderung ... durch den Bundesgesetzgeber“ angewendet
werden müsse. Derzeit müsse in diesem Zusammenhang davon ausgegangen
werden, dass eine solche Änderung jedoch gerade nicht beabsichtigt sei, denn
nach dem Referentenentwurf zur (dritten) Änderung des AsylbLG solle § 1a
AsylbLG unverändert bestehen bleiben. Auch dies spreche dafür, dass diese
Norm nicht als verfassungswidrig angesehen werden könne. Im Übrigen stelle „die
fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung ... einen typischen Anwendungsfall“
für § 1a AsylbLG dar. Denn das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verpflichte jeden
Ausländer, „einen gültigen Pass zu besitzen“ (§ 3) und „bei der Passbeschaffung
mitzuwirken“ (§ 82). Ergänzend teilt der Beklagte auf gerichtliche Anfrage vom
4.4.2013 mit, die Ersteinreise des Klägers ins Bundesgebiet sei am 3.4.1997
erfolgt. Nach Abschluss seines Asylverfahrens sei der Kläger seit dem 26.6.1999
ausreisepflichtig. Durch das Ausländeramt seien bislang folgende Bemühungen
unternommen worden, den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet zu beenden:
15 9.8.1998 Passverfügung mit einmonatiger Frist, keine Reaktion des Klägers
26.6.2000 gescheiterte Sammelanhörung vor dem algerischen Generalkonsulat,
Kläger unter seiner Anschrift nicht angetroffen
20.5.2003 Sammelanhörung des Klägers vor dem algerischen Generalkonsulat
erneut gescheitert, da die Justizvollzugsanstalt (JVA) irrtümlich
mitgeteilt hatte, der Kläger sei entlassen worden
16.6.2003 Antrag auf Ausstellung eines Passersatzpapiers beim tunesischen
Konsulat, nachfolgende Mitteilung des tunesischen Konsulats, der
Kläger sei den tunesischen Behörden unbekannt (19.8.2003)
12.4.2005 Sammelvorführung vor dem algerischen Generalkonsulat, Behauptung
des Klägers, er stamme aus Tunesien
16.2.2006 Vorführung des Klägers bei der Botschaft von Marokko, ohne Ergebnis
9.5.2006 erneuter Antrag auf Ausstellung eines Passersatzpapiers beim
tunesischen Konsulat, nachfolgende telefonische Mitteilung des
tunesischen Konsulats, der Kläger könne nicht als tunesischer
Staatsangehöriger identifiziert werden
6.9.2006 erneute Vorführung des Klägers beim algerischen Generalkonsulat,
aufgrund einer vom Kläger vorgelegten Vaterschaftsanerkennung sei
vermutet worden, dass der Kläger aus Marokko stamme, daher hätten
die Angaben des Klägers von Algerien nicht überprüft werden können
20.9.2006 nochmalige erfolglose Überprüfung der Angaben durch das tunesische
Konsulat
13.4.2010 erneute Vorführung bei der Botschaft von Marokko, ohne Erfolg
14.8.2012 gutachterliche Durchführung einer Sprach- und Textanalyse, der
Kläger stamme mit einiger Wahrscheinlichkeit aus Algerien
16 In diesem Zusammenhang müsse daher zusammenfassend beachtet werden,
dass der Kläger im Rahmen des Asylverfahrens angegeben habe, aus Algerien zu
stammen. Er habe jedoch keine Identitätspapiere vorgelegt und auch später – wie
ausgeführt – bei der Klärung der Staatsangehörigkeit nicht ausreichend mitgewirkt.
So habe er sich am 16.6.2003 sogar geweigert, einen Passantrag auszufüllen. Vor
diesem Hintergrund werde der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet lediglich
geduldet. Bis zum 30.11.2000 habe der Kläger Grundleistungen nach § 3 AsylbLG
erhalten. Seither erhalte er nur noch abgesenkte Leistungen nach § 1a AsylbLG
(unterbrochen durch Haftzeiten vom 13.6.2002 bis zum 13.2.2004 und vom
25.5.2010 bis zum 20.5.2011).
17 Aus den vorgelegten Unterlagen der Ausländerakte ist ersichtlich, dass der Kläger
zwischenzeitlich mit bestandskräftiger Verfügung vom 5.3.2013 aus der
Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden ist (hierzu Urteil des
Verwaltungsgerichts [VG] Karlsruhe vom 24.6.2013). Denn der Kläger sei durch
rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Heidelberg vom 2.12.2002 (1 Ls 44 Js
11189/2002) wegen Delikten nach dem Betäubungsmittelgesetz (BTMG) zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 1 ½ Jahren (ohne Bewährung) verurteilt worden.
18 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die dem
Gericht vorliegende Verwaltungsakte des Beklagten und auf die Prozessakte
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
19 Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und
Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG) zulässig. Das notwendige Vorverfahren (§ 78
SGG) ist in Bezug auf den Bescheid vom 25.9.2012 durchgeführt worden
(Widerspruchsbescheid vom 1.3.2013). Die einmonatige Klagefrist (§ 87 SGG) ist
gewahrt.
20 Die Bescheide vom 21.11.2012 und vom 30.1.2013 sind nicht nach §§ 86 bzw. 96
SGG in das Widerspruchs- und Klageverfahren einbezogen worden. Denn der
Regelungsgehalt des primär angefochtenen Bescheides vom 25.9.2012 erstreckt
sich auf die Zeit von August bis November 2012 während die oben genannten
Bescheide in zeitlicher Hinsicht neue Bewilligungsabschnitte betreffen.
21 Im Übrigen richtet sich die Klage zutreffenderweise gegen den Beklagten, der als
untere Verwaltungsbehörde die Leistungen nach dem AsylbLG ausführt (vgl.
hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.7.2012 - L 7 AY 5804/10).
II.
22 Die Klage ist begründet, denn die durch die in dem angefochtenen Bescheid
verfügte – auf § 1a AsylbLG beruhende – Leistungsabsenkung ist rechtswidrig
und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
23 Im Einzelnen:
24 Die zitierte Vorschrift sieht vor, dass Leistungsberechtigte, bei denen aus von
ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht
vollzogen werden können, Leistungen nur erhalten, soweit dies im Einzelfall nach
den Umständen unabweisbar geboten ist.
25 Selbst wenn zulasten des Klägers unterstellt wird, dass dieser Tatbestand
verwirklicht ist, müssen bei Auslegung dieser Vorschrift die Konsequenzen
bedacht werden, die sich aus dem Urteil des BVerfG vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10
und 1 BvL 2/11) ergeben. Zwar hat das BVerfG in dieser Entscheidung „nur“ die
Grund- bzw. Geldleistungen nach § 3 AsylbLG für verfassungswidrig erklärt und
insoweit (zum 1.1.2011) in Orientierung an den Leistungssätzen nach dem SGB II
bzw. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) eine Übergangsregelung
getroffen. Insoweit ist dem Beklagten darin Recht zu geben, dass diese
Entscheidung des BVerfG für § 1a AsylbLG keine unmittelbare Geltung
beanspruchen kann. Auf der anderen Seite hat das BVerfG jedoch deutlich
herausgestellt, dass auch Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG an dem von
Verfassungs wegen garantierten physischen und soziokulturellen
Existenzminimum teilhaben und am Schluss der Entscheidungsgründe beiläufig
festgestellt, dass „migrationspolitische Erwägungen“ nicht geeignet sind, eine
Unterschreitung dieses Existenzminimums zu rechtfertigen. Der Schutz der
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz - GG) und das Sozialstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG) können somit durch die Erwägung, durch
ein niedrigeres Leistungsniveau ausländische Zuwanderer abzuschrecken, nicht
relativiert werden. Vor diesem Hintergrund kann nach Auffassung des Gerichts an
der bisherigen Anwendung bzw. Auslegung von § 1a AsylbLG nicht mehr ohne
Modifikationen festgehalten werden. Vielmehr ist zumindest auf Rechtsfolgenseite
eine verfassungskonforme Auslegung der in § 1a enthaltenen unbestimmten
Rechtsbegriffe (Leistungsabsenkung auf das „unabweisbar gebotene“)
erforderlich, die folgende Gesichtspunkte berücksichtigt (vgl. hierzu ausführlich:
juris-PK, § 1a AsylbLG Rdnrn. 78 ff.):
26 Eine vollständige Versagung oder die komplette Einstellung der Leistungen nach
dem AsylbLG scheidet somit von vornherein aus. Dies gilt zweifelsohne zumindest
für diejenigen Leistungen, die für die Sicherung der physischen Existenz bestimmt
sind. Aber auch im Rahmen des soziokulturellen Existenzminimums kommt nach
der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) eine
vollständige Leistungsversagung auf Basis von § 1a AsylbLG nicht mehr in
Betracht (SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 - S 17 AY 81/12 ER). Denn
das BVerfG unterstellt ausdrücklich auch das soziokulturelle Existenzminimum
dem Grundrechtsschutz und verweist insoweit in Ziffer 2 b) seines Urteilstenors
ausdrücklich auch auf die dem „Taschengeld“ (§ 3 Abs. 1 Satz 4 Nrn. 1 und 2
AsylbLG) zugewiesenen Bedarfspositionen „Verkehr“, „Nachrichtenübermittlung“,
„Freizeit, Unterhaltung, Kultur“, „Bildung“, „Beherbergungs- und
Gaststättendienstleistungen“ sowie „andere Waren und Dienstleistungen“
(Abteilungen 7-12 RBEG). Daher muss im Rahmen einer grundrechtsorientierten
Auslegung (hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.4.2013 - L 20 AY
153/12 B, zuletzt auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27.3.2013 - L 3 AY
2/13 B ER) sichergestellt werden, dass den Betroffenen Leistungsbeziehern auch
bei Verwirklichung des Tatbestands von § 1a AsylbLG wenigstens ein
Mindestmaß bzw. ein Kernbestand des soziokulturellen Existenzminimums
erhalten bleibt. Diesem Erfordernis wird die bisherige, recht pauschale Anwendung
von § 1a AsylbLG nicht gerecht. Aufgrund der Gesetzesbindung der Verwaltung
(Art. 20 Abs. 3 GG bzw. § 31 Sozialgesetzbuch I - SGB I) geht das Gericht jedoch
nicht so weit, § 1a AsylbLG bis zu einer gesetzlichen Neuregelung für nicht mehr
anwendbar zu erklären (so aber bspw. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom
6.2.2013 - L 15 AY 2/13 B ER). Daher ist § 1a AsylbLG auf Rechtsfolgenseite
nunmehr grundsätzlich sehr eng auszulegen, damit gewährleistet wird, dass
Leistungsbezieher nach dem AsylbLG nicht schlechter gestellt werden als
Hilfeempfänger nach dem SGB II oder dem SGB XII (hierzu SG Stade, Beschluss
vom 5.3.2013 - S 33 AY 53/12 ER sowie SG Hildesheim, Beschluss vom
27.12.2012 - S 42 AY 9/12 ER), wobei besonders zu beachten ist, dass die
genannte Vorschrift letztlich darauf abzielt, ausländerrechtliches Fehlverhalten zu
sanktionieren (diesen Gesichtspunkt betont besonders das Bayerische LSG,
Beschlüsse vom 24.1.2013 - L 8 AY 5/12 ER, L 8 AY 2/12 B ER und L 8 AY 4/12 B
ER). Hierfür dienen aber in erster Linie die Mechanismen des Ausländerrechts.
Zwar verpflichten der Schutz der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip die
Bundesrepublik Deutschland nicht zur Gewährleistung einer
bedarfsunabhängigen und voraussetzungslosen Fürsorge, so dass der
Leistungsbezug durchaus an bestimmte Mitwirkungshandlungen bzw. an
bestimmte Obliegenheiten der hilfebedürftigen Personen anknüpfen und bei deren
Nichterfüllung auch Sanktionen vorsehen darf (vgl. hierzu SG Landshut,
Beschluss vom 7.5.2012 - S 10 AS 259/12 ER). In jedem Fall muss aber zwischen
dem sanktionierten Verhalten und der verhängten Sanktion ein angemessenes
Verhältnis bestehen. Darüber hinaus muss für den betroffenen Bürger vor
Verhängung der Sanktion erkennbar sein, welches Verhalten von ihm erwartet
wird. Ferner muss er vor Verhängung der Sanktion Gelegenheit haben, sich zu
äußern. In Orientierung an die entsprechenden Normen des SGB II (§ 31) und des
SGB XII (§§ 23 Abs. 3, 26, 41 Abs. 4) ist daher aufgrund der Entscheidung des
BVerfG vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) eine Leistungsabsenkung
nach § 1a AsylbLG verfassungsrechtlich nur noch dann unbedenklich, wenn der
betreffende Ausländer zuvor konkret darüber informiert worden ist, welche
Mitwirkungshandlung von ihm erwartet wird. Darüber hinaus ist es erforderlich,
dass er zuvor über die Folgen eines obliegenheitswidrigen Fehlverhaltens konkret
belehrt worden ist. Ferner ist die Leistungsabsenkung zur Wahrung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur zeitlich befristet, nicht aber unbefristet
möglich. Schließlich ist die zuständige Behörde gehalten, im Rahmen einer
umfassenden Abwägung festzulegen, um welchen Bruchteil die Leistungen
abgesenkt werden sollen. Als Orientierung kann hierbei dienen, dass in der Regel
nur eine Leistungsabsenkung um etwa 20-30 % erfolgen darf. Ferner dürfte es
geboten sein, dass sich die Sozialbehörde bei Beantwortung der Frage, ob der
Tatbestand von § 1a AsylbLG verwirklicht ist, nicht lediglich an einer schlichten
Mitteilung der Ausländerbehörde orientiert, sondern dies eigenständig überprüft
(hierzu Bayerisches LSG, Beschlüsse vom 24.1.2013 - L 8 AY 5/12 ER, L 8 AY
2/12 B ER und L 8 AY 4/12 B ER).
27 Diesen Anforderungen wird der angefochtene Bescheide in keinster Weise
gerecht, denn der Beklagte hat den Kläger zuvor weder hinreichend konkretisiert
auf seine (ausländerrechtlichen) Mitwirkungsobliegenheit hingewiesen, noch ihn
über die eintretenden Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung dieser Obliegenheiten
informiert. Darüber hinaus ist auch eine eigenständige Sachverhaltsfeststellung
durch den Beklagten nicht erkennbar. Schließlich hat der Beklagte den
Leistungsteil, der für die Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums
vorgesehen ist, zumindest faktisch dauerhaft vollständig gestrichen.
28 Vor diesem Hintergrund ist die Klage vom 1.2.2013 erfolgreich, wobei sich dies
jedoch in Anlehnung an den zeitlichen Geltungsbereich der angefochtenen
Bescheide lediglich auf die Monate August 2012 bis einschließlich Januar 2013
bezieht.
29 In Umsetzung dieses Urteils kann der Kläger somit für die Monate August 2012 bis
November 2012 die Nachzahlung derjenigen Beträge verlangen, die nach dem
RBEG (§ 5) auf die Abteilungen 7 bis 12 des RBEG entfallen. Dies sind – für das
Kalenderjahr 2012 dynamisiert um den Steigerungsfaktor der Regelleistung
gegenüber dem Basisjahr 2011 (+ 2,75%) – monatlich 133,33 EUR .
IV.
30 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen wird der Beklagte nach
Auffassung des Gerichts vor bzw. bei einer zukünftigen Sanktionierung auf Basis
von § 1a AsylbLG folgendes zu beachten haben:
31 Unter Beteiligung des zuständigen Ausländeramtes sollte der Beklagte konkret
und präzise festlegen, welche Mitwirkungsobliegenheiten der Kläger zu erbringen
hat. An erster Stelle sollte dem Kläger daher aufgegeben werden,
unmissverständlich klarzustellen, welche Staatsangehörigkeit er innehat. Seine
bisherigen Angaben hierzu sind nämlich unklar bzw. widersprüchlich.
Insbesondere das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung, er sei „Polisario“, ist
in diesem Zusammenhang vollkommen unzureichend. Denn die „Polisario“ stellt –
nach einer Internet-Recherche – eine politische bzw. militärische Organisation dar,
die geografisch der Sahara-Region zuzuordnen ist und keinen Rückschluss auf
eine bestimmte Staatsangehörigkeit erlaubt. Vor diesem Hintergrund wird es
Sache des Klägers sein, nach entsprechender Aufforderung durch den Beklagten,
gegebenenfalls in Form einer eidesstattlichen Versicherung, rechtsverbindliche
und klare Angaben zu seiner Staatsangehörigkeit zu machen. Sodann wird der
Beklagte vom Kläger verlangen können, dass er alle ihm möglichen und
zumutbaren Handlungen unternimmt, um ein Reisedokument dieses Staates zu
erlangen. Naturgemäß dürfen dabei vom Kläger jedoch nur solche Handlungen
verlangt werden, bei deren Erfüllung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit der
Erteilung der notwendigen Papiere gerechnet werden kann. In diesem
Zusammenhang dürfte es daher geboten sein, zur Klärung dieses Gesichtspunkts
die zuständige Länder-Abteilung des Auswärtigen Amts einzuschalten, damit
gewährleistet ist, dass vom Kläger keine sinnlosen bzw. von vornherein zum
Scheitern verurteilten Mitwirkungshandlungen gefordert werden. Die hiernach
geeigneten und erfolgversprechenden Mitwirkungshandlungen sollten dem Kläger
im Vorfeld – gegebenenfalls unter Fristsetzung – mitgeteilt werden. Darüber
hinaus sollte dem Kläger – ebenfalls im Vorfeld – mitgeteilt werden, welche
Sanktion verhängt werden wird, wenn er diesen Obliegenheiten nicht nachkommt.
In diesem Zusammenhang dürfte zumindest auf einer ersten Stufe eine
vollständige Versagung des „Taschengeldes“ unverhältnismäßig sein. Im Übrigen
könnte es geboten sein, dass der Beklagte – wiederum unter Beteiligung des
Ausländeramtes – überwacht, ob der Kläger den gebotenen
Mitwirkungsobliegenheiten nachkommt. Um die Ernsthaftigkeit der Bemühungen
des Klägers beurteilen zu können, könnte es in diesem Zusammenhang –
wenigstens zu Beweiszwecken – in Betracht kommen, dass der Kläger bei der
Vorsprache auf den ausländischen Behörden (Konsulat oder Botschaft) von
Mitarbeitern des Beklagten bzw. des Ausländeramtes begleitet wird. Sollte der
Kläger hiernach nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit bei der Beschaffung eines
Reisedokuments mitwirken, wäre - nach vorheriger Anhörung - eine erste
Sanktionierung auf Basis von § 1a AsylbLG nach Auffassung des Gerichts
(teilweise befristete Streichung des Taschengeldes) gegebenenfalls gerechtfertigt.
Vor einer zweiten bzw. weiteren Sanktionierung wäre der Beklagte jedoch
gehalten, dem Kläger unmissverständlich klarzumachen, dass er weiterhin
gehalten ist, die von ihm geforderten, hinreichend konkret und präzise
bezeichneten, erfolgversprechenden Mitwirkungsobliegenheiten zu erfüllen und
welche erneute Sanktion bei Fortsetzung des Verhaltens beabsichtigt ist. Sollte
der Kläger sein Verhalten sodann auch weiterhin fortsetzen, käme (stufenweise) -
nach erneuter Anhörung - eine weitere (stärkere und länger befristete) Absenkung
seines „Taschengeldes“ in Betracht. Nur bei hartnäckigem und anhaltendem
Fehlverhalten des Klägers könnte unter Umständen - wiederum nach Anhörung -
sodann auch eine vollständige Streichung des „Taschengeldes“ über einen
längeren Zeitraum erfolgen. Die Einhaltung dieser Vorgaben ist zur Wahrung des
verfassungsrechtlich verankerten Übermaßverbots und zur Gewährleistung des
auch dem Kläger zustehenden auf dem Schutz der Menschenwürde beruhenden
sozialstaatlichen Existenzminimums unerlässlich. Dabei ist unerheblich, dass der
Kläger in der Vergangenheit schon über einen längeren Zeitraum lediglich
abgesenkte Leistungen nach § 1a AsylbLG bezogen hat. Denn das Urteil des
BVerfG vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10 und 2/11) und die hieraus abgeleiteten
verfassungsrechtlich verbürgten Anforderungen an eine einschränkende
Auslegung der zitierten Norm bewirken eine „Zäsur“: Die den obigen Vorgaben
innewohnende „Warnfunktion“ kommt daher auch dem Kläger zugute. Auch er
kann daher beanspruchen, dass künftig bei weiteren Sanktionen der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit strikt eingehalten wird. Im Übrigen spricht viel dafür, dass
schon die in der Vergangenheit gegen den Kläger verfügten Sanktionen nach § 1a
AsylbLG rechtswidrig gewesen sind. Daher wäre es treuwidrig, wenn sich der
Beklagte den obigen Anforderungen jetzt mit dem Hinweis entziehen könnte, dem
Kläger sei durch das frühere Verwaltungshandeln doch schon längst klar, was von
ihm gefordert werde.
V.
32 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den
Prozesserfolg des Klägers. Die Zulassung der Berufung ist dem Umstand
geschuldet, dass einerseits die Berufungssumme von 750,00 EUR nicht erreicht
wird (§ 144 Abs. 1 Satz 1 SGG), auf der anderen Seite aber die höchstrichterliche
Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage zur Anwendung von § 1a AsylbLG von
grundsätzlicher Bedeutung ist (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).