Urteil des SozG Mannheim vom 19.01.2011

SozG Mannheim: arbeitslosigkeit, soziale sicherheit, zuschuss, beendigung, arbeitsmarkt, bedrohung, eingliederung, form, betriebsrat, verfügung

SG Mannheim Urteil vom 19.1.2011, S 14 AL 1523/09
Förderung von Transfermaßnahmen - Bedrohung durch Arbeitslosigkeit - Modell "sanierender Übergang" gem Rechtsprechung des BAG -
Vermeidung eines Betriebsübergangs
Leitsätze
1. Haben Arbeitnehmer im Rahmen des BAG-Modells "sanierender Übergang" einen sogenannten 3-seitigen-Vertrag abgeschlossen, sind sie von
Arbeitslosigkeit bedroht und haben dem Grunde nach Anspruch auf die Förderung von Transfermaßnahmen gem. § 216a SGB III.
2. § 216a SGB III sanierungsfreundlich auszulegen.
3. Bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals "von Arbeitslosigkeit bedroht" im Rahmen des § 216 SGB III ist auf die Sicht des Arbeitnehmers
abzustellen.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 17.07.08 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.08 und der Bescheid vom 23.10.2008 werden
abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 100.400,00 EUR zu zahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Förderung einer Transfermaßnahme für Arbeitnehmer.
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Der Kläger wurde mit Beschluss des Amtsgerichts – Insolvenzgericht – Bonn vom 01.04.2007 (Az. 95 IN 8/07) zum Insolvenzverwalter des
Automobilzulieferers I. mit Sitz in B. (nachfolgende „Insolvenzbetrieb“) bestellt.
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Zum 01.06.2008 wurde der Insolvenzbetrieb durch die N. mbH („Betriebsmittelerwerber“) übernommen. Die Übernahme gestaltete sich wie folgt:
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Der Betriebsmittelerwerber machte die vorherige Beendigung der Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten, verbunden mit dem Übertritt in eine
Transfergesellschaft, zur Bedingung der Übernahme der Betriebsmittel, da aus Sicht des Betriebsmittelerwerbers die Fortführung des Betriebs mit
der gesamten Belegschaft und deshalb auch der Eintritt in alle Arbeitsverhältnisse gem. § 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht möglich
war.
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Dieses Ziel wurde durch folgende Maßnahmen erreicht:
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Zunächst wurde am 28.04.2008 eine Betriebsvereinbarung über die Schaffung von Auffangstrukturen für den Betrieb B. zwischen dem
Insolvenzbetrieb, dem beigeladenen Betriebsrat und der Industriegewerkschaft Metall geschlossen. Hierin wurde vereinbart, dass mit den
Beschäftigten ein so genannter 3-seitiger Vertrag geschlossen werden soll, um eine „sanierende Übertragung“ des Betriebs im Sinne der
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, 10.12.1998, 8 AZR 324/97; 23.11.2006, 8 AZR 349/06) zu ermöglichen. Für den Fall, dass ein
Beschäftigter den 3-seitigen Vertrag nicht abschließt, wurde vereinbart, dass der Insolvenzbetrieb berechtigt ist, das entsprechende
Arbeitsverhältnis durch betriebsbedingte Kündigung zu beenden. Aus diesem Grund wurde eine Kündigungsnamensliste im Sinne des § 125
Insolvenzordnung (InsO) aufgestellt. Zugleich kamen die Vereinbarungsparteien überein, dass betriebsorganisatorisch eigenständige Einheiten
(„beE“) geschaffen werden sollen. Die erste beE wurde ab dem 01.06.2008 im Rahmen der Transfergesellschaft M. GmbH
(„Transfergesellschaft“) eingerichtet. Die beE endete mit Ablauf des 31.05.2009.
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Die mit den Beschäftigten abgeschlossenen 3-seitigen Verträge hatten zum Inhalt, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Insolvenzbetrieb zum
31.05.2008, 24 Uhr endete. Zugleich wurde vereinbart, dass mit Wirkung zum 01.06.2008, 0 Uhr ein Wechsel in ein befristetes Arbeitsverhältnis
mit der beE stattfand. Das Arbeitsverhältnis mit der beE endete am 31.05.2009. Das Arbeitsverhältnis endete u.a. auch dann, wenn zwischen
dem Beschäftigten und dem Betriebsmittelerwerber ein Arbeitsverhältnis zustande kam. Weiter wurde vereinbart, dass während des gesamten
Arbeitsverhältnisses mit der beE „Kurzarbeit Null“ gem. § 216b SGB III gearbeitet werde. Das Transferkurzarbeitergeld („TKuG“) wurde von der
beE auf 90 % des Nettoarbeitsentgelts aufgestockt.
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Voraussetzung für die Gewährung von TKuG ist gem. § 216b Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 216b Abs. 4 Nr. 4 SGB III indes, dass der Arbeitnehmer vor der
Überleitung in die betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit aus Anlass der Betriebsänderung an einer arbeitsmarktlich zweckmäßigen
Maßnahme zur Feststellung der Eingliederungsaussichten teilgenommen hat. Gemeint sind hier Transfermaßnahmen gem. § 216a SGB III (z.B.
Profilingmaßnahmen). Eine solche Profilingmaßnahme führte die B.-GmbH, ausweislich der Rechnung vom 17.06.2008, zwischen 23.04.2008
und 21.05.2008 für den Insolvenzbetrieb zum Preis von insgesamt 339.864 EUR (285.600 EUR zzgl. 19% Ust.) durch.
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Am 21.04.2008 beantragte der Insolvenzbetrieb bei der Beklagten die Förderung der Transfermaßnahme für 1524 Arbeitnehmer in Höhe von
154.200 EUR.
10 Mit Bescheid vom 17.07.2008 bewilligte die Beklagte dem Insolvenzbetrieb eine Förderung für 425 Arbeitnehmer. Für die übrigen Arbeitnehmer
sei eine Förderung nicht möglich, da diese nicht von Arbeitslosigkeit bedroht seien. Der Abschluss eines 3-seitigen Vertrags mit der
Transfergesellschaft für einen Tag sei dabei unerheblich. Der Zuschuss sei nach Abschluss der Maßnahme gesondert zu beantragen.
11 Mit Schreiben vom 04.08.2008 legte der Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Zum Zeitpunkt der Antragstellung und Durchführung
der Maßnahmen seien sämtliche Arbeitnehmer vor dem Hintergrund der betrieblichen Vereinbarungen und der daraufhin abgeschlossenen 3-
seitigen Verträge sowie im Zusammenhang mit der vereinbarten Kündigungsnamensliste und der ansonsten durchzuführenden Stilllegung des
Unternehmens von Arbeitslosigkeit bedroht gewesen. Stelle man auf den einzelnen Arbeitnehmer ab, sei dieser auch voraussichtlich nach
Beendigung der Beschäftigung beim Insolvenzbetrieb zum 31.05.2008 arbeitslos gewesen, da kein Arbeitnehmer vor dem 01.06.2008 mit dem
Betriebsmittelerwerber ein Arbeitsverhältnis ab dem 01.06.2008 eingegangen sei. Faktisch seien die Arbeitnehmer am 01.06.2008, 0 Uhr
arbeitslos gewesen. Erst im Laufe des 01.06.2008 seien die Arbeitnehmer, die an Transfermaßnahmen im Sinne des § 216a SGB III
teilgenommen hätten, bei dem Betriebsmittelerwerber eingestellt worden. Damit sei die faktische Arbeitslosigkeit rückwirkend beseitigt worden.
Im Übrigen entspreche es dem Zweck der Transferleistungen gemäß § 216a SGB III, dass Arbeitnehmer nach Durchführung der
Transfermaßnahmen neue Arbeitsverhältnisse eingehen würden. Dies könne nicht zum Wegfall des Anspruchs nach § 216a SGB III führen.
12 Mit Widerspruchsbescheid vom 14.10.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Kl. als unbegründet zurück. Insgesamt seien 346
Arbeitnehmer mit einem befristeten Vertrag unterschiedlicher Dauer vom Betriebsmittelerwerber übernommen worden. Diese Arbeitnehmer
würden als von Arbeitslosigkeit bedroht gelten. Ferner seien am 01.06.2008 weitere 79 Arbeitnehmer in die Transfergesellschaft gewechselt.
Auch diese Arbeitnehmer seien von Arbeitslosigkeit bedroht gewesen und könnten in die Förderung einbezogen werden. Somit sei für insgesamt
425 Arbeitnehmer eine Förderung gemäß § 216 a SGB III möglich gewesen. Für die übrigen Arbeitnehmer könne der gesetzliche Begriff der
Bedrohung von Arbeitslosigkeit keine Anwendung finden. Hieran würden auch die Aufhebungsverträge zum 31.05.2008 nichts ändern. Aufgrund
der unternehmerischen Entscheidung des Betriebsmittelerwerbers zur stufenweisen Einschränkung des Betriebes oder von wesentlichen Teilen
desselben, könnten nur die davon betroffenen Arbeitnehmer als von Arbeitslosigkeit bedroht im Sinne des § 216a Abs. 1 Satz 1 SGB III
angesehen werden.
13 Mit Bescheid vom 23.10.2008 bewilligte die Beklagte dem Kläger einen Gesamtzuschuss zur Transfermaßnahmen in Höhe von 42.200 EUR. Die
Voraussetzungen für die Gewährung des Zuschusses seien gemäß Bescheid vom 17.07.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
14.10.2008 nur für 425 Arbeitnehmer erfüllt. Für die zu diesem Personenkreis gehörenden Arbeitnehmer M., N. und H. sei kein Zuschuss
beantragt worden. Insofern werde der Zuschuss nur für 422 Arbeitnehmer ausgezahlt. Gegen diesen Bescheid legte der Kl. mit Schreiben vom
10.11.2008 Widerspruch ein. Aufgrund des gerichtlichen Verfahrens brachte die Beklagte das Widerspruchsverfahren diesbezüglich einseitig
zum ruhen.
14 Mit seiner am 14.11.2008 zum Sozialgericht Mannheim erhobenen Klage verfolgt der Kl. sein Begehren fort. Er wiederholt sein Vorbringen aus
dem Vorverfahren und ergänzt dahingehend, dass für insgesamt 1.428 Arbeitnehmer ein Profiling durchgeführt worden sei. Die
Maßnahmekosten würden sich insgesamt auf 285.600 EUR netto belaufen. 50 % hiervon würden einen Betrag von 142.800 EUR netto ergeben.
Dieser Betrag sei um den bereits von der Beklagten gezahlten Zuschuss in Höhe von 42.200 EUR zu reduzieren, sodass sich eine
Klageforderung in Höhe von 100.600 EUR ergebe.
15 Der Kläger beantragt,
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1. den Bescheid der Beklagten vom 17.07.2008 zum Umfang der Förderung von Transfermaßnahmen nach § 216a SGB III und der
Widerspruchsbescheid vom 14.10.2008 werden aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verurteilt, an ihn einen Betrag in Höhe von 100.600 EUR zu bezahlen.
18 Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
20 Sie legt die Verwaltungsakten vor und verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Nur 425 Arbeitnehmer seien von
Arbeitslosigkeit bedroht gewesen.
21 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf den Inhalt SG-Akte Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe
I.
22 Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen
den Kläger in seinen Rechten. Die Leistungsklage war in Höhe von 100.400 EUR begründet.
23 Die Kammer konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten diesem
Vorgehen zugestimmt haben.
24 Der Bescheid vom 23.10.2008 wurde gemäß § 86 SGG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, da er vor Klageerhebung jedoch nach Erlass
des Widerspruchsbescheids ergangen ist (vgl. insoweit BSGE 47, 28, 30 f).Der Bescheid vom 23.10.2008 erging zur Regelung desselben
Rechtsverhältnisses und überschnitt sich in seinen Wirkungen mit dem Bescheid vom 17.07.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
14.10.2008.
II.
25 Der Entscheidung war § 216a SGB III in der Fassung des Gesetzes vom 24.10.2010 (BGBl. I, S. 1417) zugrundezulegen. Gemäß § 216a SGB III
wird die Teilnahme von Arbeitnehmern, die aufgrund von Betriebsänderungen oder im Anschluss an die Beendigung eines
Berufsausbildungsverhältnisses von Arbeitslosigkeit bedroht sind an Transfermaßnahmen gefördert, wenn
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1. sich die Betriebsparteien im Vorfeld der Entscheidung über die Einführung von Transfermaßnahmen, insbesondere im Rahmen ihrer Verhandlung über
einen die Integration der Arbeitnehmer fördernden Interessensausgleich oder Sozialplan nach § 112 Betriebsverfassungsgesetz, durch die Agentur für Arbeit
beraten lassen,
2. die Maßnahme von einem Dritten durchgeführt wird,
3. die vorgesehene Maßnahme der Eingliederung der Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt dienen soll,
4. die Durchführung der Maßnahme gesichert ist und
5. ein System zur Sicherung der Qualität angewendet wird.
27 Unter Transfermaßnahmen versteht das Gesetz alle Maßnahmen zur Eingliederung von Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt, an deren
Finanzierung sich die Arbeitgeber angemessen beteiligen (vgl. § 216a Abs. 1 Satz 2 SGB III).
28 Unter einer Betriebsänderung im Sinne des § 216a Abs. 1 Satz 1 SGB III ist gemäß § 216a Abs. 1 Satz 3 SGB III eine Betriebsänderung im Sinne
des § 111 des Betriebsverfassungsgesetzes unabhängig von der Unternehmensgröße und der Anwendbarkeit des Betriebsverfassungsgesetzes
im jeweiligen Betrieb zu verstehen.
29 1. Im Falle des Insolvenzbetriebs lag eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 Betriebsverfassungsgesetz vor. Ein Personalabbau im
Großbetrieb (ab 600 Arbeitnehmern) wird vom Bundesarbeitsgericht dann als Betriebseinschränkung qualifiziert, wenn mindestens 5 % der
Gesamtbelegschaft betroffen ist. Bei 1542 Beschäftigten vor Durchführung der Betriebsänderung wird diese Mindestzahl (78 Arbeitnehmer) durch
den stufenweisen Abbau von 425 Arbeitsplätzen deutlich übertroffen. Desweiteren ist erforderlich, dass die Verringerung der Personalstärken auf
einer einheitlichen unternehmerischen Entscheidung beruht (vgl. Gillen/Vahle, NZA 2005 S. 1385, 1387). Diese einheitliche unternehmerische
Entscheidung wurde durch den Insolvenzbetrieb getroffen und in der Betriebsvereinbarung „Auffangstrukturen“ dokumentiert. In qualitativer
Hinsicht ist erforderlich, dass grundsätzlich die Betriebseinschränkung durch Personalabbau ihrer Definition nach einer Herabsetzung der
betrieblichen Leistungsfähigkeit voraussetzt, wobei dies keine zwingende Voraussetzung ist, wenn der Personalabbau z. B. durch einen
effizienteren Einsatz von Technik ausgeglichen werden kann. Vorliegend wird diese Voraussetzung dadurch erfüllt, dass - ausweislich der
Verwaltungsakte - durch Investitionen in Millionenhöhe in ein neues Presswerk und in eine effizientere Logistik der Personalabbau ausgeglichen
wird.
30 2. Die Voraussetzungen des § 216a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 5 SGB III sind erfüllt. Ausweislich des Inhalts der Verwaltungsakte ließen sich die
Betriebsparteien im Vorfeld der Entscheidung durch die Beklagte beraten. Die Maßnahme wurde durch die B. GmbH, also einen Dritten,
durchgeführt. Die Profilingmaßnahme ist auch geeignet, die Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Die Durchführung der
Transfermaßnahme war gesichert. Die B. GmbH bestätigte der Beklagten mit Schreiben vom 19.04.2008, dass die notwendigen
Voraussetzungen für die Durchführung des Profilings in räumlicher und personeller Hinsicht vorliegen und bis zum Ende der geplanten
Eingliederungsmaßnahme aufrecht erhalten werden. Ebenso wurde ein System zur Sicherung der Qualität angewendet. Der Kläger hat sich in
Ziffer 10 des Antrags auf Förderung der Teilnahme an Transfermaßnahmen verpflichtet, die Ergebnisse der Maßnahme zur Feststellung der
Eingliederungsaussichten anhand des vorgegebenen Profilingbogens der Beklagten unverzüglich nach Abschluss dieser Maßnahme zur
Verfügung zu stellen und die vorliegenden Erkenntnisse mit dem Erfolg der Maßnahme in einem Erfahrungsbericht darzustellen und der
Beklagten zu übersenden. Dies ist zur Anerkennung eines Systems zur Sicherung der Qualität ausreichend (vgl. Bepler, in: Gagel, § 216a SGB III
Rnr. 62 f; ausführlich Zabel/Bohnenkamp/Fieber/Bade, Soziale Sicherheit 2009, S. 307 ff.).
31 3. Insgesamt waren 1542 Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit bedroht. Was unter der Bedrohung von Arbeitslosigkeit zu verstehen ist, bestimmt §
17 SGB III allgemein. Von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer sind hiernach Personen, die
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1. versicherungspflichtig beschäftigt sind,
2. alsbald mit der Beendigung der Beschäftigung rechnen müssen und
3. voraussichtlich nach Beendigung der Beschäftigung arbeitslos werden.
33 Dem BSG (30.03.1994, 11 RAr 95/92) folgend, muss ein Arbeitnehmer „alsbald mit der Beendigung der Beschäftigung rechnen“, wenn ein
konkreter Arbeitnehmer mit einiger Wahrscheinlichkeit in nächster Zeit erwarten muss, dass er arbeitslos wird. Hiervon ist etwa dann
auszugehen, wenn der Arbeitnehmer in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis steht und der Arbeitnehmer eine Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses mit ihm ausgeschlossen hat. Eine entsprechende Prognose ist auch angezeigt, wenn der Arbeitgeber einen unbefristeten
Arbeitnehmer bereits als einen aufgrund der Betriebsänderung betriebsbedingt zu Kündigenden festgelegt hat, wenn er ihn z.B. in einem
Interessensausgleich übereinstimmend mit dem Betriebsrat schriftlich als einen Arbeitnehmer namentlich bezeichnet hat, dem wegen der
Betriebsänderung gekündigt werden soll; § 125 InsO „Interessensausgleich mit Namensliste“ (vgl. Bepler in: Gagel, SGB III, § 216a Rnr. 31). Von
Arbeitslosigkeit bedroht ist auch jeder Arbeitnehmer, auf den sich der Entschluss des Arbeitgebers konkretisiert hat, ihm betriebsbedingt im Zuge
einer Betriebsänderung zu kündigen.
34 Im Rahmen des sanierenden Übergangs nach dem BAG-Modell sind alle Arbeitnehmer des betroffenen Insolvenzbetriebs im Zeitpunkt der
Durchführung der Transfermaßnahme von Arbeitslosigkeit bedroht.
35 Der sanierende Übergang hat letztlich zum Ziel die Wirkungen des § 613a Bürgerliches Gesetzbuch nicht eintreten zu lassen. Es soll also
verhindert werden, dass es zu einem Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Betriebsmittelerwerber kommt (vgl. ausführlich Lembke,
Betriebsberater 2007, S. 1333, 1337 ff). Bei dieser Konstruktion kommt es insbesondere darauf an, dass der Arbeitnehmer freiwillig einen
Aufhebungsvertrag abschließt, eine Transfergesellschaft in Form einer beE bzw. BQG zwischengeschaltet ist und der Arbeitnehmer keine sichere
Aussicht darauf hat, bei dem Betriebsmittelerwerber eingestellt zu werden (vgl. BAG, 23.11.2006, 8 AZR 349/06).
36 Durch den Abschluss der 3-seitigen Verträge waren sämtliche Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit bedroht, da alle Arbeitsverhältnisse mit dem
Insolvenzbetrieb beendet wurden und in einer logischen Sekunde der Übertritt in die beE im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnis erfolgte.
Keiner der Arbeitnehmer konnte sich beim Übertritt in die beE sicher sein, dass er vom Betriebsmittelerwerber übernommen wird. Gerade diese
Unsicherheit ist Bestandteil des Modells des sanierenden Übergangs und verhindert den Eintritt der Wirkungen des § 613a BGB. Bei dem
Tatbestandsmerkmal „von Arbeitslosigkeit bedroht“ (§ 17 SGB III) kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auf die Sicht des
Betriebsmittelerwerbs oder des Insolvenzbetriebs, geschweige denn auf die Sicht der Beklagten ex post an. Vielmehr ist auf die Sicht des
konkreten Arbeitnehmers ex ante abzustellen. Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz III-Gesetz) hat sowohl das
TKuG, als auch die Transfermaßnahme als Anspruch des einzelnen Arbeitnehmers ausgestaltet. Konsequenterweise wurden § 216a und § 216b
SGB III auch im vierten Kapitel des SGB III, das mit der Überschrift „Leistungen an Arbeitnehmer“ versehen ist, verortet. Dieser gesetzgeberische
Wille lässt keinen Spielraum bei der Beurteilung des Tatbestandsmerkmals „von Arbeitslosigkeit bedroht“. Aus Sicht des einzelnen
Arbeitnehmers war dieser vom Abschluss des 3-seitigen Vertrags bis zur Mitteilung der Neueinstellung durch den Betriebsmittelerwerber, also
während der Durchführung der Transfermaßnahme, konkret von Arbeitslosigkeit bedroht.
37 Zur Überzeugung der Kammer ist dieses Ergebnis auch im insolvenz- und arbeitsrechtlichen Gesamtkontext sachgerecht. Die §§ 216a und 216b
SGB III sind sanierungsfreundlich auszulegen. Würde die Rechtsauffassung der Beklagten zutreffen, würde der sanierende Übergang - und
damit die Rettung von Arbeitsplätzen - erheblich erschwert werden, da der Insolvenzbetrieb einen Großteil der Kosten der Transfermaßnahme
selbst tragen müsste. Der Insolvenzbetrieb hat indes keine andere Wahl als für sämtliche Arbeitnehmer eine Transfermaßnahme durchführen zu
lassen, da die Durchführung einer solchen wiederum gem. § 216b Abs. 4 Satz 4 SGB III Voraussetzung für die Bewilligung von TKuG gemäß §
216b SGB III für diejenigen Arbeitnehmer, die tatsächlich in der Transfergesellschaft verbleiben, ist. Die Tragung der Maßnahmenkosten dürfte
jedoch für viele Insolvenzbetriebe kaum möglich sein. Dem Insolvenzbetrieb ist auch der Weg versperrt nur für diejenigen Arbeitnehmer eine
Transfermaßnahme durchzuführen, die tatsächlich in der Transfergesellschaft verbleiben, da in einem solchen Fall die übrigen Arbeitnehmer
sicher sein könnten, vom Betriebsmittelerwerber angestellt zu werden und somit die Voraussetzungen des BAG an einen sanierenden Übergang
nicht erfüllt wären.
38 Der Beklagten ist zuzugeben, dass bei einem sanierenden Übergang, wie im vorliegenden Fall, die Förderung einer Transfermaßnahme
größtenteils überflüssig ist, da die geförderten Arbeitnehmer vielfach vom Betriebsmittelerwerber neue Arbeitsverträge erhalten und somit
überhaupt nicht auf dem Arbeitsmarkt vermittelt werden müssen. Insoweit werden Gelder der Beklagten in beträchtlicher Höhe ohne greifbaren
Nutzen ausgegeben. Dies kann indes nicht den Arbeitnehmern, deren Ansprüche der Kläger geltend macht, zum Nachteil gereichen, sondern
beruht vielmehr auf dem gesetzgeberischen Willen in Kenntnis des Modells des sanierenden Übergangs eine Transfermaßnahme als
Voraussetzung für die Bewilligung von Transferkurzarbeitergeld vorzuschreiben.
39 3. Gemäß § 216a Abs. 2 SGB III wird die Förderung als Zuschuss gewährt. Der Zuschuss beträgt 50 % der erforderlichen und angemessenen
Maßnahmekosten, jedoch höchstens 2.500,-- EUR je gefördertem Arbeitnehmer. Der Kläger macht vorliegend den Anspruch stellvertretend für
die Arbeitnehmerschaft geltend, so dass ihm ein Anspruch auf Förderung für insgesamt 1426 Arbeitnehmer zusteht. Die Kammer vermochte
hierbei nicht der Auffassung der Beklagten zu folgen, dass für die Arbeitnehmer M., N. und H. kein Antrag gestellt worden sei. Ein solcher ergibt
sich aus Bl. 155 bzw. 162 der Verwaltungsakte.
40 Allerdings ist für den Arbeitnehmer Z. (Nr. 1426 auf Bl. 49 der Verwaltungsakte) ein Profiling durchgeführt worden, jedoch kein Antrag gestellt
worden. Für den Arbeitnehmer K. (Nr. 617 auf Bl. 189 der Verwaltungsakte) ist zwar ein Antrag gestellt, jedoch kein Profiling durchgeführt worden
(vgl. Bl. 34 der Verwaltungsakte). Dementsprechend besteht für diese beiden Arbeitnehmer kein Anspruch auf Förderung. Die
Maßnahmenkosten betragen insgesamt 200,-- EUR pro Arbeitnehmer netto. Förderungsfähig sind indes gem. § 216a Abs. 2 Satz 2 SGB III
lediglich 50 % der Maßnahmekosten. Dementsprechend hat der Kläger einen Anspruch auf Zahlung von insgesamt 142.600 EUR gegen die
Beklagte. Abzüglich der schon geleisteten Zahlung aus dem Bescheid vom 23.10.2008 in Höhe von 42.200 EUR verbleibt somit ein Restbetrag
von 100.400 EUR. Da die Beklagte zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, ist die Umsatzsteuer nicht anzusetzen.
III.
41 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger weit überwiegend obsiegt hat.