Urteil des SozG Mainz vom 03.03.2008

SozG Mainz: auslegung nach dem wortlaut, freiwillige versicherung, krankenversicherung, arglistige täuschung, mitgliedschaft, erwerbsfähigkeit, behörde, zugang, krankenkasse, bestechung

Sozialrecht
SG
Mainz
03.03.2008
S 7 KR 213/06
Bei der Ermittlung von Versicherungszeiten
1. Der Bescheid der Beklagten vom 20.4.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.6.2006
wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Kläger seit dem 1.4.2006 freiwillig bei der Beklagten
krankenversichert war.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die Zeit eines - nach Meinung der Beklagten - materiell-rechtlich
unrechtmäßigen Bezugs von Arbeitslosengeld II eine Vorversicherungszeit für die freiwillige
Krankenversicherung darstellen kann.
Der am 1940 geborene Kläger und seine Ehefrau bezogen ab dem 1.1.2005 Arbeitslosengeld II (ALG
II) von der Beigeladenen. Bei der Beklagten war er gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch
(SGB V) als pflichtversichertes Mitglied krankenversichert. Ab dem 6.7.2005 führte die Beklagte ihn als
familienversichertes Mitglied über seine Ehefrau, da sein ALG II - Bezug mit Erreichen des 65.
Lebensjahres endete.
Ab dem 31.3.2006 endete der ALG II - Bezug der Ehefrau des Klägers. Die Beigeladene erachtete sie
nicht mehr als erwerbsfähig im Sinne des §§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 8 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Die
Beklagte beendete daraufhin zum 31.3.2006 die Pflichtversicherung der Ehefrau des Klägers und die
Familienversicherung des Klägers.
Am 3.4.2006 beantragte der Kläger die freiwillige Weiterversicherung ab dem 1.4.2006. Mit Bescheid vom
20.4.2006 und Widerspruchsbescheid vom 2.6.2006 lehnte die Beklagte die freiwillige Weiterversicherung
des Klägers ab. Zur Begründung führte sie an, aufgrund der Schwerbehinderung des Klägers und seiner
Ehefrau und der Entscheidung der Beigeladenen zum 31.3.2006 nehme sie an, dass bereits ab dem
1.1.2005 keine Erwerbsfähigkeit mehr bestanden habe. Der Kläger und seine Ehefrau hätten das ALG II
damit zu Unrecht bezogen. Gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V seien die Zeiten des unrechtmäßigen Bezugs
nicht als Vorversicherungszeiten für eine freiwillige Versicherung zu bewerten.
Mit Schreiben vom 11.7.2006 beantragte der Klägervertreter bei der Beklagten die Überprüfung der
Entscheidung gem. § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Mit Bescheid vom 13.7.2006 und
Widerspruchsbescheid vom 1.9.2006 lehnte die Beklagte den Antrag erneut ab. Die ursprünglichen
Bescheide seien rechtsfehlerfrei gewesen.
Dagegen hat der Kläger am 29.9.2006 Klage vor dem Sozialgericht Mainz erhoben.
Der Kläger meint, er habe das ALG II nicht zu Unrecht bezogen. Der ALG II - Bezug sei aufgrund der
entsprechenden Bewilligungsbescheide der Beigeladenen erfolgt. Ein eigenes Prüfungsrecht, ob die
Bewilligung durch die Beigeladene materiell rechtmäßig gewesen sei, stehe der beklagten
Krankenversicherung nicht zu.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 20.4.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.6.2006
aufzuheben und festzustellen, dass der Kläger ab dem 1.4.2006 freiwillig bei der Beklagten
krankenversichert ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, sie habe zwar kein eigenes Prüfungsrecht, ob der ALG II - Bezug rechtmäßig gewesen
sei. Ihr stehe aber die Prüfungskompetenz hinsichtlich des Vorliegens der Vorversicherungszeiten für eine
freiwillige Krankenversicherung gem. § 9 SGB V zu. Inzident könne sie hier prüfen, ob die materiellen
Voraussetzungen für den ALG II - Bezug gegeben gewesen seien.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen
ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet.
Die angefochtenen Bescheide waren ebenso rechtswidrig wie der Bescheid vom 20.4.2006 und
Widerspruchsbescheid vom 2.6.2006. Sie verletzten den Kläger in seinen Rechten. Sie waren daher
aufzuheben.
Der Kläger ist von der Beklagten ab dem 1.4.2006 als freiwilliges Mitglied zu führen.
Die Voraussetzungen für eine freiwillige Mitgliedschaft gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Nr. 2 SGB V lagen beim
Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung am 3.4.2006 vor. Die Familienversicherung des Klägers ist
erloschen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V). Seine Ehefrau erfüllte zu diesem Zeitpunkt die
Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V.
Die Ehefrau des Klägers war bis unmittelbar vor dem Ausscheiden zum 31.3.2006 pflichtversichertes
Mitglied bei der Beklagten. Die Versicherungspflicht bestand aufgrund des Bezugs von ALG II gem. § 5
Abs. 1 Nr. 2a SGB V vom 1.1.2005 bis zum 31.3.2006.
Die Zeit vom 1.1.2005 bis zum 31.3.2006 ist als Vorversicherungszeit gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V zu
berücksichtigen. Es handelt sich insbesondere nicht um eine Zeit, in der ALG II "zu Unrecht bezogen
wurde" (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V). Die materielle Rechtmäßigkeit des Bezugs von ALG II
war weder von der Beklagten noch vom Gericht zu überprüfen. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob der
Kläger oder seine Ehefrau in der Zeit ab dem 1.1.2005 bis zum 31.3.2006 tatsächlich noch erwerbsfähig
gem. §§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 8 SGB II waren, so wie es die Beigeladene annimmt.
Für das Vorliegen einer Vorversicherungszeit gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a SGB V
kommt es ausschließlich darauf an, ob aufgrund eines Bewilligungsbescheids ALG II von einer SGB II -
Behörde bezogen wurde und ob diese Bewilligungsentscheidung nicht mit Wirkung für die Vergangenheit
aufgehoben wurde. Wenn ein Bewilligungsbescheid vorliegt und dieser Bescheid nicht aufgehoben
wurde, liegt für diesen Bewilligungszeitraum auch eine Vorversicherungszeit gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V
vor (so wie hier LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 31.8.2006 - L 11 B 18/06 KR ER; a.A. SG
Dortmund Urteil vom 17.7.2007 - S 44 KR 75/06; LSG Niedersachsen Beschluss vom 6.3.2007 - L 1 KR
1/07 ER).
Eine Auslegung nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ("…zu Unrecht bezogen…") spricht eher
für die Auslegung der Beklagten, dass eine materiell-rechtliche Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen
für das ALG II bei der Prüfung der Vorversicherungszeit zulässig und geboten ist (so auch SG Dortmund
Urteil vom 17.7.2007 - S 44 KR 75/06 - zitiert nach Juris Rn. 30 - das den Wortlaut mit dem Wortlaut des §
50 SGB X vergleicht). Gleichzeitig lässt der Wortlaut aber auch ein engere Auslegung im Sinne eines bloß
formell unrechtmäßigen Bezugs durchaus zu.
Ebenfalls für die Ansicht der Beklagten spricht die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 9 Abs. 1
Nr. 1 2. Halbsatz SGB V (BT-DS 16/245 S.9). Darin heißt es:
"Die Regelung in Artikel 2a schließt die Berücksichtigung von Zeiten einer Versicherung aufgrund des
rechtswidrigen Bezugs von ALG II als Vorversicherungszeit für den Zugang zur freiwilligen Mitgliedschaft
aus. Damit wird insbesondere verhindert, dass ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger
Bezug von ALG II dazu führt, dass nach Ende des unrechtmäßigen Leistungsbezugs eine dauerhafte
freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung begründet werden kann."
Der Gesetzgeber knüpft in seiner Begründung damit explizit an die materiellen
Anspruchsvoraussetzungen für das ALG II, insbesondere das Bestehen der Erwerbsfähigkeit, an. Letztlich
offen bleibt in der Gesetzesbegründung aber, ob schon das Fehlen der Anspruchsvoraussetzung an sich
genügt oder ob es aufgrund des Fehlens auch zu einer formellen Aufhebung der Bewilligung gem. §§ 44
ff. SGB X gekommen sein muss.
Für die Kammer letztlich überzeugend ist die systematische Betrachtung des Regelungskomplexes der §§
9 Abs. 1 Nr. 1 und 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a SGB V.
Die Kammer geht dabei zunächst von der folgenden Überlegung aus: Der Ausschluss des § 9 Abs. 1 Nr. 1
2. Halbsatz gilt nicht nur für den unrechtmäßigen Bezug von ALG II, sondern auch für die
Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentenantragsteller gem. § 189 SGB V. Der Sinn und
Zweck, die Mitgliedschaft der Rentenantragsteller aus der Vorversicherungszeit herauszunehmen, ist
vergleichbar mit dem aus der Gesetzesbegründung herleitbaren Zweck, Zeiten des unrechtmäßigen
Bezugs von ALG II auszunehmen: Es soll vermieden werden, dass durch bloße (formlose) Antragstellung,
d.h. ohne das Vorliegen weiterer materieller Voraussetzungen, ohne größere Hürden eine
Vorversicherungszeit erreicht werden kann, die dann einen Eintritt in die freiwillige Krankenversicherung
zulässt. Es soll damit der Zugang zur freiwilligen Krankenversicherung erschwert werden. (Dieser
offenkundige Gesetzeszweck steht allerdings im Gegensatz zur Neuregelung des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
und wäre deshalb ohnehin zu überdenken).
So wäre es im Falle der Krankenversicherung der Rentenantragsteller, wenn diese nicht gem. § 9 Abs. 1
Nr. 1 2. Halbsatz SGB V ausgenommen wäre, denn selbst eine völlig unbegründete und abwegige
(Erwerbsminderungs-) Rentenantragstellung könnte zu einer Erfüllung der Vorversicherungszeiten führen,
wenn der Rentenversicherungsträger alleine durch die Antragstellung gezwungen wird, in zeitaufwendige
medizinische Ermittlungen einzutreten. Letztlich wird aber durch den (evtl. ablehnenden) Rentenbescheid
vom Rentenversicherungsträger (nicht von der Krankenkasse) formell festgestellt, ob der Rentenantrag
"zu Recht" oder "zu Unrecht" gestellt wurde. Diese Entscheidung wirkt regelmäßig zurück auf den
Zeitpunkt der Antragstellung. Auch hier besteht daher - schon aufgrund der gesetzlichen Konstruktion -
keine materielle Prüfungsmöglichkeit der Krankenkasse, sondern nur eine solche des
Rentenversicherungsträgers.
Eine Pflichtmitgliedschaft bloß aufgrund der ALG II - Antragstellung sieht das Gesetz nicht vor. Eine solche
Mitgliedschaft ist aufgrund des regelmäßig geringeren Ermittlungsaufwands und der damit verbundenen
schnelleren Bewilligung oder Ablehnung der SGB II - Behörden auch nicht erforderlich. Dennoch ist eine
ähnliche Konstellation wie die oben beschriebene Situation des abgelehnten Rentenantrags und der
damit verbundenen nachträglich "unrechtmäßigen Pflichtversicherung" auch beim ALG II - Bezug denkbar.
Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich nachträglich, aufgrund von Ermittlungen der SGB II - Behörde
herausstellt, dass die Anspruchsvoraussetzungen für den ALG II - Bezug nicht gegeben waren und eine
Aufhebung des Bewilligungsbescheids gem. § 45 Abs. 1, Abs. 4 SGB X erfolgt. Dies ist freilich nur unter
den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 2 SGB X (arglistige Täuschung, Drohung,
Bestechung, grob fahrlässige oder vorsätzlich falsche Angaben bzw. Kenntnis von der Rechtswidrigkeit).
Würde man nun, wie es die Beklagte tut, davon ausgehen, dass schon alleine der materiell-rechtlich
unrechtmäßige Bezug von ALG II zur Nichtberücksichtigung als Vorversicherungszeit führt, so würde der
Vertrauensschutztatbestand des § 45 Abs. 4 SGB X für diese Prüfung unberücksichtigt bleiben. Dies ist
nach Auffassung der Kammer nicht zu rechtfertigen, denn durch die Bewilligung von ALG II durch die
zuständige SGB II - Behörde wurde beim Kläger ein schutzwürdiges Vertrauen erzeugt, dass die
Bewilligung des ALG II einschließlich der daraus resultierenden Rechtsfolgen - auch auf dem
krankenversicherungsrechtlichen Gebiet - zu Recht erfolgte und Bestand hat. Dieses Vertrauen wäre nur
dann nicht schutzwürdig, wenn die Einschränkungen des § 45 Abs. 4 SGB X vorliegen. Soweit es die
Praxis der SGB II - Behörden war oder ist, ALG II zunächst ohne nähere Prüfung der Voraussetzungen zu
bewilligen - was die Kammer nicht zu beurteilen vermag - kann dies nicht zulasten des Klägers gehen.
Da im vorliegenden Fall keine Aufhebung seitens der Beigeladenen erfolgte und der ALG II - Bezug damit
formell rechtmäßig bestehen blieb, war der Klage stattzugeben.
Weil es auf das tatsächliche Vorliegen der Erwerbsfähigkeit ab dem 1.1.2005 nicht ankam, war die
Kammer auch nicht gezwungen entsprechende medizinische Ermittlungen anzustellen oder die
Verwaltungsakte der Beigeladenen anzufordern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des
Verfahrens.