Urteil des SozG Mainz vom 19.09.2006

SozG Mainz: heilbehandlung, schutzwürdiges interesse, ärztliche behandlung, unfallversicherung, unfallfolgen, behandlungskosten, sicherheit, therapie, leistungserbringer, sachleistung

Sozialrecht
SG
Mainz
19.09.2006
S 6 U 56/06
Zum Freistellungsanspruch des Versicherten, wenn der Unfallversicherungsträger seiner Verpflichtung
aus § 26 Abs. 4 SGB VII nicht nachkommt.
Tenor:
1. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von ihr eventuell entstehenden Kosten für die medizinisch
notwendige Behandlung der unfallbedingten Kiefergelenksbeschwerden in den Universitätskliniken S
freizustellen.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin von allen Kosten
freizustellen, die ihr im Rahmen der Behandlung der durch einen bei der Beklagten versicherten Unfall
verursachten Kiefergelenksbeschwerden in den Universitätskliniken S eventuell entstehen.
Die am .1983 geborene Klägerin hatte am 09.03.2001 einen Verkehrsunfall erlitten, den die Beklagte
als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt hat. In der Folge dieses Unfalls
wurde unter anderem eine Prellung des linken Kiefergelenks diagnostiziert; im Laufe der Behandlung der
Beschwerden der Klägerin am Kiefergelenk trat des weiteren eine Kieferklemme auf. Im Rahmen der
Ermittlungen der Beklagten zu den verbliebenen Unfallfolgen wurden unter anderem Gutachten und
Stellungnahme bei Dr. T auf mund-kiefer-geschichtschirurgischem Fachgebiet eingeholt (24.02.2002,
12.03.2002, 01.07. 2002), in denen die Kieferbeschwerden der Klägerin als unfallbedingt angesehen
wurden. Auch der auf mund-kiefer-gesichtschirurgischem Fachgebiet zusätzlich gehörte Dr. S stellte als
Unfallfolge eine Kiefergelenksprellung mit mäßiggradiger Einschränkung der Mundöffnungsweite fest.
Mit Bescheid vom 22.09.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2004 stellte die Beklagte
daraufhin (unter anderem) eine Kiefergelenksprellung mit nachfolgender mäßiggradiger Einschränkung
der Mundöffnungsweite fest. Im Rahmen des gegen diese Bescheide hinsichtlich anderer Unfallfolgen
und eines Anspruchs auf Verletztenrente durchgeführten Klageverfahrens (S 6 U 96/04) wurden zwei
weitere Gutachten auf mund-kiefer-gesichtschirurgischem Fachgebiet eingeholt (Prof. Dr. D 24.09.2004;
Dr. R 08.07.2005), in denen die Kiefergelenksbeschwerden ebenfalls als Unfallfolge angesehen wurden.
Die Klägerin hatte sich zur Behandlung der unfallbedingten Beschwerden am Kiefergelenk unter anderem
zu Dr. R begeben, der eine Aufbissschiene einsetzte. Mit Bescheid vom 25.11.2005 lehnte die Beklagte
die Kostenübernahme für eine Invisaligne Therapie bei Dr. R ab, da unfallbedingte Ursachen für diese
Therapie nicht nachgewiesen seien. Der hiergegen seitens der Klägerin erhobene Widerspruch wurde
durch Widerspruchsbescheid vom 16.02.2006 zurückgewiesen.
Die hiergegen erhobene - am 20.03.2006 bei Gericht eingegangenen - Klage war zunächst auf
Kostenübernahme für die Invisaligne Therapie gerichtet. Im Laufe des Verfahrens legte die Beklagte der
Klägerin nahe, sich zur Behandlung der unfallbedingten Kiefergelenksbeschwerden in Behandlung in die
Universitätskliniken S zu begeben, was die Klägerin auch tat. Prof. Dr. P, Abteilung für Zahnärztliche
Prothetik und Werkstoffkunde der Universitätskliniken S, führte eine Voruntersuchung durch und erstellte
hierfür unter dem 08.05.2006 einen Behandlungsplan (Behandlungskosten € 416,15), für den die
Beklagte - nachdem eine Kostenübernahme zunächst telefonisch gegenüber der Klinik abgelehnt worden
war - mit Bescheid vom 05.07.2006 eine Kostenübernahmeerklärung erteilte.
Nachdem die Klägerin im Hinblick auf den geänderten Sachstand ihre Klageanträge mehrfach geändert
hatte, wurde am 19.09.2006 ein Termin zur mündlichen Verhandlung durchgeführt. Der Bevollmächtigte
der Beklagten erklärte in Rahmen dieses Termins, dass die Beklagte die weitere Behandlung der
unfallbedingten Kieferbeschwerden der Klägerin in den Universitätskliniken S bei Prof. Dr. P und, soweit
erforderlich, auch bei anderen Ärzten der Universitätskliniken durchgeführt werden solle und die Beklagte
bereit sei, alle hierfür anfallenden Kosten zu übernehmen. Zu einer Freistellung der Klägerin von allen
anfallenden Kosten sei die Beklagte indes nicht bereit, da es möglich sei, dass die Universitätskliniken
des Saarlandes in zukünftigen Heil- und Kostenplänen bzw. Abrechnungen Abrechnungsziffern ansetzen
könnten, die den Abrechnungsvereinbarungen zwischen den Ärzte-/Zahnärzteverbänden und der
Beklagten widersprächen. Es sei zwar grundsätzlich Aufgabe des Unfallversicherungsträgers, sich
hinsichtlich der Abrechnung erbrachter Behandlungsleistungen mit dem beauftragten Arzt
auseinanderzusetzen; man wisse aber nicht, auf welchen Abrechnungsmodalitäten Prof. Dr. P oder
andere hinzugezogene Behandler bestünden, so dass es möglich sei, dass eine Selbstbeteiligung bei der
Klägerin verbleibe.
Die Klägerin hat daraufhin mitgeteilt, sie halte an einer Behandlung bei Dr. R nicht mehr fest und sei
bereit, die weitere Behandlung der unfallbedingten Kiefergelenksbeschwerden in den Universitätskliniken
S durchführen zu lassen. Bevor allerdings die noch bruchstückhaft vorhandenen Aufbissschienen aus
dem Mund entfernt werden könnten, müsse sie die Sicherheit haben, dass die weitere Behandlung dann
auch durchgeführt würde; diese Sicherheit gebe ihr die Aussage der Beklagten nicht; vielmehr habe diese
angekündigt, die Behandlungskosten eventuell nicht vollständig zu tragen.
Die Klägerin hat daraufhin ihre Klage geändert und beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, sie, die Klägerin, von eventuell ihr entstehenden Behandlungskosten, die im
Rahmen der medizinisch notwendigen Behandlung der unfallbedingten Kiefergelenksbeschwerden in
den Unikliniken S anfallen könnten, freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die
Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist - auch in der auf eine Leistungsklage auf Freistellung von den Kosten der
Krankenbehandlung geänderten Form - zulässig.
Die Klageänderung ist im vorliegenden Fall zulässig, da der bisherige Prozessstoff auch für den
geänderten Streitgegenstand verwertbar ist, und die Änderung daher sachdienlich ist (§ 99 Abs. 1 SGG).
Der Leistungsklage fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Nur derjenige, der mit dem von ihm
angestrebten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein schutzwürdiges Interesse verfolgt, hat Anspruch auf
eine gerichtliche Sachentscheidung. Hierbei handelt es sich um eine Sachentscheidungsvoraussetzung
für alle Klagen, mit denen subjektive Rechte durchgesetzt werden sollen. Fehlt das
Rechtsschutzbedürfnis, so ist die Klage unzulässig (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, vor § 51, Rn. 15 ff.). Der
Versicherte der gesetzlichen Unfallversicherung hat sich zur Durchsetzung seiner subjektiven Rechte
zunächst an den zuständigen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zu wenden, und dort die
begehrte Leistung - im vorliegenden Fall die ärztliche Behandlung der Unfallfolgen - zu beantragen und,
soweit dies in der Sache angemessenem zeitlichen Rahmen erfolgt, die bescheidmäßige Entscheidung
des Unfallversicherungsträgers abzuwarten und einen ablehnenden Bescheid zunächst in einem
Vorverfahren nachprüfen zu lassen. Ausnahmsweise kommt aber die unmittelbare gerichtliche
Durchsetzung eines Leistungsanspruchs unter anderem dann in Betracht, wenn der
Unfallversicherungsträger im Rahmen eines laufenden Verfahrens die Leistungserbringung abgelehnt hat
und dem Versicherten ein weiteres Zuwarten im Hinblick auf die Notwendigkeit einer zeitnahen
Leistungserbringung nicht zugemutet werden kann, der Versicherte mithin ein berechtigtes Interesse an
der baldigen Durchsetzung seiner Rechte hat. So liegt es im vorliegenden Fall: Die Beklagte hat bislang -
fünf Jahre nach dem Versicherungsfall - entgegen ihrer Verpflichtung aus § 26 Abs. 4 SGB VII weder Art,
Umfang und Durchführung der Heilbehandlung der unfallbedingten Kieferbeschwerden der Klägerin
abschließend bestimmt, noch hat sie dafür Sorge getragen, dass der Klägerin eine möglichst zügige
Behandlung der am Kiefergelenk verbliebenen Unfallfolgen als Sachleistung der gesetzlichen
Unfallversicherung zur Verfügung gestellt wird; sie ist hierzu laut mündlichem Bekunden des
Sitzungsvertreters im Termin zur mündlichen Verhandlung auch nicht bereit. Die Beklagte hält sich
vielmehr für berechtigt, sich die Verweigerung der (vollständigen) Leistungserbringung für den Fall
vorzubehalten, dass der von ihr mit der Heilbehandlung beauftragte Arzt Abrechnungsmodalitäten wählt,
der ihren Vorstellungen widersprechen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit einer zeitnahen Klärung der
weiteren ärztlichen Behandlung der am Kiefergelenk der Klägerin verbliebenen Unfallfolgen, ist ein
berechtigtes Interesse der Klägerin an einer gerichtlichen Entscheidung zu bejahen.
Die Klage ist auch begründet.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Freistellung von den Kosten der Behandlung der
unfallbedingten Kieferbeschwerden durch die Universitätskliniken S zu. Der Freistellungsanspruch folgt im
vorliegenden Fall aus § 26 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB VII. Nach dieser Vorschrift steht dem Versicherten
eine Sachleistungsanspruch auf Heilbehandlung hinsichtlich der durch einen Versicherungsfall
verursachten Gesundheitsschäden zu. Die Heilbehandlung hat dem Gesundheitsschaden mit allen
geeigneten Mitteln und möglichst frühzeitig zu begegnen und ist nicht, wie Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung nach § 12 Abs. 1 SGB V auf eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche
Versorgung beschränkt; auch Außenseitermethoden können im Einzelfall ein geeignetes Mittel darstellen
(Keller, "Mit allen geeigneten Mitteln" - Der umfassende Heilbehandlungsbedarf in der gesetzlichen
Unfallversicherung, SGb 2000, 459 ff.). Auf der anderen Seite besteht nur eine eingeschränkte Arztwahl,
da die Bestimmung von Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1
SGB VII dem Unfallversicherungsträger obliegt. Die Unfallversicherungsträger haben den Versicherten die
Heilbehandlung damit als Sachleistung zur Verfügung zu stellen, d. h. der Versicherte erhält die
Heilbehandlung von den Leistungserbringern, die durch die Unfallversicherungsträger hierzu beauftragt
wurden, auf Kosten des zuständigen Unfallversicherungsträgers.
Zur Gewährleistung dieses Sachleistungsanspruchs schließen die Verbände der
Unfallversicherungsträger sowie die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Kassenzahnärztliche
Bundesvereinigung mit Wirkung für ihre Mitglieder Verträge über die Durchführung der Heilbehandlung,
die Vergütung der Ärzte und Zahnärzte sowie die Art und Weise der Abrechnung (§ 34 Abs. 3 Satz 1 SGB
VII). Die Beziehungen zwischen den Unfallversicherungsträgern und den anderen die Heilbehandlung
durchführenden Stellen werden gemäß § 34 Abs. 8 SGB VII ebenfalls durch Verträge geregelt. In diesen
Verträge sind unter anderem die Abrechnungsmodalitäten zu regeln; in diesem Zusammenhang ist auch
sicherzustellen, dass der Versicherte nicht mit Kosten für die Heilbehandlung belastet wird, auf die der
Sachleistungsanspruch gemäß § 26 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB VII besteht. Wird bei der Abwicklung der
Erfüllung des Sachleistungsanspruchs gegen die Grundsätze des Leistungsrechts verstoßen (z. B. durch
unmittelbare Inanspruchnahme des Versicherten durch den Leistungserbringer), so wandelt sich der
Sachleistungsanspruch in einen Freistellungsanspruch (BSG, Urteil vom 09.06.1998 - B 1 KR 18/96 R -
BSGE 82, 158; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.02.2003 - L 5 KR 51/02 - NZS 2004, 43, jeweils für den
Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung). Dies gilt unabhängig davon, ob die Leistung (im
vorliegenden Fall die Heilbehandlung) bereits durchgeführt wurde oder noch nicht. Eine abstrakte
gerichtliche Klärung der Leistungspflicht, losgelöst von einer tatsächlichen Kostenbelastung allein im
Interesse des Leistungserbringers, um diesem einen eigenen Prozess zu ersparen, ist hingegen nicht
zulässig (BSG, Urteil vom 09.10.2001 - B 1 KR 6/01 R - SozR 3-2500 § 13 Nr. 25).
Im vorliegenden Fall steht der Klägerin der Sachleistungsanspruch aus § 26 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB
V auf Heilbehandlung der unfallbedingten Kiefergelenksbeschwerden dem Grunde nach zu, was auch die
Beklagte nicht abstreitet. Die Beklagte hat diesen Anspruch gemäß § 26 Abs. 4 SGB V bereits auf die
Durchführung der Behandlung durch die Universitätskliniken S bzw. die dortigen Ärzte konkretisiert.
Dieser - nach wie vor bestehende - Sachleistungsanspruch ist durch den Vorbehalt der Beklagten, im
Falle eines Verstoßes der von ihr benannten Leistungserbringer gegen das Leistungsrechts (in Form der
Aufnahme von unzulässigen Abrechnungspositionen in den zu erstellenden Heil- und Kostenplan) die
Leistungserbringung bzw. Kostentragung zu verweigern, in einen Freistellungsanspruch der Klägerin
gewandelt. Eine tatsächliche Kostenbelastung der Klägerin steht zwar gegenwärtig noch nicht konkret zur
Diskussion; andererseits erfolgt die vorliegende gerichtliche Klärung nicht allein im Interesse des
Leistungserbringers (Universitätskliniken S bzw. dortige Ärzte), sondern zumindest auch im Interesse der
Klägerin, der eine Entfernung der Reste der zuvor eingebrachten Aufbissschienen ohne ausreichende
Sicherheit, dass die Behandlung durch die von der Beklagten benannten Ärzte auch tatsächlich
durchgeführt werden wird, nicht zugemutet werden kann. Der Anspruch auf Freistellung besteht daher im
vorliegenden Fall bereits vor Inanspruchnahme der Heilbehandlung.
Die Beklagte war nach alledem zur Freistellung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.