Urteil des SozG Mainz vom 25.07.2006

SozG Mainz: versicherungspflicht, krankenversicherung, sicherheit, wahrscheinlichkeit, wechsel, auszahlung, arbeitsentgelt, beendigung, mitgliedschaft, senkung

Sozialrecht
SG
Mainz
25.07.2006
S 6 KR 313/04
Die durch den kündigungsbedingten Wegfall des Weihnachtsgeldes begründete Unterschreitung der JAE-
Grenze führt nicht zum Eintritt der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung
Tenor:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 10.10.2003 in Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 07.05.2004 und
des Widerspruchsbescheides vom 13.07.2004 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 10.10.2003 in Gestalt
des Teilabhilfebescheides vom 07.05.2004 und des Widerspruchsbescheides vom 13.07.2005, mit dem
bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durchgeführt wurde und Beiträge in Höhe von insgesamt € 1.502,58
zurückgefordert wurden.
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen der Schleiftechnik. Mit Bescheid vom 10.10.2003 führte die
Beklagte eine Betriebsprüfung durch und forderte Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und
sozialen Pflegeversicherung in Höhe von € 6.422,35 im Hinblick auf die Beschäftigung der
Arbeitnehmerin B vom 01.09.1999 bis zum 30.09.2000 nach, da die Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht
überschritten werde. In dem Protokoll über die Schlussbesprechung über die durchgeführte
Betriebsprüfung vom 08.10.2003 wurde festgehalten, dass ein Arbeitsvertrag für die Arbeitnehmerin B
nicht habe vorgelegt werden können. Sie sei bis 8/99 als Studentin beschäftig gewesen. Ab 9/99 bzw.
nach Beendigung ihres Studiums sei sie weiterhin beschäftigt worden. Die Beiträge seien mit der
Begründung in der Beitragsgruppe 0210 geführt worden, dass sie über der JAV liege. Das erzielte Entgelt
habe bei DM 6000,-- monatlich und zusätzlich ein Weihnachtsgeld von DM 2000,-- gelegen, welches auch
im Jahr 2000 zu erwarten gewesen sei. Die JAV des Jahres 1999 habe bei DM 6375,-- monatlich gelegen
und in 2000 bei DM 6450,--. Es seien daher Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung
nachzufordern.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte zur Begründung aus, zur Berechnung des
Jahresarbeitsentgelts sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das Arbeitsentgelt aus der
versicherungspflichtigen Beschäftigung als Arbeitnehmer maßgebend, wie es im Voraus für das
kommende Jahr festzustellen sei. Regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt sei nur solches, das mit
hinreichender Sicherheit in den der Beurteilung folgenden 12 Monaten zu erwarten sei (Hinweis auf BSG
v. 30.06.1965 - GS 2/64). Einmalzahlungen wie das Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Tantiemen, etc. würden
berücksichtigt, wenn diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jährlich gezahlt würden. Die
Arbeitnehmerin B habe mit Beginn ihrer Tätigkeit am 01.09.1999 einen Anspruch auf 13 Gehälter à
6.000,00 DM = 78.000,00 DM jährlich gehabt. Entsprechend dieser Vereinbarung seien im Kalenderjahr
1999 in der Zeit vom 01.09. bis 31.12. 26.000,00 DM brutto gezahlt worden. Dies entspreche einem
durchschnittlichen monatlichen Einkommen von 6.500,00 DM. Darüber hinaus sei im Kalendermonat
Dezember 1999 die Zahlung einer betrieblichen Altersversorgung in Höhe von 3.408,00 DM erfolgt. Das
bei normalem Ablauf der Dinge zu erwartende Jahresarbeitsentgelt der Mitarbeiterin B habe im
Kalenderjahr 2000 - ausgehend von 13 Monatsgehältern à 6.000,00 DM - 78.000,00 DM betragen. Damit
habe die Mitarbeiterin auch im Kalenderjahr 2000 über der Jahresarbeitsentgeltgrenze gelegen. Dass das
13. Monatsgehalt im Kalendermonat 2000 nicht zur Auszahlung gelangt sei, liege darin begründet, dass
im November 2000, dem Stichtag zur Auszahlung, das Arbeitsverhältnis durch die Mitarbeiterin bereits
gekündigt gewesen sei. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch die Arbeitnehmerin am
30.09.2000 sei nicht vorhersehbar gewesen, und deshalb für die Bemessung der
Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht zu berücksichtigen. Eine schriftliche Vereinbarung bzw. ein
Arbeitsvertrag habe nicht vorgelegen, da Frau B die langjährige Lebensgefährtin des Geschäftsführers der
Klägerin gewesen sei. Auch die Kündigung sei mündlich erfolgt.
Frau B teilte der Beklagten auf Nachfrage mit, eine schriftliche Vereinbarung liege nicht vor. Ein 13.
Monatsgehalt sei vereinbart worden, im ersten Jahr allerdings nur anteilmäßig der Beschäftigungszeit (ab
09/1999). Es sei eine Kündigungsfrist von 3 Monaten vereinbart worden. Die schriftliche Kündigung sei
am 28. 06.2000 entgegengenommen worden. Als Studentin habe sie Aushilfstätigkeiten zu verrichten
gehabt, während sie ab dem 01.09.1999 als leitende Angestellte beschäftigt gewesen sei.
Mit Bescheid vom 07.05.2004 half die Beklagte dem Widerspruch der Klägerin daraufhin teilweise ab, in
dem sie die Beschäftigung der Frau B im Hinblick auf die Vereinbarung des 13. Monatsgehalts im
Zeitraum vom 01.09.1999 bis 27.06.2000 als versicherungsfrei in der Kranken- und Pflegeversicherung
wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze beurteilte. Mit der Kündigung am 28.06.2000 habe
die Arbeitnehmerin indes den Anspruch auf das Weihnachtsgeld mit der Folge verloren, dass die
Jahresarbeitsentgeltgrenze unterschritten worden sei. Ab diesem Zeitpunkt habe die Klägerin Kenntnis
davon gehabt habe, dass die Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht länger überschritten werde. Werde die
Jahresarbeitsentgeltgrenze im Laufe des Jahres unterschritten, setzte die Versicherungspflicht in der
Krankenversicherung sofort ein. Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung habe
sofort am 28.06.2000 eingesetzt, weshalb Pflichtbeiträge zu zahlen gewesen seien. Die
Nachzahlungsbetrag wurde im Hinblick auf diese Feststellungen auf € 1.502,58 reduziert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 13.07.2004 wies die Beklagten den Widerspruch der Klägerin im übrigen
zurück.
Hiergegen richtet sich die am 06.08.2004 bei Gericht eingegangene Klage.
Die Klägerin ist der Ansicht,
die Mitarbeiterin B sei auch ab dem 28.06.2000 nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, da das
voraussichtliche Entgelt für das Jahr 2000 die Jahresarbeitsentgeltgrenze überschritten habe, wie
zwischen den Beteiligten dem Grunde nach unstreitig sei. Die Kündigung vom 28.06.2000 sei nicht
vorauszusehen und daher hierbei nicht zu berücksichtigen. Außerdem sei der Klägerin nicht bekannt
gewesen, welches Entgelt die Mitarbeiterin B ab dem 01.10.2000 bei dem neuen Arbeitgeber erzielen
würde; jedenfalls habe dieses aber über dem monatlichen Bruttoentgelt im Anstellungsverhältnis mit der
Klägerin gelegen, da ansonsten keine Eigenkündigung durch die Mitarbeiterin erfolgt wäre.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 10.10.2003 in Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 07.05.2004 und
des Widerspruchsbescheides vom 13.07. 2004 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer Auffassung fest:
ebenso wie die studentische Beschäftigung bis zum 31.08.1999 getrennt von der Beschäftigung als
Maschinenbauingenieurin ab dem 01.09.1999 zu beurteilen gewesen sei, sei auch dieses
Arbeitsverhältnis bis zum 30.09.2000 unabhängig von dem ab 01.10.2000 folgenden zu betrachten. Somit
habe für den Zeitraum vom 28.06.2000 bis zum 30.09.2000 eindeutig festgestanden, dass die
Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht mehr überschritten werden könne. Deshalb sei mit Kenntnis dieser
Sachlage sofort Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung eingetreten.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die
Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, beschwert die Klägerin und ist daher aufzuheben. Die
Angestellte B unterlag auch im Zeitraum vom 28.06. 2000 bis 30.09.2000 nicht der Versicherungspflicht in
der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung, so dass keine Beiträge zu
entrichten waren. Die grundsätzliche Versicherungspflicht folgt für abhängig Beschäftigte - wie die frühere
Angestellte der Klägerin B - aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Versicherungsfrei sind gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1
SGB V - in der für den vorliegenden Fall maßgeblichen Fassung des Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes v.
18.12.1989 (BGBl. I, 2261) - hingegen Angestellte, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt (JAE) 75 vom
Hundert der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten
(Jahresarbeitsentgeltgrenze) übersteigt, im vorliegenden Fall mithin DM 77.400,--. Damit Arbeitnehmer
und Arbeitgeber Klarheit darüber gewinnen, ob Versicherungspflicht und damit Mitgliedschaft in der
gesetzlichen Krankenversicherung besteht oder ob etwa der Abschluss eines privaten
Krankenversicherungsvertrages in Erwägung gezogen werden sollte, ist vorausschauend zu beurteilen,
ob die JAE-Grenze überschritten werden wird (BSG, Urteil vom 07.12.1989 - 12 RK 19/87 - BSGE 66,
124). Hierbei kommt es auf das Entgelt an, auf das der Arbeitnehmer einen Anspruch hat bzw., wenn das
Entgelt schwankt, das sich nach bisherigem Erfahrungswerten schätzen lässt. Weihnachtsgeld ist damit in
die Berechnung mit einzubeziehen, während Überstundenvergütungen oder Sonderzahlungen, soweit sie
nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einmal jährlich zu erwarten sind, außer Betracht zu
bleiben haben (BSG, Urteil vom 25.02.1966 - 3 RK 53/63 - BSGE 24, 262). Sinn und Zweck der
vorausschauenden Schätzung ist vor allem, einen häufigen Wechsel zwischen Versicherungspflicht und
Versicherungsfreiheit zu vermeiden, mithin die Kontinuität des Versicherungsverhältnisses möglichst zu
wahren (BSG, Urteil vom 07.12.1989 - 12 RK 19/87 - BSGE 66, 124). Tritt während des laufenden
Kalenderjahres eine Änderung des tatsächlichen JAE ein, so ist eine Überprüfung und eventuelle
Korrektur der ursprünglichen Beurteilung vorzunehmen. Die Änderung des bezogenen Gehalts ist erst mit
Ablauf des Monats zu berücksichtigen, in dem sie eintritt. Wird die Pflichtversicherungsgrenze hierbei
überschritten, so endet die Versicherungspflicht mit Ablauf des Kalenderjahres (§ 6 Abs. 4 SGB V); wird
die Pflichtversicherungsgrenze hingegen unterschritten, so tritt die Versicherungspflicht sofort ein (BSG,
Urteil vom 29.06.1993 - 12 RK 48/91 - BSGE 72, 292).
Im vorliegenden Fall ist keine Änderung des JAE eingetreten, so dass keine erneute Beurteilung der
Versicherungspflicht durch den Arbeitgeber vorzunehmen war. Das von der Angestellten B bezogene
Arbeitsentgelt hat sich während des vorliegend zu beurteilenden Zeitraums nicht verändert. Zwar ist der
Anspruch auf Weihnachtsgeld infolge der Kündigung des Arbeitsverhältnisses weggefallen, so dass das
Einkommen - umgerechnet auf die verbleibenden Beschäftigungsmonate bei der Klägerin - in der
Rückschau unterhalb der JAE-Grenze lag. Hierin hat sich indes nur das jeder Schätzung immanente
Risiko verwirklicht, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse abweichend entwickeln. Anders als bei einer
Erhöhung oder Senkung des Arbeitsentgelts durch eine neue vertragliche Vereinbarung war vorliegend
aber von Anfang an klar, dass das Weihnachtsgeld nur dann zu zahlen sein wird, wenn das
Arbeitsverhältnis nicht vorzeitig endet; eine nachträgliche Änderung der arbeitsvertraglichen
Vereinbarungen erfolgte hingegen nicht. Da die Beurteilung, ob die Pflichtversicherungsgrenze unter-
oder überschritten wird, indes vorausschauend vorzunehmen ist, kommt es - bei mehreren von vornherein
absehbaren Verlaufsmöglichkeiten - auf die tatsächliche Entwicklung nicht an. Eine andere Sicht würde
auch Sinn und Zweck der vorausschauenden Beurteilung nicht gerecht, die - wie oben dargelegt - vor
allem dazu dient, einen häufigen Wechsel zwischen Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit zu
vermeiden um die Kontinuität des Versicherungsverhältnisses möglichst zu wahren. Im vorliegenden Fall
würde indes - wollte man mit der Beklagten eine rückschauende Korrektur des JAE zulassen - eine
kurzfristige Pflichtversicherungszeit entstehen.
War die Angestellte mithin nicht versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung, so
bestand gemäß § 20 Abs.1 SGB XI auch keine Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.