Urteil des SozG Lüneburg vom 10.06.2009

SozG Lüneburg: arbeitsunfall, fraktur, gesundheitsschaden, unfallversicherung, wahrscheinlichkeit, einwirkung, osteoporose, entstehung, gutachter, schmerz

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 10.06.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 2 U 115/06
1.) Der Bescheid der Beklagten vom 18. August 2006 und der Widerspruchsbescheid vom 27. September 2006
werden aufgehoben. 2.) Es wird festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 9. Mai 2005 um einen Arbeitsunfall
gehandelt hat. 3.) Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Der im Jahr 1944 geborene Kläger hatte bereits am 17. Januar 1979 einen Arbeitsunfall mit einer Verletzung des
rechten Kniegelenks erlitten, der von der F. (=G.) mit einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(= MdE) i. H. v. 30 % entschädigt wurde. Die Rente wurde mit dem Bescheid der G. vom 4. Mai 1998 auf Lebenszeit
abgefunden.
Seit 2001 ist er bei einem Mitgliedsunternehmen der Beklagten, der H., im Rahmen eines geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisses als Techniker beschäftigt. Am 9. Mai 2005 zog er sich während der Arbeit eine Fraktur
des 5. Mittelfußknochens des rechten Fußes zu. Während Dr. I. im Durchgangsarztbericht vom 10. Mai 2005
ausführte, dass der Kläger beim normalen Gehen ein knackendes Geräusch im rechten Fuß und Schmerzen verspürt
habe (Bl. 1 der Akte der Beklagten (= UA)), teilten die Dres. J. im Durchgangsarztbericht vom 11. Mai 2005 mit, dass
der Kläger durch eine Bodenunebenheit mit dem rechten Fuß umgeknickt sei und sich dabei eine Mittelfußfraktur
zugezogen habe (Bl. 4 UA). In der betrieblichen Unfallanzeige vom 14. Juni 2005 gab der Kläger an, dass er auf
irgendetwas getreten und sich dabei den Mittelfußknochen gebrochen habe. Diesen Hergang hat er im Schreiben vom
28. August 2005 auf Nachfrage der Beklagten sowie gegenüber den Gutachtern im K. (=L.) bestätigt (Bl. 37, 77 UA).
Nach dem Ereignis begab sich der Kläger zunächst in das M., wo die Erstversorgung durchgeführt und eine
Gipsschiene angelegt wurde. Ab dem 11. Mai 2005 wurde die Behandlung durch die Dres. J. weitergeführt. In deren
Durchgangsarztbericht vom 11. Mai 2005 wurde ausgeführt, dass eine Kompressionsbehandlung des Hämatoms
durchgeführt und sodann die L-Schiene wieder angelegt worden sei. Seit dem 11. Juli 2005 war der Kläger wieder
arbeitsfähig.
Im Gutachten vom 29. Mai 2006 gelangten die Dres. Prof. N. vom L. zunächst zu dem Ergebnis, dass eine
unfallbedingte, rentenberechtigende MdE bis zum Ende der 44. Kalenderwoche des Jahres 2005 bestanden habe.
Danach würde die MdE nur noch 10 % betragen (Bl. 83 UA). Sie führten aus, dass ein genauer
Verletzungsmechanismus vom Kläger nicht benannt werden konnte. Im Zusammenhang mit den unfallunabhängig
vorbestehenden Hohl- und Spreiz-Füßen würde der Verdacht einer Stressfraktur nahe liegen. Dieser könne auch ohne
äußere Einwirkung auftreten. In der Stellungnahme vom 24. Juni 2006 vertrat der beratende Arzt der Beklagten, Dr.
O., die Ansicht, dass kein Unfallereignis wie bspw. i. S. des Umknickens festgestellt werden könne. Sofern der Kläger
normal gegangen sei, könne dies nur als unfallunabhängige Gelegenheitsursache gewertet werden. Er regte eine
Rückfrage bei den Ärzten des L. an (Bl. 94 UA). Diese gelangten in der Stellungnahme vom 18. Juli 2006 nunmehr zu
dem Ergebnis, dass es sich um einen Ermüdungsbruch aus innerer Ursache gehandelt habe. Hierfür würden auch die
beim Kläger bestehende Fußdeformität und eine vor-bestehende Kalksalzminderung im Bereich des Fußskeletts
sprechen. Da der Kläger Sicherheitsschuhe getragen habe, sei eine Distorsion oder ein direktes Verbiegetrauma
unwahrscheinlich (Bl. 113 UA). Mit dem Bescheid vom 18. August 2006 lehnte die Beklagte die Gewährung von
Entschädigungsleistungen aus Anlass des Ereignisses vom 9. Mai 2005 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass
kein Arbeitsunfall vorgelegen habe. Das Ereignis sei nicht geeignet gewesen, einen Bruch zu verursachen und daher
nicht als dessen rechtlich wesentliche Ursache anzusehen. Vielmehr seien die vorhandenen krankhaften Anlagen
bereits soweit fortgeschritten gewesen, dass es nur eines geringfügigen Anlasses bedurfte, sie hervortreten zu
lassen. Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, dass die Beklagte von einem
unzutreffenden Unfallhergang ausgegangen sei. Er stelle nochmals klar, dass er auf dem Weg zum Dienstfahrzeug
auf etwas getreten sei und wegen der starken Schmerzen nicht mehr habe feststellen können, um welchen
Gegenstand es sich dabei gehandelt habe (Bl. 118 UA). Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom
27. September 2006 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten am 4. Oktober 2004 beim SG Lüneburg Klage
erhoben. Unter dem 18. November 2008 hat Dr. P. ein Zusammenhangsgutachten erstattet. Darin ist er zu dem
Ergebnis gelangt, dass der Unfall eine wesentliche Ursache der Fußfraktur gewesen und die MdE mit 10 %
einzuschätzen ist.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 18. August 2006 und den Wider- spruchsbescheid vom 27. September 2006
aufzuheben, 2. festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 9. Mai 2005 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der
Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gem. § 54 Abs. 1 i. V. m. § 55 Abs. 1 SGG
zulässig (vgl. Bundessozialgericht (= BSG), Urt. v. 15. Februar 2005 - B 2 U 1/04 R). Dem darüber hinaus gestellten
Antrag "auf Gewährung von Entschädigungsleistungen" kommt im vorliegenden Fall keine eigenständige Bedeutung
zu. Er kann insbesondere nicht als Leistungsklage angesehen werden, da es im Verwaltungsverfahren und dem
gerichtlichen Verfahren nur darum ging, ob das angeschuldigte Ereignis ein Arbeitsunfall war (vgl. BSG, a. a. O.;
BSG, Urt. v. 7. September 2004 - B 2 U 46/07 R). Ein auf eine konkrete Leistung gerichteter Antrag wurde nie gestellt
- und auch nicht beschieden. Eine gleichwohl auf die Gewährung einer konkreten Leistung, wie z. B. Verletztenrente,
gerichtete Klage wäre unzulässig (vgl. BSG, Urt. v. 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R). Der Antrag, den Kläger wegen
der Folgen eines Arbeitsunfalls (dem Grunde nach) zu entschädigen, ist daher als Antrag auf Feststellung eines
Arbeitsunfalls auszulegen (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, § 55 SGG, Rz. 13 b).
Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig, da das angeschuldigte Ereignis ein
Arbeitsunfall war. Sie waren daher aufzuheben. Nach § 8 Abs. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (=
SGB VII) ist ein Arbeitsunfall ein Unfall infolge einer versicherten Tätigkeit. Unfälle i. d. S. sind zeitlich begrenzte, von
außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden führen. Zum einen liegt hier ein von
außen auf den Körper des Klägers einwirkendes Ereignis vor. Dieses Tatbestandsmerkmal soll nur ausdrücken, dass
ein aus innerer Ursache kommendes Geschehen nicht als Unfall anzusehen ist. Für die Einwirkung "von außen"
genügt es daher, wenn bspw. der Boden beim Auffallen des Versicherten gegen seinen Körper stößt. Sogar
körpereigene Bewegungen, wie z. B. der Zehenspitzenstand, können äußere Ereignisse sein (Bereiter-Hahn/Mehrtens,
Kommentar zur gesetzlichen Unfallversicherung, § 8 SGB VII, Rz. 11.2, m. w. N.; siehe hierzu Dr. P. Becker: Der
Arbeitsunfall, SGb 2007, 721, 726, m. w. N.). Auch im vorliegenden Fall ist von einem von außen auf den Körper des
Klägers einwirkenden Ereignis auszugehen. Zwar wurde im Durchgangsarztbericht von Dr. I. ausgeführt, dass der
Kläger bei normalem Gehen plötzlich einen stechenden Schmerz verspürt habe. Der Kläger hat jedoch diese
Darstellung von Dr. I. nie bestätigt, sondern alsbald korrigiert. Schon zwei Tage nach dem Unfall hat er nämlich
gegenüber den Dres. J. angegeben, dass er durch eine Bodenunebenheit mit dem rechten Fuß umgeknickt ist und hat
in der Folgezeit in seinen eigenen Stellungnahmen diesen Hergang jeweils bestätigt bzw. konkretisiert. Auch die
Kammer ist daher davon überzeugt, dass sich der Vorgang so zugetragen und Dr. I. den Hergang nur verkürzt und
damit unzutreffend wiedergegeben hat (§ 128 SGG). Dass der Kläger aufgrund der Schmerzen den Gegenstand, auf
den er getreten ist (Stein, Tannenzapfen o. ä.), nicht mehr zuordnen konnte, ist verständlich und in diesem
Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Es besteht jedenfalls kein Anlass, an den eigenen Angaben des
Klägers zu zweifeln, zumal auch das klinische Erscheinungsbild für eine Luxation spricht (vgl. dazu unten S. 6 ff.).
Eine Beweiswürdigung der Beklagten ist demgegenüber nicht erkennbar. Es ist nicht nachzuvollziehen, aus welchen
Gründen sie die Ausführungen im Durchgangsarztbericht von Dr. I. für glaubhafter gehalten hat, als die Angaben des
Klägers.
Anders als beim umgangssprachlichen Verständnis des Unfallbegriffs (der hier in etwa dem des Ereignisses
entspricht) kann allerdings im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ein Arbeitsunfall aufgrund seiner Definition
nur dann vorliegen, wenn dem Ereignis auch ein Gesundheitsschaden zugeordnet werden kann. Dies ist nach den
Anerkennungsgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung nur dann der Fall, wenn ein Zusammenhang zwischen
dem Unfall und dem Gesundheitsschaden hinreichend wahrscheinlich ist. Von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit
i. d. S. ist nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen dann auszugehen, wenn bei einem
vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich
überwiegen (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn
nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und
ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, a. a. O., § 8 SGB VII,
Rz. 10 m. w. N.).
Bei Anwendung dieser Grundsätze ist das Ereignis vom 9. Mai 2005 als Arbeitsunfall anzuerkennen, da es mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit als wesentliche Ursa-che "der Fraktur des 5. Mittelfußknochens sowie einer
endgradigen Bewegungseinschränkung des rechten Fußes" anzusehen ist. Dr. P. hat zunächst schlüssig dargelegt,
dass dieses Ereignis geeignet war, eine Fraktur des 5. Mittelfußknochens zu verursachen. Die Einwände der
Beklagten greifen nicht durch. Zwar gingen die Beklagte und die Gutachter des L. aufgrund der Angaben des Klägers
davon aus, dass dieser Sicherheitsschuhe getragen hat, woraus sie wiederum folgerten, dass ein Umknickereignis
unwahrscheinlich gewesen sei. Sie haben sich jedoch nicht die genaue Beschaffenheit dieser Schuhe verdeutlichen
lassen. Die vom Kläger zum Unfallzeitpunkt getragenen Schuhe hatten nämlich eine weiche Sohle und waren nur im
Bereich der Hacke und der Fußspitze verstärkt. Ein besonderer Ausrutsch- bzw. Umknickschutz war damit daher
nicht verbunden. Darüber hinaus ist auch die Lokalisation des Bruchs am 5. Mittelfußknochen typisch für einen
Luxationsmechanismus (S. 34 des Gutachtens von Dr. P.). Schließlich spricht auch der klinische Verlauf -
insbesondere die baldige Hämatombildung nach dem Ereignis - für ein Verdrehtrauma (S. 32 des Gutachtens von Dr.
P.).
Sofern die Beklagte anführt, dass die wesentliche Ursache für den Bruch in vorbestehenden Krankheitsanlagen
(Osteoporose, Hohl-Spreiz-Fuß) zu erblicken sei und eine sog. Stressfraktur vorgelegen habe, kann dem nicht gefolgt
werden. Um mit einer vorbestehenden Krankheitsanlage bzw. einer inneren Ursache argumentieren zu können, muss
diese nach ihrer Art und in ihrem Ausmaß bewiesen sein (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und
Berufskrankheit, 7. Aufl., S. 489; BSGE 61, 127, 130). Ein solcher Beweis wurde jedoch durch die Gutachter des L.
nicht geführt. Dr. P. hat vielmehr ausführlich und überzeugend dargestellt, dass insbesondere die Diagnose einer
Osteoporose durch nichts belegt wurde, da die hierfür erforderlichen diagnostischen Verfahren (z. B.
Knochendichtemessungen) nicht durchgeführt wurden. Die Entkalkungsreaktion im Bereich des verletzten Fußes ist
vielmehr als Folge der langen Ruhigstellung zu interpretieren, zumal auf der linken Seite keine entsprechenden
Reaktionen vorhanden sind. Dies wäre aber bei Vorliegen einer generellen Osteoporose zu erwarten gewesen. Auch
der beim Kläger bestehende Hohl-Spreiz-Fuß kann das Ereignis nicht in seiner Bedeutung für die Entstehung der
Fraktur relativieren. Selbst die Feststellung eines Vorschadens würde nämlich nicht automatisch dazu führen würde,
das angeschuldigte Ereignis als wesentliche Ursache ausschließen zu können. Vielmehr muss hierzu auch das
Stadium des Vorschadens festgestellt werden (können). Falls die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit
derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage verglichen werden muss, ist nämlich nach höchstrichterli-
cher Rechtsprechung ein arbeitsunfallbedingter Gesundheitsschaden nur dann nicht anzunehmen, wenn die
Krankheitsanlage so stark ausgeprägt ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer
Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedarf, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu
derselben Zeit oder in naher Zukunft die Erscheinung ausgelöst hätte (vgl. BSGE 62, 220, 222, 223). Nur in diesem
Fall würde dem angeschuldigten Ereignis die Bedeutung einer rechtlich unwesentlichen Gelegenheitsursache zukom-
men, weil ein Versicherter grundsätzlich in dem Zustand geschützt ist, in dem er den Versicherungsfall erlitten hat. Ist
hingegen die Feststellung eines derartig ausgeprägten Vorschaden - wie hier - nicht möglich, kann auch der Einwand
der Gelegenheitsursache nicht greifen. Dr. P. hat überzeugend dargelegt, dass die Hohl-Spreiz-Fußbildung nur mäßig
ausgeprägt war und daher als überragender, allein wesentlicher Vorschaden ausscheidet. Außerdem hat er schlüssig
dargelegt, dass sich Stressfrakturen vorzugsweise an anderer Stelle, d. h. am II. und III. Strahl des Mittelfußes,
ausbilden, ihrer Natur nach langsam entstehen und schon im Vorverlauf zu Schmerzen führen. All dies ist war hier
jedoch nicht der Fall. Der Kläger hat schließlich auch keine Tätigkeiten ausgeübt, welche die Entstehung einer
Stressfraktur begünstigen.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von
Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich mit dieser
Entscheidungsform auch einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.