Urteil des SozG Lüneburg vom 03.09.2009

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Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 03.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 28 AS 936/08
1. Der Bescheid des Beklagten vom 21. August 2997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2008 wird
aufgehoben. 2. Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 3. Die Berufung wird
zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung geleisteter Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II
hinsichtlich des Anteils an Unterkunfts- und Heizkosten in Höhe von 575,40 Euro für die Zeit vom 01. Juni bis 31.
August 2007.
Die G. geborene Klägerin bezieht seit dem Jahre 2005 gemeinsam mit ihrem H. geborenen Sohn I.
Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende nach dem SGB II. Sie erhielt vom Beklagten als kommunalem
Grundsicherungsträger mit Bescheid vom 18. April 2007 die Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 320,- Euro
und Heizung in Höhe von monatlich 51,- Euro für die Zeit vom 01. Mai bis 31. Oktober 2007 (Bl. 105 bis 107 der
Verwaltungsakte). Dabei entfielen auf die Klägerin und ihren Sohn jeweils hälftig Leistungen in Höhe von 185,50 Euro.
Die Klägerin nahm am 10. Mai 2007 eine Erwerbstätigkeit auf und erzielte für den Monat Mai Einkommen in Höhe von
1.419,35 Euro brutto. Ab dem 01. Juni 2007 bezog sie vom J. ein Nettoeinkommen von 1.337,70 Euro pro Monat.
Mit Bescheid vom 21. August 2007 (Bl. 2 bis 3 der Verwaltungsakte) hob der Beklagte die Bewilligung ab dem 01.
Juni 2007 auf und forderte die Rückerstattung eines überzahlten Betrages von 575,40 Euro. Er begründete dies damit,
dass mit der Arbeitsaufnahme die Hilfebedürftigkeit der Klägerin entfallen sei. Von den Kosten der Unterkunft seien 44
Prozent der Kosten zu erstatten.
Dagegen legte die Klägerin am 11. September 2007 Widerspruch ein (Bl. 1 der Verwaltungsakte), den sie damit
begründete, dass sie ihre Mitwirkungspflichten nicht verletzt habe. Ferner fehle es an einer Anhörung.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2008 zurück und begründete dies im
Wesentlichen folgendermaßen:
Die Rückforderung erfolge, weil die Klägerin nachträglich Einkommen erzielt habe und nicht wegen Verletzung einer
Mitteilungspflicht.
Dagegen hat die Klägerin am 13. Juni 2008 Klage erhoben.
Sie trägt vor:
Sie habe rechtzeitig im Mai 2007 die Arbeitsaufnahme mitgeteilt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 21. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2008
aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt
der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 21. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2008 erweist
sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten.
Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide sind §§ 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3, 40 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II,
330 Absatz 3 SGB III in Verbindung mit § 50 SGB X.
Ob die angegriffenen Bescheide trotz Unterlassens einer Anhörung nach § 24 SGB X formell rechtmäßig sind, mag
dahin stehen. Insbesondere kann offenbleiben, ob die Ausnahmeregelung des § 24 Absatz 2 Nr. 5 SGB X greift. Dies
mag zweifelhaft sein, weil es sich nicht lediglich um eine Anpassung einkommensabhängiger Leistungen handelte,
sondern darüber hinaus um eine Rückforderung.
Die angefochtenen Bescheide erweisen sich jedoch als materiell rechtswidrig.
Nach § 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 soll ein Verwaltungsakt ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben
werden, wenn nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist,
das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden
des Betroffenen an (vgl. von Wulffen/Wiesner, Kommentar zum SGB X, § 48, Rd. 24;
Kasseler/Kommentar/Steinwedel, § 48, Rd. 51).
Die Klägerin hat im vorliegenden Fall nach Bewilligung der Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende nach dem
SGB II im Monat Mai 2007 Einkommen im Sinne von § 11 Absatz 1 SGB II erzielt, welches bedarfsmindernde
Wirkung hatte.
Die angefochtenen Bescheide wurden gemäß § 37 SGB X lediglich gegenüber der Klägerin bekannt gegeben. Da es
sich jedoch nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 07. November 2006 (- B 7b AS 8/06 R -) beim
Leistungsanspruch um einen Individualanspruch jedes Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft gegen den
Grundsicherungsträger handelt, muss dies auch als actus contrarius bei der Rücknahme gelten. Eine Bekanntgabe
erfolgte gegenüber dem Sohn der Klägerin als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft nicht. Nach der obergerichtlichen
Rechtsprechung wäre aber eine Bekanntgabe gegenüber jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft erforderlich
gewesen (vgl. Beschlüsse des Landessozialgerichtes Berlin-Brandenburg vom 25. August 2006 - L 5 B 549/06 AS ER
-, info also 2006, 268, 271, und 19. November 2007 - L 18 B 1985/07 AS PKH -).
Eine Bekanntgabe gegenüber dem gesetzlichen Vertreter ist grundsätzlich möglich, jedoch muss sich dies
hinreichend bestimmt aus den Bescheiden ergeben. Zweifel daran, dass der Beklagte mit den angefochtenen
Bescheiden rechtswirksame Verfügungen gegenüber der Klägerin als gesetzlicher Vertreterin vornehmen wollte,
ergeben sich offensichtlich aus dem Wortlaut der Bescheide und der Tatsache, dass als Adressat allein die Klägerin
aufgeführt wurde.
Denn die Bescheide fordern ausdrücklich die Rückzahlung der gesamten Summe, also auch des Anteils der übrigen
Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, von der Klägerin. In den Bescheiden wird ausdrücklich zum Ausdruck gebracht,
dass die Klägerin zu Unrecht Leistungen erhalten habe, welche von ihr zurückzuverlangen seien. Rechtswirkungen für
den Sohn waren aus dem Wortlaut nicht erkennbar. Die hinreichende Bestimmtheit ist grundsätzlich nach dem
Empfängerhorizont des Adressaten zu bewerten, welcher erkennen können muss, welches Rechtshandeln von ihm
verlangt wird (so auch Urteil des Sozialgerichtes Schleswig vom 13. Juni 2006 - S 9 AS 834/06 -). Insbesondere muss
der Verwaltungsakt gemäß § 33 SGB X in sich widerspruchsfrei sein (vgl. von Wulffen/Engelmann § 33, Rd. 3;
Beschlüsse des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 2007 - L 20 B 321/06 AS ER - und 13.
September 2007 - L 20 B 152/07 AS ER -). Letzteres ist hier gerade offensichtlich nicht der Fall, weil nach dem
Wortlaut allein die Klägerin einen Betrag von 575,40 Euro zurückzugewähren habe. Der Sohn wird nicht erwähnt. Der
auf die Klägerin entfallende Erstattungsbetrag berechnet sich hingegen lediglich aus der Hälfte der Leistungen des
kommunalen Trägers bzw. aus § 40 Absatz 2 Satz 1 SGB II, wie sich aus dem Bewilligungsbescheid vom 18. April
2007 ergibt, welcher die Leistungsanteile der Personen der Bedarfsgemeinschaft aufschlüsselt. Er lässt sich gerade
nicht den angegriffenen Bescheiden entnehmen, so dass mangelhafte Bestimmtheit vorliegt (vgl. Urteil des
Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 19. Juni 2009 - L 7 AS 66/08 -; Beschluss des
Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 2007 aaO; Beschluss des Landessozialgerichtes Berlin-
Brandenburg vom 25. August 2006 aaO; Urteil des Hessischen Landessozialgerichtes vom 12. März 2007 - L 9 AS
33/06 -; Beschluss des Sozialgerichtes Dortmund vom 28. August 2006 - S 31 AS 340/06 ER -; Urteil des
Sozialgerichtes Gießen vom 13. November 2006 - S 26 AS 551/05 -).
Der Aspekt der hinreichenden Bestimmtheit gemäß § 33 Absatz 1 SGB X steht einer Auslegung der angefochtenen
Bescheide dahingehend entgegen, dass zumindest eine rechtswirksame Aufhebung und Rückforderung gegenüber der
Klägerin hinsichtlich des auf sie entfallenden geringeren als tatsächlich im Verfügungssatz genannten Betrages
anzunehmen wäre. Denn der Beklagte muss sich am klaren Wortlaut seiner Bescheide festhalten lassen.
Verfügungssatz und materielle Rechtslage stimmen nicht überein. Aus der Perspektive des Empfängerhorizontes war
aus den angefochtenen Bescheiden nicht zu erkennen, welche Summe die Klägerin zurückzugewähren hatte, zumal
der Verfügungssatz ausdrücklich die gesamte Summe nur von ihr verlangte.
Die Kammer folgt nicht dem Urteil des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 30. September 2008 (- L 9
AS 479/07 -), welches sich nicht mit der zitierten Rechtsprechung auseinandersetzt und das Postulat aufstellt, dass
der Betroffene zumindest die zu Unrecht erhaltenen Leistungen zurückzahlen solle. Der die Rückforderung regelnde
Verwaltungsakt muss aber selbst rechtmäßig sein. Inhalt des Bestimmtheitsgebotes ist, dass der Betroffene klar
erkennen kann, welche Rechtsfolge die Behörde gegenüber ihm setzen möchte. Gerade dies ist vorliegend aber nicht
der Fall.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.
Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer des
Beklagten mit 575,40 Euro unterhalb des Schwellenwertes von 750,- Euro liegt.
Die Berufung kann zugelassen werden, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und nicht von
einer Entscheidung des Landessozialgerichtes, des Bundessozialgerichtes, des Gemeinsamen Senates der Obersten
Gerichtshöfe oder des Bundesverfassungsgerichtes abweicht sowie auf dieser Abweichung beruht.
Die Kammer lässt die Berufung zu, weil teilweise Divergenz zu Entscheidungen des Landessozialgerichtes
Niedersachsen-Bremen besteht. So vertritt der 9. Senat die Rechtsauffassung, dass bei einer Gesamtrückforderung,
welche nur gegenüber einem Mitglied einer aus mehreren Personen bestehenden Bedarfsgemeinschaft bekannt
gegeben wurde, nur im Hinblick auf letztere Wirksamkeit bestehe und die Bescheide im Übrigen nicht unbestimmt
seien, so dass zumindest der Anteil der Person zurückgefordert werden könne, gegenüber dem die Bekanntgabe
stattgefunden hat (vgl. Urteil vom 30. September 2008 - L 9 AS 479/07 -). Demgegenüber vertritt der 7. Senat
desselben Obergerichtes die Rechtsansicht, dass die Erstattungsforderung insgesamt rechtswidrig sei, weil die
Bescheide unbestimmt seien (vgl. Urteil vom 19. Juni 2009 - L 7 AS 66/08 -).