Urteil des SozG Lüneburg vom 02.03.2009

SozG Lüneburg: treu und glauben, härte, merkblatt, verschulden, behörde, verspätung, arbeitsförderung, gerichtsakte, beratungspflicht, sozialhilfe

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 02.03.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 7 AL 87/08
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin erstrebt von der Beklagten im Rahmen einer Bescheidungsklage die Gewährung einer Fahrtkostenbeihilfe
im Rahmen einer Beschäftigungsaufnahme.
Die E. geborene Klägerin wohnt in F., meldete sich am 11. Juli 2007 ab dem 18. Juli arbeitslos und erhielt bis zum 27.
Februar 2008 Arbeitslosengeld. Sie bestätigte am 09. Juli 2007 den Erhalt des Merkblattes für Arbeitslose 1. Auf
Seite 28 war unter der Überschrift "Weitere Hilfen" folgender Passus enthalten:
"Ihre Agentur für Arbeit wird Ihre eigenen Bemühungen, eine Arbeits- oder Berufsausbildungsstelle zu erhalten,
unterstützen. So kann sie unter bestimmten Voraussetzungen finanzielle Hilfen zur Förderung der Aufnahme einer
Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit leisten. Wichtig ist dabei, dass Sie diese Hilfen vor der Arbeitsaufnahme,
dem Eintritt in ein Ausbildungsverhältnis oder der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit bzw. bevor die Kosten
entstanden sind, beantragen. Näheres entnehmen Sie bitte dem Merkblatt 3 "Vermittlungsdienste und Leistungen für
Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmer", das Sie bei Ihrer Agentur für Arbeit erhalten können."
Am 11. März 2008 nahm sie eine bis zum 02. November 2008 befristete Anstellung bei der G. auf (Arbeitsvertrag vom
11. März 2008), wobei ihr ein Stundensatz von 6,40 Euro gezahlt wurde. H. ist 43 km von ihrem Wohnort entfernt.
Die Klägerin beantragte am 17. März 2008 die Gewährung einer Fahrtkostenbeihilfe.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 02. April 2008 ab und begründete dies damit, dass der Antrag erst
nach Arbeitsaufnahme gestellt worden sei. Über die Pflicht zur vorherigen Antragstellung sei sie anhand des
Merkblattes 1 informiert worden.
Dagegen legte die Klägerin am 16. April 2008 Widerspruch ein, den sie damit begründete, dass eine unbillige Härte
vorliege, weil sie von der Beklagten nicht beraten worden sei. Das Ermessen sei auf Null reduziert.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. April 2008 zurück und begründete dies im
Wesentlichen folgendermaßen:
Der Antrag sei ohne anerkennenswerten Grund verspätet gestellt worden, so dass keine unbillige Härte vorliege.
Dagegen hat die Klägerin am 05. Mai 2008 Klage erhoben.
Sie trägt unter Bezugnahme auf die Widerspruchsbegründung vor:
Sie habe das Merkblatt 3 erst mit dem Ablehnungsbescheid erhalten. Die Klägerin habe am 09. Juli 2007 den Erhalt
des Merkblattes für Arbeitslose 1 erhalten, aber sei sich über die Tragweite der Erklärung nicht im klaren gewesen,
wie sich durch die unsicheren Ausfüllung des Antrags auch zeige. Sie habe erst von einer Arbeitskollegin erfahren,
dass eine Fördermöglichkeit bestehe. Eine bis anderthalb Stunden vor den Arbeitsantritt am 11. März 2008 habe sie
telefonisch einer Mitarbeiterin der Beklagte mitgeteilt, dass den Arbeitsplatz wechseln und in H. arbeiten werde.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.
April 2008 zu verpflichten, den Antrag auf Gewährung einer Fahrkostenbeihilfe nach der Rechtsauffassung des
Gerichtes zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:
Ein Beratungsverschulden sei nicht ersichtlich. Die Klägerin habe am 21. Februar 2008 telefonisch die Aufnahme
einer Beschäftigung bei I. angezeigt (Bl. 54 der Gerichtsakte).
Die Beteiligten wurden von der Kammer über die Möglichkeit, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, angehört.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt
der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat keinen Erfolg.
Der Rechtsstreit wird nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105
Absatz 1 SGG entschieden, denn der Sachverhalt ist geklärt und die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten
rechtlicher oder tatsächlicher Art auf.
Der Bescheid der Beklagten vom 02. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2008 erweist
sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in eigenen Rechten.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf erneute Bescheidung des Antrags auf Gewährung von Fahrtkostenbeihilfe nach
der Rechtsauffassung des Gerichtes.
Rechtsgrundlage der angegriffenen Bescheide sind §§ 53, 54 SGB III in der Fassung vom 24. März 1997 (BGBl. I S.
594), zuletzt geändert durch Artikel 1 und 3 des Fünften Gesetzes zur Änderung des SGB III - Verbesserung der
Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen vom 26. August 2008 (BGBl. I S. 1728).
Nach § 53 Absatz 1 SGB III können Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitssuchende, die eine
versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen, durch Mobilitätshilfen gefördert werden, soweit dies zur Aufnahme
der Beschäftigung notwendig ist.
Nach Absatz 2 der Norm umfassen die Mobilitätshilfen bei Aufnahme einer Beschäftigung ( )
Nr. 3 a tägliche Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle (Fahrtkostenbeihilfe).
Gemäß § 54 Absatz 4 können als Fahrkostenbeihilfe für die ersten sechs Monate der Beschäftigung die
berücksichtigungsfähigen Fahrtkosten übernommen werden.
Nach § 323 Absatz 1 Satz 1 SGB III werden Leistungen der Arbeitsförderung auf Antrag erbracht. Nach § 324 Absatz
1 Satz 1 SGB III werden Leistungen der Arbeitsförderung nur erbracht, wenn sie vor Eintritt des
leistungsbegründenden Ereignisses beantragt worden sind. Nach Satz 2 kann die Agentur für Arbeit zur Vermeidung
unbilliger Härten eine verspätete Antragstellung zulassen.
Der Antrag auf Gewährung von Fahrtkostenbeihilfe ist verspätet, erst nach Eintritt des leistungsbegründenden
Ereignisses gestellt worden. Dieses ist dasjenige Ereignis, welches als zuletzt eintretendes den Leistungsfall auslöst.
Im Rahmen der aktiven Arbeitsförderung ist auf das Ereignis abzustellen, welches den unmittelbaren Leistungsbedarf
auslöst und den Anfall der Kosten bewirkt, die die Agentur für Arbeit zu übernehmen hat (vgl. Niesel, Kommentar zum
SGB III, § 324, Rd. 4-5). Dabei geht es um den Lebensvorgang, der im Zentrum des Regelungsziels steht (vgl. Gagel-
Hünecke, Kommentar zum SGB III, § 324, Rd. 12). Vorliegend ist dies gemäß § 53 Absatz 1 SGB III der Zeitpunkt
der Aufnahme der Beschäftigung am 11. März 2008. Die Klägerin stellte den Antrag erst am 17. März 2008. Eine
frühere telefonische Antragstellung konnte sie nicht nachweisen. Am 21. Februar 2008 fand zwar ein Gespräch mit
einer Mitarbeiterin der Beklagten, dessen Inhalt aber die Aufnahme einer Arbeit bei I. war. Nach ihren eigenen
Angaben hat sie erst eine Woche vor dem 11. März 2008 überhaupt erfahren, dass sie die Erwerbstätigkeit bei der G.
aufnahm. Somit kann diese Arbeitsaufnahme objektiv nicht Inhalt des Telefongespräches gewesen sein. Weitere
Telefongespräche vor dem 11. März konnte die Klägerin nicht nachweisen. Entsprechende Vermerke der Beklagte,
die in diesem Falle gefertigt worden wären, existieren nicht.
Eine verspätete Antragstellung kann nicht zugelassen werden, weil keine unbillige Härte im Sinne von § 324 Absatz 1
Satz 2 SGB III a.F. festgestellt werden kann.
Bei dem Tatbestandsmerkmal der unbilligen Härte handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen
Bedeutung sich nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt. Es ist jeweils auf die Modalitäten des Einzelfalles
abzustellen (vgl. Niesel § 323, Rd. 10; Urteil des Bundessozialgerichtes vom 03. Juli 2003 - B 7 AL 46/02 R -). Zu
prüfen ist in jedem Einzelfall, welche Bedeutung die Versäumung eines Antrags nach Sinn und Zweck der die
begehrte Leistung regelnden Vorschrift für den Anspruchsteller hat und wie demgegenüber das Interesse der
Versichertengemeinschaft zu bewerten ist, so dass eine Güterabwägung vorzunehmen ist (vgl. Urteil des
Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 23. April 2004 - L 8 AL 4489/06 -; Eicher- Schlegel-Leitherer,
Kommentar zum SGB III, § 324, Rd. 32).
Eine unbillige Härte kann insbesondere dann gegeben sein, wenn dadurch der Bezug von Sozialhilfe oder
Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende nach dem SGB II des Klägers verursacht werden würde (vgl. Gagel-
Hünecke § 324, Rd. 17 a).
Die bloße Unkenntnis darüber, dass ein Anspruch auf eine Leistung bestanden hätte, wenn der Antrag auf Leistung
rechtzeitig gestellt worden wäre, genügt nicht (vgl. Niesel § 324, Rd. 10).
Ein verspäteter Antrag ist zuzulassen, wenn die Berufung des Leistungsträgers auf die Verspätung sich als Verstoß
gegen Treu und Glauben erweist. Dies ist der Fall, wenn den Begünstigten kein Verschulden an der verspäteten
Antragstellung trifft, die Versäumung aber ursächlich auf eine Verletzung der Beratungspflicht der Behörde
zurückzuführen ist (vgl. Urteil des Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 17. März 2006 - L 8 AL 2899/04 -).
Die Verspätung muss in diesem Kontext Folge einer Beratungspflichtverletzung sein (vgl. Urteil des
Bundessozialgerichtes vom 08. Februar 2007 - B 7a AL 22/06 R -).
Bei Leistungen, bei denen Mitnahmeeffekte zu erwarten sind, ist die unbillige Härte eng auszulegen und auf Fälle zu
begrenzen, in denen die Agentur für Arbeit die verspätete Antragstellung durch ihr Verhalten mitverursacht hat (vgl.
Urteile des Bundessozialgerichtes vom 08. Februar 2007 - B 7a AL 36/06 R und B 7a AL 36/06 R -; Gagel-Hünecke §
324, Rd. 17; Eicher-Schlegel-Leitherer § 324, Rd. 33).
Die Klägerin hat die verspätete Antragstellung zu vertreten. Sie erhielt am 09. Juli 2007 das Merkblatt für Arbeitslose
1.
Sie erklärte im Rahmen der mündlichen Verhandlung, dass sie das Merkblatt zwar erhalten, aber nicht gelesen hatte.
Sie wäre nach ihren intellektuellen Fähigkeiten, von denen sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung ein Bild
fertigen konnte und welche durch einen Realschulabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung als
Einzelhandelskauffrau dokumentiert sind, ohne weiteres in der Lage gewesen, den Inhalt des Merkblatts zur Kenntnis
zu nehmen. Aus Blatt 28 des Merkblattes ergibt sich klar und unmissverständlich, dass finanzielle Hilfen zur
Förderung einer Beschäftigung vor der Arbeitsaufnahme bzw. bevor die Kosten entstanden sind, zu beantragen sind.
Die Lektüre des Merkblattes wäre im Übrigen auch zumutbar gewesen.
Die Klägerin hätte somit vor Arbeitsaufnahme bei der G. wissen können, dass die Fahrtkostenbeihilfe vor Antritt der
Beschäftigung bei der Beklagten zu beantragen war. Bei Unklarheiten hätte sie die Möglichkeit gehabt, ggf.
Rückfragen an die Beklagte zu richten. Das Unterlassen der Kenntnisnahme des entsprechenden Passus in dem
Merkblatt begründet zumindest einen fahrlässigen Sorgfaltsverstoß.
Neben dem subjektiven leichten Verschulden der Klägerin ist zu konstatieren, dass eine Falschberatung der
Beklagten nicht nachgewiesen worden ist. Diese lässt sich nicht aus den vorgelegten Telefonvermerken konstruieren,
da die Beklagte erstmalig am 17. März 2008 von der Arbeitsaufnahme erfuhr. Eine Beratungssituation bestand dabei
nicht aufgrund des Telefonates vom 21. Februar 2008, weil die Klägerin zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis von
der Beschäftigung in H. hatte. Aufgrund dessen traf die Behörde in diesem Fall auch nicht die Pflicht zur
Spontanberatung.
Im Rahmen einer Gesamtabwägung trifft die Behörde an der Verspätung kein Verschulden. Demgegenüber
überwiegen Verschuldensmomente des Klägers, die es insgesamt als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen, vom
atypischen Fall einer unbilligen Härte auszugehen. Dies gilt gerade auch im Kontext mit der Tatsache, dass beim
Bezug von Fahrtkostenbeihilfe unter Umständen Mitnahmeeffekte auftreten können.
Gegen diesen Gerichtsbescheid ist die Berufung zulässig, weil der Streitwert den Schwellenwert von 750,- Euro (§ 144
Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) überschreitet. Fahrtkostenbeihilfen können maximal für die ersten sechs Monate der
Beschäftigung bewilligt werden (§ 54 Absatz 4 SGB III). Daraus ergibt sich vorliegend aufgrund der
ermessenslenkenden Weisungen der Beklagten ein maximaler Betrag von monatlich 260,- Euro, das heißt für die
streitige Zeit von maximal 1.560,- Euro.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.