Urteil des SozG Lüneburg vom 14.01.2010

SozG Lüneburg: versicherungsschutz, fahrzeug, arbeitsunfall, wagen, wiederherstellung, werkstatt, arbeitsstelle, missverhältnis, entschädigung, feststellungsklage

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 14.01.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 2 U 120/05
1.) Der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2005 und der Widerspruchsbescheid vom 30. August 2005 werden
aufgehoben. 2.) Es wird festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 11. Februar 2005 um einen Arbeitsunfall
gehandelt hat. 3.) Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendi- gen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
4.) Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Wegeunfalls.
Die im Jahr 1979 geborene Klägerin ist seit Dezember 2002 in einem Mitgliedsunternehmen der Beklagten, einem
Baumarkt, als Angestellte tätig. Ihre Mittagspause von etwa einer Stunde Dauer verbringt sie grundsätzlich in ihrer ca.
3 km entfernt liegenden Wohnung. Den Weg dorthin legt sie mit ihrem eigenen Kfz zurück, so auch am 11. Februar
2005. In ca. 500 m Entfernung von dem Baumarkt starb an diesem Tag an der einer Kreuzung der Motor ihres Kfz ab
und sprang nicht mehr an. Ein vorbeikommender Kollege, Herr I., half der Klägerin. Da der Wagen nicht gestartet
werden konnte, wurde beschlossen, diesen mit Hilfe des Pkw des Herrn I. zurück zum Parkplatz des Baumarkts zu
schleppen. Während des Abschleppvorgangs musste Herr I. an einer roten Ampel halten. Dabei fuhr die Klägerin auf
dessen Fahrzeug auf. Nach den Angaben im Durchgangsarztbericht von Dr. J. vom 11. April 2005 zog sie sich dabei
"eine Zerrung der Halswirbelsäule, eine Prellung der Brustwirbelsäule und eine Distorsion der linken Schulter" zu. Da
es ihr aufgrund ihrer Beschwerden nicht möglich war, den Abschleppvorgang fortzusetzen, zog Herr I. den Wagen der
Klägerin mit Hilfe seines Kfz auf eine Grünfläche. Danach fuhr er die Klägerin in seinem Fahrzeug zurück zum
Gelände des Baumarktes, wo die Klägerin aufgrund ihrer Beschwerden von ihrem Ehemann abgeholt wurde.
Mit dem Bescheid vom 3. Mai 2005 lehnte die Beklagte "die Entschädigung des Unfalls vom 11. Februar 2005" ab.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Zusammenhang der zum Unfall führenden Tätigkeit mit
der versicherten Tätigkeit nicht fest-gestellt werden könne. Der Abschleppvorgang habe allein persönlichen Zwecken
gedient, so dass die Klägerin zum Unfallzeitpunkt nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallver-sicherung
gestanden habe. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 30. August 2005
zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 21. September 2005 durch ihre Prozessbevollmächtigten beim Sozialgericht (= SG)
Lüneburg Klage erhoben und geltend gemacht, dass die Kollision während des Abschleppvorgangs in unmittelbarem
Zusammenhang zu der versicherten Fahrt vom Dienstort nach Hause gestanden habe. Aus diesem Grund habe
Versicherungsschutz bestanden.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt (sinngemäß),
1.) den Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2005 und den Widerspruchsbescheid vom 30. August 2005 aufzuheben,
2.) festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 11. Februar 2005 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat,
3.) die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Entschädigungsleistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten und die Zeugenaussagen zugrunde gelegt.
Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, soweit die Feststellung begehrt wird, dass es sich bei dem Ereignis vom 11. Februar 2005 um
Die Klage ist zulässig, soweit die Feststellung begehrt wird, dass es sich bei dem Ereignis vom 11. Februar 2005 um
einen Arbeitsunfall gehandelt hat. Unzulässig ist die Klage, soweit die Gewährung von Entschädigungsleistungen
beantragt wurde. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (= BSG) ist nur eine kombinierte Anfechtungs-
und Feststellungsklage zulässig, sofern - wie hier - ein Unfallversicherungsträger das Vorliegen eines Arbeitsunfalls
per se abgelehnt und Feststellungen über das Vorliegen von konkreten Leistungsansprüchen nicht getroffen hat. Ein
abstrakter Antrag, wie etwa " die Beklagte zu verurteilen, Entschädigungsleistungen zu erbringen", ist nach der
Rechtsprechung des BSG unzulässig (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 9. Aufl., § 55 SGG, Rz. 13 b, m. w. N.;
BSG, Urt. v. 7. September 2004 - B 2 U 46/03 R; Urt. v. 5. September 2006 - B 2 U 24/05 R; BSG, Urt. v. 16.
November 2005 - B 2 U 28/04 R). Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - im angefochtenen Bescheid die Gewährung
einer Entschädigung ausdrücklich abgelehnt wurde (und die Klägerin mit einem entsprechenden Antrag lediglich auf
die Ausführungen im angefochtenen Bescheid reagiert). Damit wurde nämlich hier nur zum Ausdruck gebracht, welche
Folgerungen sich aus der Ablehnung des Arbeitsunfalls ergeben. Da nicht ersichtlich ist, dass im Verwaltungs- bzw.
Widerspruchsverfahren konkrete Leistungen beantragt wurden, kann die Frage einer Leistungsgewährung kein
Gegenstand dieses Verfahrens sein.
Die Feststellungsklage ist auch begründet, da es sich bei dem angeschuldigten Ereignis um einen Arbeitsunfall
gehandelt hat. Die angefochtenen Bescheide waren daher aufzuheben. Daran, dass die Klägerin einen Unfall i. S. des
§ 8 Abs. 1 SGB VII erlitten hat, bestehen keinen Zweifel. Streitig war lediglich die Frage des Versicherungsschutzes
zum Unfallzeitpunkt. Gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist auch "das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit
zusammenhängenden Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit", m. a. W. der Weg zur Arbeit und der Weg von der
Arbeit nach Hause, eine versicherte Tätigkeit. Auch mehrfache Wege zwischen der Wohnung und der Arbeit sind
versichert (Bereiter-Hahn/ Mehrtens, Kommentar, § 8 SGB VII, Rz. 12.10, m. w. N.; BSG, Urt. v. 4. September 2007 -
B 2 U 24/06 R). Unschädlich ist auch, dass die Klägerin zu Hause etwas essen wollte, da der Weg zur
Nahrungsaufnahme - auch außerhalb des Betriebsgeländes - grundsätzlich unter Versicherungsschutz steht (BSG
SozR 2200 § 548 Nr. 97).
Der Versicherungsschutz wurde darüber hinaus auch nicht durch die Autopanne und den nachfolgenden
Abschleppvorgang unterbrochen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung stehen Reparaturmaßnahmen
zunächst dann unter Versicherungsschutz, wenn sie -wie hier - unvorhergesehen vor Antritt der Fahrt oder während
der Fahrt notwendig werden, damit der restliche Weg zurückgelegt werden kann (BSG, Urt. v. 4. September 2007 - B
2 U 24/06 R; vgl. BSG, Urt. v. 11. August 1998 – B 2 U 29/97, abgedruckt im NZS 1999, S. 40, 41 (Tanken); BSGE
16, 245), wobei an diese Voraussetzungen keine zu strengen Anforderungen gestellt werden sollen (Schwerdtfeger in
Lauterbach, Unfallversicherung, Kommentar, § 8 SGB VII, Rz. 434, m. w. N.). Bei Maßnahmen zur Behebung einer
während eines versicherten Weges auftretenden Störung hat das BSG weiterhin das Fortbestehen des
Versicherungsschutzes bejaht, wenn kein Zurücklegen des Weges ohne Behebung der Störung auf andere Art
möglich ist, die Wiederherstellung der Betriebfähigkeit nach Art und Zeitaufwand nicht in einem Missverhältnis zur
Dauer des Weges im Ganzen steht und der Versicherte sich auf solche Maßnahmen beschränkt, die zur Fortsetzung
des Weges notwendig sind. (BSG, Urt. v. 4. September 2007 - B 2 U 24/06 R, m. w. N.). Sofern man diese
Grundsätze in entsprechender Anwendung auf den vorliegenden Fall überträgt, ist auch hier von einem
weiterbestehenden Versicherungsschutz auszugehen. Die Klägerin hätte insbesondere den Weg nicht ohne Behebung
der Störung auf andere Weise zurücklegen können. Die Entfernung von insgesamt ca. 5 - 6 km nach Hause zur
Mittagspause und zurück zur Arbeitsstelle wäre in den verbliebenen 45 Minuten Mittagspause zu Fuß nicht mehr auf
zumutbare Weise zu bewältigen gewesen. Eine Reparaturmaßnahme war daher in jedem Fall angezeigt.
Welche Verrichtungen nötig gewesen wären, um die Fortsetzung des Weges zu ermöglichen und ob ggf. die
Maßnahmen zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit nach Art und Zeitaufwand zu einem Missverhältnis zur Dauer
des Weges im Ganzen stehen würden, konnte die Klägerin zum Zeitpunkt der Havarie allerdings nicht beurteilen. Die
fachkundig erscheinenden Pannentipps der Beklagten im Schriftsatz vom 29. Oktober 2009 sind hypothetisch und
damit für den vorliegenden Fall nicht relevant. Entscheidend ist vielmehr, dass es der Klägerin mit ihrem
Kenntnisstand faktisch nicht gelungen ist, den Motor wieder zu starten. In dieser Situation war sie aus Gründen der
Verkehrssicherungspflicht gehalten, ihr Fahrzeug so bald wie möglich aus dem Kreuzungs- bzw. Gefährdungsbereich
zu entfernen und zu klären bzw. klären zu lassen, welches der Grund für die Fahruntüchtigkeit des Fahrzeugs war.
Aus diesem Grund wäre grundsätzlich auch das Herbeirufen eines Pannendienstes angemessen gewesen, der das
Fahrzeug ggf. in eine Werkstatt verfrachtet und dort inspiziert hätte. Dies wäre aber vermutlich innerhalb der
verbliebenen Zeit der Mittagspause ebenfalls nicht zu bewerkstelligen gewesen.
Bei lebensnaher Betrachtungsweise ergibt sich daher, dass an die Fortsetzung des Heimwegs in dieser Situation nicht
mehr zu denken war. Vielmehr musste sich die Klägerin auch noch zusätzlich vergegenwärtigen, wie Sie innerhalb der
Mittagspause zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehren konnte. Sie wollte daher sinnvoller Weise ihren Wagen nicht zu
einer Werkstatt, sondern mit Hilfe eines Kollegen zurück zur Betriebsstätte schleppen lassen. Dadurch wäre
sichergestellt gewesen, dass
- das Fahrzeug aus der Gefahrenzone entfernt worden wäre, - auf sicherem Terrain hätte eruiert werden können,
welche Maßnahmen nötig sind, um die Fahrfähigkeit des Kfz wiederherzustellen - und vor allem, dass die Klägerin
das Betriebsgelände vor dem Ende der Mittagspause zur Arbeitsaufnahme wieder erreichen konnte.
Ausgehend von den Kriterien der Unvorhergesehenheit und der Relation des Weges zu den ergriffenen Maßnahmen ist
daher im vorliegenden Fall für den Versicherungsschutz unschädlich gewesen, dass das ursprüngliche Vorhaben,
nach Hause zu fahren, aufgegeben und stattdessen sogar die Rückkehr zur Arbeitsstätte ins Auge gefasst wurde.
Wenn sogar der Umweg für einen unvorhergesehenen Reparatur- oder Tankvorgang unter Versicherungsschutz steht
(BSG SozR 2200 § 550 Nr. 39), dann muss dies erst recht dann gelten, wenn sich der Unfall - wie hier - auf dem
ohnehin grundsätzlich versicherten Rückweg zur Arbeitsstelle ereignete.
Soweit die Beklagte davon ausgeht, dass die Klägerin zum Baumarkt zurückfahren wollte, um dort auf ihren Ehemann
und den Kfz-Meister zu warten, ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Intention erst nach dem Unfall entwickelt hat.
Der Ehemann sollte die Klägerin abholen, weil sie ihr aufgrund der Unfallfolgen Beschwerden hatte.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von
Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich mit dieser
Entscheidungsform auch einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Obwohl die Klage bezüglich der Verurteilung zu einer Leistung nicht
erfolgreich war, hat die Beklagte der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Gänze zu erstatten. Die
Beklagte hat durch die weite Formulierung ihres Verfügungssatzes im Bescheid vom 3. Mai 2005 wesentlich dazu
beigetragen, dass im vorliegenden Verfahren ein Leistungsantrag gestellt wurde (vgl. BSG, Urt. v. 16. November 2005
- B 2 U 28/04 R).