Urteil des SozG Lüneburg vom 26.01.2010

SozG Lüneburg: rehabilitation, medizinisches gutachten, hauptsache, erwerbsfähigkeit, gefahr, form, haftstrafe, entwöhnungstherapie, glaubhaftmachung, strafvollstreckung

Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 26.01.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 13 R 26/10 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation für Abhängigkeitskranke in Form einer stationären Entwöhnungstherapie im C. zu gewähren. Die
Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
I.
Der unstreitig drogenabhängige Antragsteller sitzt derzeit in der JVA D. ein. Hintergrund der Haftstrafe war ausweislich
der Verwaltungsakten Beschaffungskriminalität für Drogen. In den Jahren 2000 bis 2008 führte der Antragsteller
mehrere Entwöhnungsmaßnahmen in unterschiedlichen Kliniken durch, die er jedoch vorzeitig beendete. Seit dem
Jahr 2004 ist der Antragsteller inhaftiert.
Der Antragsteller stellte bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe für Versicherte
(Rehabilitationsantrag). Insbesondere beantragte er die Kostenübernahme einer stationären Entwöhnungstherapie
nach §§ 35,36 Betäubungsmittelgesetz (BTMG). Die Antragsgegnerin holte einen Befundbericht der behandelnden
Ärztin ein und zog einen Sozialbericht des Suchtberatungsdienstes der JVA D. vom 09. Oktober 2009 bei. Eine
ärztliche Begutachtung durch die Antragsgegnerin erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 21. Oktober 2009 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers ab. Gegen den
Bescheid legte der Antragsteller Widerspruch ein.
Mit Widerspruchsbescheid vom 08. Dezember 2009 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers
zurück. Sie führte in diesem Widerspruchsbescheid aus, bei dem Antragsteller sei eine Mehrfachabhängigkeit
(Alkohol, Opiate, Medikamente) sowie Hepatitis C diagnostiziert worden. Jedoch bestehe nicht die Aussicht auf
wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durch die beantragte Maßnahme. Hierfür seien
die notwendige Krankheitseinsicht, die positive Motivation sowie die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit erforderlich.
Dem Antragsteller seien jedoch bereits mehrere Therapien bewilligt worden, deren Erfolg nie dauerhaft gewesen sei.
Sämtliche Entwöhnungsbehandlungen seien vorzeitig ohne ärztliches Einverständnis abgebrochen bzw. aus
disziplinarischen Gründen vorzeitig beendet worden. Letztlich sei während der durchgeführten Maßnahmen keine
Bereitschaft zur Veränderungen des Verhaltens des Antragstellers erkennbar geworden. Zudem dürfte die Motivation
zu der beantragten Therapie durch die zu verbüßende Haftstrafe und die mit der Durchführung einer Therapie
verbundenen Aussicht auf Zurückstellung der Strafvollstreckung und einer sich gegebenenfalls anschließenden
Verkürzung der Strafe bedingt sein. Nach Auffassung der Antragsgegnerin seien Anhaltspunkte dafür, dass in der
Persönlichkeitsentwicklung des Antragstellers nunmehr eine entscheidende Wende stattgefunden habe und die
Gründe, die in der Vergangenheit zum Abbruch der begonnenen Therapien bzw. zu den Rückfällen geführt hatten,
inzwischen ausgeräumt seien, nicht erkennbar und ließen sich auch nicht aus dem Befundbericht der behandelnden
Ärztin sowie dem Sozialbericht ableiten. Die Antragsgegnerin habe sich daher nicht davon überzeugen können, dass
hier ein ausreichender Erfolg der beantragten Maßnahme erwartet werden könne.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Antragsteller am 17. Dezember 2009 Klage erhoben. Das Verfahren ist
nach wie vor anhängig.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag
eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges.
Voraussetzung für den Erlass der hier vom Antragsteller begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2
SGG, mit der er die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II begehrt, ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit
der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch).
Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. § 920 Abs.
2 ZPO).
Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens
grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die
bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in
einem Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu
Lasten des Antragstellers ausginge, nur unter sehr großen Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden
könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare,
anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zur deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 m.w.N.)
Im vorliegenden Fall wurde ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat einen Anspruch gemäß
§§ 9, 10, 11 SGB VI auf Gewährung der von ihm im Eilverfahren beantragten Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation für Abhängigkeitskranke in Form einer stationären Entwöhnungstherapie der Einrichtung E ...
Der Anragsteller ist unstreitig drogenabhängig, was seine Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet bzw. mindert. Die
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen liegen ebenfalls vor.
Der Antragsteller hat auch glaubhaft gemacht, dass durch die Leistung zur Rehabilitation den Auswirkungen einer
Krankheit auf seiner Erwerbsfähigkeit entgegengewirkt wird und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit des
Antragstellers bzw. sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verhindert wird. Insbesondere sind nach
Auffassung der Kammer die medizinischen Voraussetzungen erfüllt. Die Beklagte hat im Antragsverfahren einen
Befundbericht der behandelnden Ärztin Frau F. vom 15. Juni 2009 eingeholt, aus dem hervorgeht, dass die
gesundheitliche Prognose für den Antragsteller ohne eine Therapie eher schlecht einzustufen ist. Die Ärztin hat
ebenfalls angegeben, dass wegen der bestehenden Suchtkrankheit eine Leistung zur Rehabilitation in einem offenen
Fachkrankenhaus erforderlich und möglich ist. Weiter hat die Beklagte den Sozialbericht des Suchtberatungsdienstes
der JVA D. eingeholt. In dem Sozialbericht kommt der Suchtberater zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller
behandlungsfähig und -willig ist. Er zeigt eine gute Mitarbeitsmotivation und ist im Umgang angenehm, lenkbar und
gut ansprechbar. Die Beklagte hat über die erwähnten Unterlagen hinaus keine weiteren relevanten Unterlagen
beigezogen. Insbesondere hat sie kein eigenes medizinisches Gutachten eingeholt. Es ist für das Gericht nicht
erkennbar, aufgrund welcher Sachkunde die Antragsgegnerin die ablehnende Entscheidung getroffen hat. Unter diesen
Umständen ist ihre Auffassung, der Antragsteller verfüge nicht über die notwendige Krankheitseinsicht, die positive
Motivation sowie die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit, nicht nachvollziehbar. Der Sozialbericht bescheinigt dem
Antragsteller diese Eigenschaften eindeutig. Die behandelnde Ärztin befürwortet eine Therapie aus medizinischer
Sicht und legt dar, dass die gesundheitlichen Aussichten des Antragstellers ohne eine Therapie sich verschlechtern
würden.
Zwar ist der Befundbericht der behandelnden Ärztin eher kurz gehalten und der Sozialbericht kann letztlich nicht die
medizinische Beurteilung eines Facharztes ersetzen. Es dürfen jedoch im vorliegenden Fall an die Glaubhaftmachung
der Voraussetzungen der §§ 9, 10 SGB VI keine überspannten Erwartungen gestellt werden. Dies gilt insbesondere im
Hinblick darauf, dass die Antragsgegnerin ihrer Verpflichtung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts nicht
nachgekommen ist, da sie es unterlassen hat, eine medizinische Beurteilung einzuholen, womit sie nicht einmal den
Mindestanforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts nachgekommen ist. Die vorliegenden
Unterlagen bzw. Befundberichte reichen daher für die Glaubhaftmachung eines Rehabilitationsbedarfes des
Antragstellers aus.
Soweit die Antragsgegnerin sich darauf beruft, der Antragsteller habe bereits in der Verfangenheit mehrere Therapien
erfolglos durchlaufen, kann dies allein nicht genügen, um die begehrte Maßnahme zur Rehabilitation zu versagen. Es
ist keineswegs unüblich, dass Suchtabhängige mehrere erfolglose Therapieversuche durchlaufen, bevor sich ein
Erfolg einstellt. Soweit dem Antragsteller vorgehalten wird, die Motivation zu der jetzt beantragten Therapie sei
bedingt durch die zu verbüßende Haftstrafe und die mit der Durchführung einer Therapie verbundene Aussicht auf
Zurückstellung der Strafvollstreckung und einer sich gegebenenfalls anschließende Verkürzung der Strafe, kann dies
nicht als Argument benutzt werden, um eine Therapie zu versagen. § 35 BTMG verfolgt nach Auffassung der Kammer
eindeutig den Zweck, Straftäter, die aufgrund einer Suchtabhängigkeit straffällig geworden sind, zu einer Rehabilitation
zu motivieren, mutmaßlich mit dem Hintergrund, dass danach keine hierdurch bedingten Straftaten mehr erfolgen
sollen. Wenn aber der Gesetzeszweck gerade die Motivation der Betroffenen zu einer Therapie ist, kann es ihnen
nicht entgegengehalten werden, wenn das Gesetz diesen Zweck auch erfüllt. Dass dieser Gesichtspunkt die einzige
Grundlage der Motivation des Antragstellers sein soll, ist darüber hinaus auch unzutreffend. Aus dem Sozialbericht
ergibt sich, dass der Antragsteller grundsätzlich eine gute Mitarbeitsmotivation zeigt. Hinsichtlich der
Behandlungsbereitschaft und der individuellen Rehabilitationsziele hat der Antragsteller gegenüber dem Suchtberater
angegeben, er sei zu der Erkenntnis gekommen, dass er sein Leben wie bisher nicht fortsetzen könne und möchte. Er
wolle endlich dauerhaft auf eigenen Beinen stehen, seinen Lebensunterhalt mit eigener Arbeit verdienen und damit
auch ein bisschen stolz auf sich sein dürfen. Hieraus ergibt sich, dass auch eine hinreichende Eigenmotivation des
Antragstellers besteht. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller auf eigene Initiative
hin zunächst eine Strafe abgesessen hat, die ohne Betäubungsmittelbeteiligung begangen wurde. Er hat dies getan,
um sich in die Lage zu versetzen, aus der bei der JVA D. zu verbüßenden Strafe heraus eine Therapie machen zu
können. Dies zeigt ein eindeutig planvolles Vorgehen des Antragstellers und deutet auf eine deutliche Eigenmotivation
hin.
Der Antragsteller hat daher dem Grunde nach einen Anspruch auf Gewährung einer Maßnahme zur Rehabilitation.
Die Rehabilitation ist in der beantragten Form durchzuführen, nämlich bei der Einrichtung E ... Der Antragsgegnerin
steht hinsichtlich des "wie" der beantragten Rehabilitationsmaßnahme zwar Ermessen zu, das vom Gericht
grundsätzlich nur eingeschränkt beurteilt werden kann. Im vorliegenden Fall liegt jedoch eine Ermessensreduzierung
auf Null vor. Diese ergibt sich daraus, dass keine andere Entscheidung ersichtlich ist, die rechtmäßigerweise
getroffen werden kann. Der Antragsteller sitzt derzeit in G. ein und hat Verwandte in der Umgebung. Es ist daher nicht
angebracht, ihn in eine Rehabilitationseinrichtung weit außerhalb von G. zu verbringen. Darüber hinaus hat die
Antragsgegnerin auch keine alternative Einrichtung angegeben, in die der Antragsteller ersatzweise eintreten könnte.
Hinzu kommt, dass der Antragsteller von der Einrichtung E. bereits eine Bestätigung hat, dass er zeitnah in dieser
Einrichtung aufgenommen werden kann. Durch telefonische Anhörung hat die Kammer ermittelt, dass für den
Antragsteller für März ein Therapieplatz zur Verfügung steht.
Auch der Anordnungsgrund, die Eilbedürftigkeit, ist gegeben. Der Antragsteller bedarf zur Aufrechterhaltung bzw.
Verbesserung seiner Erwerbsfähigkeit sowie zur Verbesserung seines gesundheitlichen Zustandes einer Therapie wie
der beantragten. Die Therapieeinrichtung hat bereits bestätigt, dass der Antragsteller im März in einer Therapie
aufgenommen werden könnte. Im Hinblick darauf, dass zuvor in der JVA eine Entgiftung durchgeführt werden muss,
die einige Zeit in Anspruch nehmen wird, ist nach Auffassung der Kammer auch zum jetzigen Zeitpunkt die
notwendige Eilbedürftigkeit gegeben. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das hohe Gewicht, das dem Rechtsgut
Gesundheit zukommt. Es ist dem Antragsteller nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens
abzuwarten. Nach Informationen der JVA sitzt der Antragsteller noch bis September 2011 ein. Es ist allgemein
bekannt, dass sozialgerichtliche Verfahren sich über mehrere Jahre hinziehen können. Somit ist nicht
auszuschließen, dass eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren erst ergeht, wenn der Antragsteller bereits seine
Strafe abgesessen hat und der mit § 35 BTMG verfolgte Zweck nicht mehr erreicht werden kann. Diese
Gesichtpunkte rechtfertigen es, davon auszugehen, dass dem Antragsteller schwere und unzumutbare Nachteile
entstünden, wenn ihm die beantragte Therapie nicht bereits im Eilverfahren bewilligt wird. Dass durch die
Entscheidung im Eilverfahren damit faktisch die Hauptsache vorweggenommen wird, muss unter diesen
Gesichtspunkten zurücktreten, da ein Obsiegen in der Hauptsache mutmaßlich so spät käme, dass die hierdurch
verursachten Nachteile nicht mehr ausgeglichen werden könnten.
Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass der Antragsteller, sollte er weiterhin drogenabhängig aus der JVA entlassen
werden, erneut straffällig wird, um sich Drogen zu beschaffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.