Urteil des SozG Lüneburg vom 13.12.2004

SozG Lüneburg: ermessen, behinderung, orthopädie, anämie, mensch, leistungsfähigkeit, aufenthalt, niedersachsen, rollstuhl, befreiung

Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 13.12.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 15 SB 116/04
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von außergerichtlichen Kosten der Prozessbevollmächtigten des Klägers,
der im Laufe des gerichtlichen Verfahrens am 22. November 2004 an den Folgen eines Leberversagens verstarb.
Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 17. Juni 2003 bzw. 24. Juni 2003 stellte der Beklagte für den
Zeitraum ab dem 17. Juni 2003 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest, lehnte dagegen die Zuerkennung der
ebenfalls beantragten Nachteilsausgleiche "G", "RF" und "1. Klasse" mit Bescheid vom 20. November 2003 ab. Den
gegen die Ablehnung der Merkzeichen "G" und "RF" eingelegten Widerspruch vom 26. November 2003 wies der
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2004 zurück. Im nachfolgenden, auf die Zuerkennung der
Nachteilsausgleiche "G" und "RF" gerichteten Klageverfahren hat das Gericht verschiedene medizinische Unterlagen
beigezogen. Dabei handelte es sich insbesondere um einen Befundbericht des Arztes für Orthopädie Dr. med. J. vom
16. Oktober 2004, in dem dieser über massive degenerative Halswirbelsäulenveränderungen, ein pseudoradikuläres
Syndrom bei Spondylarthrose der Lendenwirbelsäule, beidseitiger Coxarthrose, einem beidseitigem
Impingementsyndrom sowie einer Polyarthrose beider Hände berichtete. Ferner teilte er mit, der Kläger sei in der
Lage, ca. 2.000 Meter in etwa 30 Minuten gehen und auch an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können.
Ausweislich eines Arztbriefes des E. F. – vom 22. November 2004 verstarb der Kläger am 22. November 2004 an
einem Leberversagen bei äthyltoxischer Leberzirrhose.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers ist der Auffassung, das Leberausfallkoma habe zu extensiver
Gewichtszunahme, Atemnot, Herzschwäche und generalisierter Leistungseinschränkung bis zur vollständigen
Immobilität geführt. Die medikamentöse Therapie habe versucht, das überflüssige Wasser auszuschwemmen mit der
Folge des häufigen Wasserlassens. Durch diese vorbeschriebenen Abläufe sei der Kläger zunehmend an der
Teilnahme am öffentlichen Leben gehindert und letztlich an diesem nicht mehr reversiblen Krankheitsverlauf
verstorben. Daher habe die Klage voraussichtlich Erfolg gehabt mit der Folge, dass die notwendigen
außergerichtlichen Kosten in voller Höhe zu erstatten seien.
Der Beklagte vertritt die Auffassung, dass die Klage auf Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF" nach den
vorliegenden Befundunterlagen keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, so dass eine Erstattung von notwendigen
außergerichtlichen Kosten nicht in Betracht komme.
Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze,
die Prozessakte sowie die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakte zum Aktenzeichen: 3120027-75751
ergänzend Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
II.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat keinen Kostenerstattungsanspruch gegen den Beklagten. Dies entspricht
billigen Ermessen im Sinne des § 193 Abs. 1 S. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Das Gericht entscheidet nach dieser Vorschrift durch Beschluss, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander
Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. Bei einer Erledigung des
Rechtsstreits durch Vergleich, Klage- oder Rechtsmittelrücknahme, angenommenes Anerkenntnis oder
übereinstimmender Erledigungserklärung entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und
Streitstandes nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens (vgl. Meyer-Ladewig/Leitherer in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 8. Auflage 2005, § 193 Rn. 13 m. w. N.). Gleiches gilt, wenn sich der
Rechtsstreit durch sonstige Ereignisse – wie hier den Tod des Klägers – erledigt. Dabei sind insbesondere die
Erfolgsaussichten der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung des Rechtsstreits zu
berücksichtigen. Damit ist auch zu berücksichtigen, wer zur Klageerhebung Veranlassung gegeben hat und ob ein
möglicher Teilerfolg auf eine Änderung der Sach- und Rechtslage im Laufe des Verfahrens zurückzuführen ist.
Ausgangspunkt für die Kostenentscheidung ist der Erfolg bzw. der Misserfolg im Hauptsacheverfahren oder wenn dies
– wie hier – nicht abschließend aufklärbar ist, der voraussichtliche Erfolg bzw. Misserfolg im Hauptsacheverfahren.
Nach den im Verwaltungsverfahren und im Gerichtsverfahren eingeholten medizinischen Unterlagen, insbesondere
dem Befundbericht des Arztes für Orthopädie G. vom 16. Oktober 2004 hätte die Klage voraussichtlich keinen Erfolg
gehabt, da die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" sowie "RF" zum Zeitpunkt des Erlasses
des Widerspruchsbescheides am 09. Juni 2004 objektiv nicht vorlagen (dazu unter 1.) und ein gegebenenfalls in
Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten voraussichtlich nur zu einer Feststellung der Verschlimmerung des
Gesundheitszustandes im Laufe des Klageverfahrens geführt hätte (dazu unter 2.).
1. a) Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) lagen nach den
dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht vor. Gemäß § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch
in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des
Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht
ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr
zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Voraussetzungen sind nach Nr. 30
Abs. 3, S. 137 der Anhaltspunkte für die gutachterliche Tätigkeit (AHP 2004) erfüllt, wenn Funktionsstörungen der
unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen
oder bei Behinderungen der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50, die sich besonders ungünstig auf die
Gehfähigkeit auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger
Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der
Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche
Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe III (AHP 2004 Nr. 26.9) und bei Atembehinderungen mit
dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades (AHP 2004, Nr. 26.8) anzunehmen. Auch
bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z.B. chronische
Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie (AHP 2004, Nr. 26.12), sind die Voraussetzungen als erfüllt anzunehmen.
Eine erhebliche Gehbehinderung liegt insbesondere dann vor, wenn ein Behinderter nicht mehr in der Lage ist,
ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen.
Keine dieser genannten Voraussetzungen lässt sich den medizinischen Unterlagen entnehmen. Ausweislich des
Bescheides vom 20. November 2003 bewertete der Beklagte die umformenden Veränderungen der Wirbelsäule sowie
die Gelenkbeschwerden in nicht zu beanstandender Weise und in Übereinstimmung mit den vorliegenden
medizinischen Unterlagen und den AHP 2004 mit einem Einzel-GdB von 30, so dass schon keine Funktionsstörungen
der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestanden haben, die für sich einen GdB von wenigstens 50
bedingen. Auch sind keine Behinderungen der unteren Gliedmaßen verobjektiviert, die sich besonders ungünstig auf
die Gehfähigkeit auswirken. So ergibt sich insbesondere auch aus dem sich in den Verwaltungsvorgängen
befindlichen Entlassungsbericht der –H.I. stationärer Aufenthalt vom 30. Oktober 2002 bis 20. November 2002 – zwar
eine vermehrte Brustwirbelsäulenkyphose, eine relativ flache Lendenwirbelsäulenlordose sowie eine weitgehend
aufgehobene Retroflexion sowie hälftig eingeschränkte Rotation der Halswirbelsäule sowie hinsichtlich der
Lendenwirbelsäule eine endgradig eingeschränkte Beweglichkeit, ferner eine endgradig eingeschränkte Beweglichkeit
beider Hüftgelenke bei einer ansonsten altersentsprechenden Beweglichkeit der Gelenke. Im übrigen lagen
neuromuskulär keine Auffälligkeiten vor, keine Ödeme, keine negativen Thrombosezeichen, auch waren die Fußpulse
beidseits tastbar, Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen, die sich besonders ungünstig auf die Gehfähigkeit
auswirken, lagen danach folglich nicht vor bzw. sind nicht verobjektiviert. Auch hinsichtlich der inneren Leiden lässt
sich den medizinischen Unterlagen eine Einschränkung des Gehvermögens jedenfalls nicht entnehmen. Insbesondere
hat der den Kläger behandelnde Orthopäde ausgeführt, der Kläger sei in der Lage, 2.000 Meter in 30 Minuten zu
gehen. Die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" lagen danach objektiv zum
Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 09. Juni 2004 nicht vor.
b) Auch die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" ("Befreiung von der
Rundfunkgebührenpflicht") sind den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht zu entnehmen. Die Voraussetzungen
für das Merkzeichen "RF" liegen nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP 2004) Nr. 33, S.
141 u. a. vor bei behinderten Menschen mit einem GdB von wenigstens 80, die wegen ihres Leidens an öffentlichen
Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Hierzu gehören behinderte Menschen, bei denen schwere
Bewegungsstörungen – auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere
Lungenfunktionsstörungen) – bestehen, und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit
technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen zumutbarer Weise nicht besuchen können. Dabei
müssen die behinderten Menschen allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt
nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfinden Veranstaltungen – bestimmter Art –
verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen
können, erfüllen die Voraussetzungen nicht. Zwar lagen bei dem Kläger Funktionsbeeinträchtigungen vor, die
insgesamt einen Grad der Behinderung von über 80 bedingten, jedoch lässt sich den Unterlagen nicht entnehmen,
dass der Kläger wegen seiner Leiden ständig gehindert war, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Insbesondere hat auch der den Kläger im Zeitraum vom 22. August bis zum 6. Oktober 2003 behandelnde Orthopäde
J. ausgeführt, dass der Kläger an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Weitere medizinische Unterlagen,
die darauf hindeuten würden, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichen "RF" vorliegen, lagen
dem Gericht nicht vor, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Entscheidung des Beklagten – jedenfalls
zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 09. Juni 2004 nicht zu beanstanden gewesen wäre.
2. Auch vor dem Hintergrund des sich offensichtlich im Laufe des Klageverfahrens verschlimmernden
Gesundheitszustandes des Klägers ergibt sich hinsichtlich der Kostentragungspflicht kein anderes Ergebnis. Selbst
wenn das Gericht nämlich ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben hätte, hätte dies wegen der eindeutigen
Befunde zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung (s. o.) allenfalls nur zur Feststellung einer Verschlimmerung
des Gesundheitszustandes im Laufe des Klageverfahrens geführt. Insoweit hätte der Beklagte jedoch dann keine
Veranlassung zur Klageerhebung gegeben, so dass eine Kostentragungsverpflichtung auch unter diesem
Gesichtspunkt nicht in Betracht gekommen wäre (vgl. hierzu Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss
vom 09. November 2004, – L 5 B 28/04 SB – sowie Beschlüsse vom 11. November 2004, – L9 B 22/03 SB – und L 9
B 23/03 SB –).
Nach alledem hatte die Klage voraussichtlich keinen Erfolg, so dass es billigem Ermessen im Sinne des § 193 Abs. 1
S. 3 SGG entspricht, dem Beklagten keine Kosten aufzuerlegen.