Urteil des SozG Lüneburg vom 12.05.2009

SozG Lüneburg: hauptsache, zusicherung, umzug, haushalt, nebenkosten, höchstbetrag, rechtsschutz, heizung, familie, behinderung

Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 12.05.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 78 AS 666/09 ER
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Zustimmung zur Anmietung der Wohnung "I. " in J. zur erteilen und die sich
aus der Anmietung dieser Wohnung ergebenden laufenden Miet- und Nebenkosten vorläufig - vorbehaltlich
abweichender Entscheidung im Verfahren der Hauptsache - zu übernehmen. Sie wird zudem verpflichtet, die
Mietkaution als Darlehen zu erbringen. Außerdem wird die Antragsgegnerin gemäß ihrem Teilanerkenntnis verpflichtet,
die Kosten der Erstausstattung für die Antragsteller zu 3) und zu 4) zu übernehmen. Die Antragsgegnerin trägt die
notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Gründe:
I. Den Antragstellern geht es um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der Zustimmung zur
Anmietung einer neuen Wohnung nebst Übernahme laufender Miet- und Nebenkosten einschließlich Mietkaution sowie
daneben noch hinsichtlich der Übernahme von Umzugskosten.
Der Antragsteller zu 1) wurde mit Ablauf des 15. Oktober 2008 arbeitslos (Vergleich des Arbeitsgerichts vom 16.
September 2008 / Bl. 528 Alg-Akten) und erhielt zunächst Arbeitslosengeld gem. § 117 SGB III (Bescheid v. 22.
Januar 2009). Seine mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebende Ehefrau erhielt für sich und ihre beiden Kinder sowie den
Antragsteller zu 1) SGB II-Leistungen für die Zeit vom 1. März 2009 bis 31. Juli 2009 in einer Gesamthöhe von 278,20
EUR (Bescheid v. 23. März 2009). Die Antragsteller bewohnen derzeit noch eine 2 1/2 -Zimmerwohnung, in der sich in
den Ferien und am Wochenende auch der Antragsteller zu 5) - Kind aus erster Ehe der Antragstellerin zu 2) - aufhält.
Dieser ist autistisch.
Die Antragsteller haben unter Berücksichtigung der Behinderung des Antragstellers zu 5) eine angemessene Wohnung
für 5 Personen gesucht und gemeinsam mit einem Makler in K. in der "I. " gefunden. Die Antragsgegnerin hat unter
Berücksichtigung der gen. Erkrankung des Antragstellers zu 5) mit ihrem Bescheid vom 24. April 2009 einen
Umzugsgrund anerkannt, jedoch ihre Zustimmung zum Umzug unter Hinweis darauf verweigert, dass der
Miethöchstsatz in L. für 4 Personen nur 624,- EUR betrage, wenn die Wohnung vor dem 1.1.66 bezugsfertig geworden
sei. Die in Aussicht genommene Wohnung sei daher unangemessen.
Zur Begründung ihres am 30. April 2009 gestellten Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes tragen die
Antragsteller vor, sie seien dringend auf eine 5-Zimmer-Wohnung angewiesen und hätten in demihnen zuvor
genannten Finanzrahmen von 750,- EUR nun diese Wohnung "I. " gefunden, welche bei ihrer Suche seit Januar 2009
die einzige Wohnung sei, die allen Anforderungen gerecht werde. Die Wohnung werde vom Vermieter nur noch wenige
Tage frei gehalten und danach anderweitig vermietet werden. Die Antragstellerin zu 2) sei wegen der belastenden
Gesamtsituation seit dem 11. Februar 2009 in psychologischer Behandlung. Die Antragsteller beantragen,
der Antragsgegnerin aufzugeben, die Zustimmung zur Anmietung der Wohnung "I. " zu erteilen und die sich daraus
ergebenden laufenden Miet- und Nebenkosten sowie die Mietkaution bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu
übernehmen, der Antragsgegnerin weiterhin aufzugeben, vorläufig - bis zur Entscheidung in der Hauptsache - die
Umzugskosten zu übernehmen und des Weiteren die Kosten der Erstausstattung für die Kinder C. und E.
unverzüglich - bis zur Entscheidung in der Hauptsache - zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin erkennt die beantragte Übernahme der Erstausstattung für die Kinder C. und E. an und beantragt
im Übrigen,
den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, es sei hier von einem 4-Personen-Haushalt auszugehen, aber auch dann, wenn von einem 5-
Personen-Haushalt auszugehen sei, liege der Miethöchstsatz für L. unter Berücksichtigung der Baualtersstufe bei
(nur) 714,- EUR. Die Wohnung sei daher unangemessen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II. Der Antrag hat insgesamt Erfolg.
Das gilt infolge des Teilanerkenntnisses der Antragsgegnerin (vgl. Schr. v. 5.5.2009) zunächst vorbehaltlos
hinsichtlich der begehrten Erstausstattung für die Antragsteller zu 3) und 4), aber letztlich auch hinsichtlich der
übrigen streitgegenständlich begehrten Verpflichtungen der Antragsgegnerin.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf einen frist- und formlosen Antrag hin zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung
erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nach Lage der Dinge "nötig" erscheint.
Das ist hier unter Berücksichtigung des Art. 19 Abs. 4 GG der Fall. Dabei stehen Anordnungsanspruch und
Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der
die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden
Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Hessisches
Landessozialgericht - HLSG - Beschluss vom 29. Juni 2005 - L 7 AS 1/05 ER - info also 2005, 169; Keller a.a.O. §
86b Rn. 27 und 29 mwN.): Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der
Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein
schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so
vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens jedoch, wenn etwa eine
vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer
Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher
zuzumuten ist.
Steht dem Antragsteller ein geltend gemachter Anspruch zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang eines
(verpflichtenden) Hauptsacheverfahrens noch abzuwarten, so hat der Antragsteller Anspruch auf die begehrte Leistung
im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes - bei Unüberschaubarkeit der Sach- und Rechtslage aufgrund einer
Folgenabwägung (LSG Nds.-Bremen, Beschl. v. 2.10.2008 - L 7 AS 463/08 ER - ; vergl. BVerfG NVwZ 2005, 927 f.
und Beschl. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 -).
Im Rahmen einer Folgenabwägung ist unter Berücksichtigung der Grundrechte (Art. 1 GG, Menschenwürde) und
sämtlicher Belange des Rechtsschutzsuchenden zu entscheiden. Jedenfalls eine Versagung und Abweisung des
gerichtlich erstrebten vorläufigen Rechtsschutzes hätte sich stets auf eine eingehende Aufklärung der Sach- und
Rechtslage zu stützen, die in vielen Fällen jedoch nicht möglich ist. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09
-:
"Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216)). Die Gerichte
sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den
Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die
Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem
Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand
einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des
Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine
Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig
andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 (242 f.))."
Angesichts dessen, dass die Antragsgegnerin schon für einen 4-Personen-Haushalt einen Umzugsgrund anerkannt
hat (Bescheid v. 24. April 2009), ist ein solcher Grund hier erst recht für den 5-Personen-Haushalt, von dem unter
Berücksichtigung der Behinderung des Antragstellers zu 5) auszugehen ist, ohne Weiteres anzunehmen. Somit ist der
Auszug der Antragsteller aus der z.Z. von ihnen bewohnten Wohnung erforderlich. Maßgeblich ist nämlich allein, ob
der Umzug durch einen vernünftigen Grund gerechtfertigt ist (Sächsisches Landessozialgericht 20. Oktober 2008 – L
3 B 530/08 AS-ER) bzw. ob für den Umzug ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Anlass vorliegt, von
dem sich auch ein Nichthilfeempfänger hätte leiten lassen (Berlit in Münder, SGB II-Kommentar, § 22, Rdnr. 76;
Gerenkamp in Mergler/Zink, SGB II, Stand August 2007, § 22 Rn. 21b). Hierfür sprechen auch die in der amtlichen
Begründung zur Neuregelung des § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II (BT-Drucks. 16/1410 S. 23 zu Nr. 21) genannten Beispiele
eines erforderlichen Umzugs: Umzug zur Eingliederung in Arbeit, aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen (vgl.
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. August 2008 - L 5 B 940/08 AS ER).
Die Antragsgegnerin ist auch verpflichtet, die begehrte Zusicherung gem. § 22 Abs. 2 SGB II abzugeben: Der Umzug
der Antragsteller ist iSe Einzugs in die neue Wohnung "I. " erforderlich, zumal Vieles dafür spricht, dass die
Aufwendungen für diese neue Unterkunft bei wertender Betrachtung insgesamt angemessen sind.
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten der Unterkunft stützt sich auf § 22 Abs. 1 S. 1 SGB
II, wonach Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht werden, soweit
diese angemessen sind. Als angemessene Kosten legt die Kammer im vorliegenden summarischen Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes - insoweit nicht in Übereinstimmung mit der Antragsgegnerin, die hierzu eine Prüfung
unternommen hat (Bl. 590 Alg-Akten) - einen Betrag nicht mehr nur von 624,- EUR zu Grunde, sondern - bei Annahme
eines 5-Personen-Haushaltes - einen solchen von 737,- EUR. Hiervon geht unter Berücksichtigung eines 5-Personen-
Haushaltes und der Baualtersstufe des Wohngebäudes die Antragsgegnerin allerdings nicht aus (Bl. 40 GA), sondern
nimmt einen Höchstbetrag von nur 714,- EUR an. Legt man jedoch die seit 1.1.2009 anzusetzenden Höchstbeträge
gem. Wohngeldgesetz (BR-Drucksache 284/08) zu Grunde, so ergibt sich für einen 5-Personen-Haushalt in L. ein
Höchstbetrag von 737,- EUR. Hiervon ist für ein Hauptsacheverfahren und somit auch für das vorliegende Verfahren
demgemäß auszugehen. Denn schon nach der alten Rechtslage kam es im Rahmen der sozialgerichtlichen
Rechtsprechung nicht etwa auf Baualterstufen und das Baujahr des Wohngebäudes an. Das gilt nun erst recht für die
seit dem 1. Januar 2009 geltende Rechtslage, die eine Differenzierung nach Baualtersstufen nicht kennt.
Im Hinblick auf den marginalen Unterschiedsbetrag von lediglich 13,- EUR (bei 737,- EUR anzusetzendem
Höchstbetrag zu 750,- EUR Nettokaltmiete nebst Betriebskostenvorauszahlung) unter Einbeziehung und
Berücksichtigung der erheblichen Schwierigkeiten, die die Antragsteller bei der Suche nach einer angemessenen
Wohnung in L. begleitet haben, ist hier im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei Abwägung der Folgen, die
entstünden, wenn die Antragsteller die in Aussicht genommene Wohnung nicht mehr anmieten könnten, mit den
Folgen, die zu Lasten der Antragsgegnerin mit der Übernahme der tenorierten Kosten entstehen, die Verpflichtung der
Antragsgegnerin auszusprechen, die Zusicherung gem. § 22 Abs. 2 SGB II abzugeben. Allem Anschein nach sind
kostengünstigere Unterkünfte im Nahbereich von L. auch nicht anzumieten, wie das Ausbleiben bzw. Fehlen
entsprechender Nachweise durch die Antragsgegnerin anzeigt. Dabei ist bei einer Wohnungssuche auf dem örtlichen
Wohnungsmarkt auch zu berücksichtigen, dass eine Familie im SGB II-Bezug es schwer hat, eine geeignete und
angemessene Wohnung zu finden. Bei einer 5-köpfigen Familie, die ein autistisches, stark behindertes Kind
aufzunehmen hat und deren Tochter C. ab August 2009 das örtliche Fachgymnasium besuchen wird, liegen - bei der
festzustellenden Erforderlichkeit eines Umzugs und einer nur geringfügigen Überschreitung der geltenden Richtwerte -
die Anspruchsvoraussetzungen für eine kurzfristig abzugebende Zusicherung somit vor. Andernfalls hätten die
Antragsteller weiterhin eine nur 2 1/2-Zimmerwohnung zu bewohnen, was ihnen mit Blick auf ihre grundrechtlichen
Ansprüche (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 - ) nicht zuzumuten ist - auch nicht übergangsweise
und nur zeitweilig.
Im Übrigen ist die Zusicherung (anders als die Zusicherung, die nach § 22 Abs. 2 a SGB II eingeholt werden muss)
keine Anspruchsvoraussetzung für die Übernahme höherer Kosten der Unterkunft und Heizung. Sie hat lediglich den
Zweck, über die Angemessenheit der Unterkunftskosten vor deren Entstehung eine Entscheidung herbeizuführen und
so für den Hilfebedürftigen das Entstehen einer erneuten Notlage infolge der nur teilweisen Übernahme von Kosten zu
vermeiden (vgl. Kalhorn in Hauck/Noftz § 22 SGB II Rn. 43; Lang in Eicher/Spellbrink SGB II § 22 Rn. 65ff; Berlit in
LPK-SGB II 2. Auflage 2007 § 22 Rn. 71). Eine weitergehende Bedeutung kommt ihr damit nicht zu (vgl. LSG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 14.11.2007 – L 28 B 1101/07 AS PKH -).
Von diesem Anspruch auf Zusicherung gem. § 22 Abs. 2 SGB II ausgehend sind hier gem. § 22 Abs. 3 SGB II auch
Umzugskosten sowie eine Mietkaution - als Darlehen - von der Antragsgegnerin zu übernehmen. Hierbei ist davon
auszugehen, dass der Umzug der Antragsteller notwendig ist und ohne die von der Antragsgegnerin zeitnah
abzugebende Zusicherung eine ausreichende, den berechtigten Ansprüchen der Antragsteller genügende Unterkunft in
angemessener Zeit nicht mehr gefunden werden kann (§ 22 Abs. 3 S. 2 SGB II).
Die begehrte Erstausstattung für die beiden Kinder C. und E. ist den Antragstellern zuzusprechen, weil die
Antragsgegnerin ein dementsprechendes Teilanerkenntnis abgegeben hat, das bislang - mangels Annahme durch die
Antragsteller - noch nicht zu einer Teilerledigung des Verfahrens geführt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.