Urteil des SozG Lüneburg vom 23.11.2009

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Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 23.11.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 26 AY 24/09 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu
erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragsteller erstreben vom Antragsgegner die Gewährung privilegierter Leistungen nach § 2 Absatz 1 AsylbLG in
Verbindung mit SGB XII entsprechend.
Der J. geborene Antragsteller zu 1., seine Ehefrau, die K. geborene Antragstellerin zu 2., und ihre Kinder, die L., M.
und N. geborenen Antragsteller zu 3. bis 5. sind libanesische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1. und 2. reisten
im September 1990 in das Bun-desgebiet ein, nachdem sie ihre Nationalpässe dem Schleuser überließen.
Die Asylanträge lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 23. Oktober
1990 als offensichtlich unbegründet ab. Mit Schreiben vom 02. August 1991 forderte der Antragsgegner die
Antragsteller zu 1. und 2. zur Ausreise auf. Der Aufenthalt der Antragsteller im Bundesgebiet wurde in der Folgezeit
geduldet. Am 27. April 2009 erteilte der Antragsgegner den Antragstellern Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Absatz 5
AufenthG aus humanitären Gründen.
Die Antragsteller bezogen in der Vergangenheit Grundleistungen nach §§ 3 bis 7 AsylbLG und zeitweise auch
gekürzte Leistungen nach § 1a AsylbLG.
Am 14. Mai 2009 stellten die Antragsteller einen Antrag auf Gewährung privilegierter Leistungen (Bl. 6 der
Verwaltungsakte).
Mit Bescheid vom 24. September 2009 (Bl. 89 bis 92 der Verwaltungsakte) bewilligte der Antragsgegner
Grundleistungen ab dem 01. September 2009 in Höhe von monatlich 1.690,51 Euro.
Mit Bescheid vom 15. Oktober 2009 (Bl. 105 bis 108 der Verwaltungsakte) bewilligte der Antragsgegner
Grundleistungen ab dem 01. November 2009 in Höhe von monatlich 1.684,50 Euro.
Mit Bescheid vom 09. November 2009 lehnte der Antragsgegner die Gewährung privile-gierter Leistungen ab und
begründete dies damit, dass die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich
selbst beeinflusst hätten. Die Ausrei-sepflicht habe nicht vollzogen werden können, weil keine Pässe vorgelegt
worden seien. Es habe keine Abschiebungshindernisse gegeben. Die Antragsteller seien 2002 zur Re-gistrierung der
Kinder aufgefordert worden, hätten aber keine Registrierung im Libanon erwirken können. Im Jahre 2005 hätten sie
ihre Mitwirkungsbemühungen eingestellt. Es seien keine Gründe für die Unterlassung vorgetragen worden. Die
Antragsteller zu 3. bis 5. seien nach § 2 Absatz 3 AsylbLG ausgeschlossen.
Die Antragsteller haben am 03. November 2009 einen Antrag auf Erlass einer einstweili-gen Anordnung gestellt.
Sie tragen vor:
Wer eine Aufenthaltserlaubnis besitze, könne nicht die Dauer des Aufenthaltes rechts-missbräuchlich beeinflussen.
Es sei unerheblich, ob die Antragsteller schon zu einem früheren Zeitpunkt hätten Pässe beschaffen können. Die
mangelnde Abschiebemöglich-keit sei von der Behörde zu vertreten. Sie hätten niemals eine freiwillige Ausreise in
den Libanon beabsichtigt.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den An-tragstellern ab sofort privilegierte
Leistungen nach § 2 Absatz 1 AsylbLG in Ver-bindung mit SGB XII entsprechend zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er trägt unter Bezugnahme auf den erlassenen Bescheid vor.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsak-te, die Ausländerakten und die
beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Nach § 86 b Absatz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag
eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zu-standes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder
wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vor-läufigen Zustandes
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine sol-che Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des I. Rechtzuges.
Voraussetzung für den Erlass der hier vom Antragsteller begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Absatz 2 Satz 2
SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rege-lung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers
auf die begehrte Regelung (An-ordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu ma-
chen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Absatz 2 ZPO). Dabei ist, soweit im Zu-sammenhang mit dem
Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch,
sondern abschließend zu prüfen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -
). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruches und des Anord-nungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes vom
29. Juni 2005 - L 7 AS 1/05 ER - und vom 12. Februar 1997 - L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).
Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft darlegen können.
Die Antragsteller sind grundsätzlich nach § 1 Absatz 1 Nr. 3 AsylbLG leistungsberechtigt.
Ein Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG (in der ab dem 28. August 2007 geltenden
Fassung nach Artikel 2 Absatz 2 des Gesetzes zur Umset-zung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union vom 19. August 2007 - BGBl. I S 1970 -) in Verbindung mit SGB XII analog abweichend von den
§§ 3 bis 7 AsylbLG haben diejenigen Leistungsberechtigten, die über eine Dauer von 48 Monaten Leistungen nach § 3
erhalten haben und die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmiss-bräuchlich selbst beeinflusst haben.
Nach Absatz 3 erhalten minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft
leben, privilegierte Leistungen nur, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach
Absatz 1 erhält. Ferner müssen die Voraussetzungen des Absatzes 1 auch bei den Kindern vorliegen (vgl. Schell-
horn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum AsylbLG, § 2, Rd. 34).
Auch wenn die Vorbezugszeit von 48 Monaten Grundleistungen erfüllt ist, scheitert der Antrag daran, dass die
Antragsteller zu 1. und 2. die Dauer des Aufenthaltes im Bundes-gebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben
und die Antragsteller zu 3. bis 5. gemäß § 2 Absatz 3 AsylbLG von privilegierten Leistungen ausgeschlossen sind.
Dabei ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Gru-be/Wahrendorf, Kommentar
zum SGB XII, § 2 AsylbLG, Rd. 4; Schellhhorn/ Schell-horn/Hohm, Kommentar zum SGB XII, § 2 AsylbLG, Rd. 13.
Rechtsmissbräuchlich handelt nach den Urteilen des Bundessozialgerichtes vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AS 1/07 R
und B 8 AY 9/07 R - derjenige, der über die Nichtausreise hin-aus sich sozialwidrig unter Berücksichtigung des
Einzelfalls verhält, wobei auf eine objek-tive und eine subjektive Komponente abzustellen ist. Erforderlich ist der
Vorsatz bezogen auf eine die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung, mit dem Ziel der Beeinflussung der
Aufenthaltsdauer. Das bloße Unterlassen einer freiwilligen Ausreise trotz Zumutbar-keit genügt in Abkehr von der
bisherigen Rechtsprechung nicht. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat mit Urteil vom 20. Dezember
2005 - L 7 AY 40/05 - festge-stellt, dass das Ausnutzen einer Duldung nicht rechtsmissbräuchlich sei und ein weiteres
Verhalten hinzutreten müsse.
Diese Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht aufgegriffen und insoweit ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in
der Vernichtung von Ausweispapieren und in der Angabe einer falschen Identität erblickt. Als rechtsmissbräuchlich
kann auch angesehen werden die Weigerung, an der Passbeschaffung mitzuwirken (vgl. Urteil des Landessozi-
algerichtes Niedersachsen-Bremen vom 20. Dezember 2005 - L 7 AY 40/05 -; Beschluss des Sozialgerichtes
Hannover vom 25. April 2005 - S 51 AY 42/05 ER -; Schell-horn/Schellhorn/Hohm § 2, Rd. 15). Die Pflichtverletzung
muss unentschuldbar sein. Da-bei ist der Aufenthaltsstatus in diesem Kontext nach der Rechtsprechung des
Bundesso-zialgerichtes belanglos.
Darüber hinaus setzt das Bundessozialgericht anders als der 11. Senat des Landessozi-algerichtes Niedersachsen-
Bremen (vgl. etwa Urteil vom 16. Oktober 2007 - L 11 AY 61/07 -) nicht als Tatbestandsmerkmal voraus, dass das
missbilligte Verhalten für die Dauer des Aufenthaltes kausal sein müsse, sondern legt eine abstrakt-generelle Betrach-
tungsweise zugrunde. Demnach muss der Missbrauchstatbestand auch nicht aktuell an-dauern oder fortwirken. Diese
Rechtsansicht vertreten neben der Kammer (vgl. Urteil vom 18. Januar 2007 - S 26 AY 26/06 -) überdies das
Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Urteil vom 28. März 2007 - L 7 AY 1386/07 ER-B -, das Bayerische
Landessozialgericht mit Beschluss vom 28. Juni 2005 - L 11 B 212/05 AY ER - und der 7. Senat des
Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen in der zitierten Entschei-dung.
Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nach der zitierten Rechtsprechung des Bun-dessozialgerichtes auch vor
der Einreise vorliegen. Dabei kann auch ein einmaliges Ver-halten genügen.
Rechtsmissbräuchliches Verhalten der Eltern kann den Kindern aber nicht zugerechnet werden, sondern § 2 Absatz 3
AsylbLG ist zu prüfen.
(1) Die Antragsteller zu 1. und 2. haben rechtsmissbräuchlich die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet
beeinflusst, und zwar zum einen durch die Weggabe der Ausweispapiere bei der Einreise (a) und zum anderen
dadurch, dass sie ihren Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung von Passersatzpapieren nicht nachgekommen sind
(b).
(a) Die Antragsteller zu 1. und 2. räumen selbst ein, dass sie die Pässe beim Schleuser "ver-gessen" hätten. Trotz
Nachfrage der Kammer hat der Prozessbevollmächtigte der An-tragsteller zu diesem streitentscheidenden Aspekt
nicht Stellung genommen. Die Kam-mer geht von einer gewollten und beabsichtigten Weggabe aus, welche objektiv
dazu führte, dass eine umgehende Rückführung in den Libanon vereitelt wurde. Die An-tragsteller haben den Zustand
der Passlosigkeit schuldhaft herbeigeführt und zu vertre-ten, weil dies ein Umstand ist, welcher ihrer eigenen
Verantwortungssphäre zuzuordnen ist. Dabei war von vornherein objektiv erkennbar, dass sich die Ausreise allein aus
die-sem Grund verzögern würde. Dies nahmen die Antragsteller zumindest billigend in Kauf und handelten daher
vorsätzlich. Dem sind die Antragsteller in keiner Weise entgegen getreten.
Zu demselben Ergebnis gelangte im Übrigen das Verwaltungsgericht O. mit Beschluss vom 29. April 1999 - 4 B 22/99
-, in dem dieses die Nichtvorlage von Pässen als von den Antragstellern zu vertreten ansah und zugleich die
Gewährung gekürzter Leistungen bil-ligte.
Unerheblich ist, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten in die streitigen Leistungszeit-räume fortwirkt. Insoweit ist
dem Bundessozialgericht zu folgen, nach dessen Rechtspre-chung Anhaltspunkte für eine Kausalität sich dem
Gesetz nicht entnehmen lassen.
(b) Die Antragsteller zu 1. und 2. haben nicht hinreichend an der Beschaffung von Ersatz-ausweispapieren mitgewirkt.
Zu diesem Ergebnis gelangte bereits das Verwaltungsgericht O. im zitierten Beschluss. Ein erkennbares Bemühen
hat das Verwaltungsgericht bis zum Jahre 1999 nicht erken-nen können. Darin ist gleichzeitig ein
rechtsmissbräuchliches Verhalten zu sehen, wel-ches objektiv zu einer Verlängerung des Aufenthaltes geführt hat.
Ein Fortwirken bis zur Gegenwart ist nicht erforderlich.
Darüber hinaus haben die Antragsteller zu 1. und 2. auch in der Folgezeit nicht hinrei-chend bei der Passbeschaffung
mitgewirkt, welche erst im April 2009 erfolgte. Auffällig ist hierbei, dass nach Mitteilung des Antragsgegners, dass
nunmehr Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden sollten, die Papiere umgehend beschafft wurden, nachdem 19 Jahre
lang keine Beschaffung möglich gewesen sei. Es bestehen daher berechtigte Zweifel daran, ob alle Möglichkeiten der
Mitwirkung zuvor ausgeschöpft worden sind oder ob nicht eine planvolle Vereitelungsabsicht gegeben war. Der
Prozessbevollmächtigte trägt zu diesem Aspekt trotz Aufforderung der Kammer nicht vor, weil er meint, dass es
darauf nicht an-komme. Dabei verkennt er aber die Rechtslage, weil nach dem Gesetz keine Privilegie-rung von
Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 AufentG gegeben ist, welche im Übrigen auch nicht mit
Artikel 3 Grundgesetz vereinbar wäre. Selbstverständ-lich ist auch in diesem Kontext die Vorlage
rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Einzel-fall zu prüfen. Darauf hat im Übrigen auch das Bundessozialgericht in
den zitierten Urtei-len ausdrücklich hingewiesen.
Der Prozessbevollmächtigte setzt sich mit dieser Rechtsprechung nicht auseinander und hat überdies den Vortrag
des Antragsgegners nicht bestritten, welcher im Übrigen auch in den Verwaltungsakten Niederschlag findet. Im
Rahmen der summarischen Prüfung geht die Kammer daher von der Korrektheit des in keiner Weise bestrittenen
Vortrags des An-tragsgegners aus, da keine entgegenstehenden Gesichtspunkte erkennbar sind.
(2) Die Antragsteller zu 3. bis 5. haben aufgrund § 2 Absatz 3 AsylbLG keinen Anspruch auf privilegierte Leistungen.
Diese Norm findet Anwendung (vgl. Beschluss des Landessozi-algerichtes Niedersachsen-Bremen vom 23. Oktober
2006 - L 7 AY 14/05 ER -)
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde zulässig. Sie ist binnen eines Monats nach Bekanntgabe des
Beschlusses beim Sozialgericht Lüneburg, Lessingstraße 1, 21335 Lü-neburg, schriftlich oder zur Niederschrift des
Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzu-legen. Das Sozialgericht legt diese dem Landessozialgericht
Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vor. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb
der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Str. 1, 29223 Celle, oder bei der
Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder zur
Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäfts-stelle eingelegt wird.
I.