Urteil des SozG Lüneburg vom 17.09.2009

SozG Lüneburg: grobe fahrlässigkeit, rücknahme, unverzüglich, verwaltungsakt, vermieter, altersgrenze, rechtsgrundlage, sorgfalt, rückforderung, rechtswidrigkeit

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 17.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 22 SO 50/09
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung gezahlter Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach
dem SGB XII in Höhe von 907,55 Euro.
Der G. geborene Kläger bezog zunächst Grundsicherungsleistungen nach dem GSiG, dann Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem SGB XII und ab Januar 2005 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Er
bewohnt eine 50 m² große Wohnung in der H. in I., für die eine Gesamtmiete von monatlich 363,02 Euro anfällt. Der
Kläger bezieht eine Altersrente in Höhe von 111,57 Euro monatlich (Bl. B84 der Verwaltungsakte) und eine
holländische Geldrente von 211,83 Euro.
Bei Erstantragstellung am 30. Mai 2002 versicherte er durch seine Unterschrift, unter anderem Änderungen der
Wohnungsmiete unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen (Bl. A5 der Verwaltungsakte). Auch am 11. Juli 2007 und
08. Juli 2008 fragte der Beklagte jeweils Änderungen bei den Kosten der Unterkunft ab (Bl. B11 , B83 Rückseite der
Verwaltungsakte). In beiden Fällen verneinte der Kläger dies.
Mit Bescheid vom 20. August 2007 (Bl. B16 bis 18 der Verwaltungsakte) bewilligte der Beklagte dem Kläger
Grundsicherung für die Zeit vom 01. August 2007 bis 31. Juli 2008 und berücksichtigte dabei Kosten der Unterkunft
von 311,89 Euro und Heizkostenabschläge von 51,13 Euro abzüglich 7,67 Euro Warmwasserabschläge.
Mit Bescheiden vom 13. Dezember 2007, 29. Januar, 25. März, 14. April, 18. und 25. Juni 2008 änderte der Beklagte
die Bewilligung teilweise ab, ohne den Anteil der Kosten der Unterkunft zu verändern.
Mit Vorlage der Vermieterbescheinigung vom 12. August 2008 erfuhr der Beklagte, dass der Kläger die Miete um die
Hälfte auf 181,51 Euro ab März 2008 minderte, weil das Dach undicht sei.
Nach vorheriger Anhörung nahm der Beklagte mit Bescheid vom 04. November 2008 (Bl. B118 bis 119 der
Verwaltungsakte) die Bewilligung der Grundsicherung für die Zeit vom 01. März bis 31. Juli 2008 teilweise zurück und
berücksichtigte nunmehr die geminderte Miete. Er forderte gleichzeitig die Erstattung eines Betrages von 907,55 Euro.
Dagegen legte der Kläger am 28. November 2008 Widerspruch ein (Bl. B129 bis 130 der Verwaltungsakte), den er
damit begründete, dass der Teppich, den er für 3.659,- DM erworben habe, durch das eindringende Regenwasser
zerstört worden sei.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2009 zurück (Bl. B133 bis 135 der
Verwaltungsakte) und begründete dies im Wesentlichen folgendermaßen:
Der Kläger habe seine Mitteilungspflicht zumindest grob fahrlässig verletzt. Nach § 45 SGB X sei die Bewilligung
zurückzunehmen.
Der Kläger hat am 20. März 2009 Klage erhoben.
Er trägt vor:
Es habe keine Veränderung in seinen Verhältnissen gegeben. Den Anspruch auf Schadensersatz gegen den
Vermieter könne er aus finanziellen Gründen nicht vor dem Zivilgericht geltend machen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 04. November 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2009
aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt
der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat keinen Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 04. November 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2009
erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten.
Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide sind §§ 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 und 4, in Verbindung mit § 50
Absatz 1 Satz 1 SGB X.
Nicht klagebegründend ist der Umstand, dass die Beklagte die Rücknahme zunächst auf eine unrichtige
Rechtsgrundlage stellte. Denn das Nachschieben von Gründen ist zulässig, soweit der Verwaltungsakt dadurch in
seinem Regelungsgehalt nicht oder seinem Wesensgehalt verändert oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen in
nicht zulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert wird (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 18. September
1997 - 11 RAr 9/97 - und 25. April 2002 - B 11 AL 69/01 R -). Da §§ 45, 48 SGB X auf dieselbe Rechtsfolge, nämlich
die Aufhebung eines Verwaltungsaktes gerichtet sind, ist das Auswechseln der Rechtsgrundlagen grundsätzlich
zulässig (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 16. Dezember 2008 - B 4 AS 48/07 R -).
(1) Die Voraussetzungen einer Rücknahme nach §§ 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X sind gegeben. Demnach ist ein
Verwaltungsakt ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, wenn der Betroffene einer durch
Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse
vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist.
(a) Die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen war ursprünglich mit Bescheid vom 20. August 2007 rechtmäßig.
Ab März 2008 trat insoweit eine Änderung der Verhältnisse mit der Folge der Rechtswidrigkeit ein, als sich die Kosten
der Unterkunft veränderten, so dass grundsätzlich § 48 Absatz 1 Satz 2 SGB X zutreffende Rechtsnorm für eine
Aufhebung ist.
Die Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII war für die Zeit vom 01.
März bis 31. Juli 2008 teilweise rechtswidrig.
Gemäß § 41 Absatz 1 SGB XII ist älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem
Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach §§ 82 bis 84
und 90 beschaffen können, auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten.
Nach Absatz 2 ist leistungsberechtigt wegen Alters nach Absatz 1, wer die Altersgrenze erreicht hat. Personen, die
vor dem 01. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Altersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres.
Gemäß § 19 Absatz 2 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den besonderen
Voraussetzungen des Vierten Kapitels dieses Buches Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Absatz 2
erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren
notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere Einkommen
und Vermögen, beschaffen können.
Gemäß § 42 Satz 1 SGB XII umfassen die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung:
1. den für den Leistungsberechtigten maßgebenden Regelsatz nach § 28, 2. die Aufwendungen für Unterkunft und
Heizung entsprechend § 29, 3. die Mehrbedarfe entsprechend § 30 sowie einmalige Bedarfe entsprechend § 31, 4. die
Übernahme von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen entsprechend § 32 sowie Vorsorgebeiträgen
entsprechend § 33, 5. Hilfe zum Lebensunterhalt in Sonderfällen nach § 34.
Nach § 29 Absatz 1 Satz 1 SGB XII werden Leistungen für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen
erbracht.
Nach dem klaren Wortlaut der Norm sind die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft zu übernehmen. Daraus
folgt, dass entscheidend darauf abgestellt werden muss, welchen Mietzins der Leistungsberechtigte dem Vermieter
tatsächlich schuldet und aufgrund der Schuldverpflichtung leistet. Die Zahlungspflicht muss rechtlich wirksam
bestehen (vgl. LPK/SGB XII/Berlit § 29, Rd.13). Soweit Gegenrechte, wie eine Mietminderung, bestehen, sind diese
auszuüben und mindern den Hilfebedarf an Unterkunftsleistungen.
Die Miete des Klägers minderte sich von März bis Juli 2008 monatlich um 181,51 Euro, weil dieser eine
entsprechende Erklärung gemäß § 536 BGB gegenüber dem Vermieter abgab. Die tatsächlichen Aufwendungen waren
somit gemindert, so dass der Beklagte als Grundsicherungsträger auch lediglich den geminderten Betrag als Kosten
der Unterkunft zu übernehmen hatte. Darüber hinaus bestand kein Hilfebedarf, und es greift der Nachrang der
Sozialhilfe (§ 2 Absatz 1 SGB XII).
(b) Der Kläger hat seine Mitteilungspflichten verletzt.
Gemäß § 60 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen
anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. Nach § 60 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I trifft denselben Personenkreis
die Pflicht, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen. Änderungen
der tatsächlichen Verhältnisse muss der Betroffene von sich aus mitteilen (vgl. Kasseler/Kommentar/Seewald, § 60
SGB I, Rd. 25). Dieses hat unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern im Sinne von § 121 Absatz 1 SGB I, zu
geschehen (vgl. Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB I, § 60, Rd. 16).
Bei der Minderung der Miete handelte es sich um eine mitteilungsbedürftige Tatsache, da sie offensichtlich
Auswirkungen auf den Anspruch gegenüber dem Grundsicherungsträger hatte. Denn nur in Höhe der tatsächlichen
Aufwendungen bestand ein Übernahmeanspruch.
Diese Tatsache hat der Kläger nicht unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, dem Beklagten mitgeteilt.
Dieser wurde von ihm überhaupt nicht unterrichtet, sondern erfuhr erst durch eine Vermieterbescheinigung im August
2008 von der Mietminderung.
(c) Die Verletzung der Mitteilungspflicht war schuldhaft.
Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vor, wenn die verkehrserforderliche
Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird, schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht
angestellt werden und dasjenige nicht beachtet wird, was im gegebenem Fall jedem hätte einleuchten müssen
(Palandt/Heinrichs, Kommentar zum BGB, § 276, Rd. 5; v. Wulffen/Wiesner, Kommentar zum SGB X, § 45, Rd. 24;
Urteil des Bundessozialgerichtes vom 26. August 1987 - 11 a RA 30/86 -). Dabei sind die persönliche Urteils- und
Kritikfähigkeit, das Einsichtvermögen und das Verhalten des Betroffenen unter den besonderen Umständen des
Einzelfalls zu beurteilen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 13. Dezember 1972 - 7 RKg 9/69 -).
Der Kläger war nach seinen intellektuellen Fähigkeiten, von denen sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung,
anhand der Schreiben im Widerspruchsverfahren bzw. Schriftsätze im Klageverfahren und der Beendigung der
Schullaufbahn mit dem Abitur ein Bild fertigen konnte, in der Lage, sorgfaltsgemäß zu handeln und die Mietminderung
dem Beklagten umgehend mitzuteilen.
Der Kläger ist eingehend und unmissverständlich im Jahre 2002 über seine Mitteilungspflichten aufgeklärt worden.
Dies hat er durch Unterschrift bestätigt. Er musste somit zur Kenntnis genommen haben, dass Änderungen der
Wohnraummiete unverzüglich und unaufgefordert mitzuteilen waren. Im Zweifel hätten sich ihm Rückfragen
aufdrängen müssen. Das unterlassene Lesen des Schreibens war im Übrigen auch bereits grob fahrlässig.
Zudem hat er im Juli 2008 unrichtige Angaben getätigt, indem er auf ausdrückliche schriftliche Nachfrage verneinte,
dass sich die Kosten der Unterkunft verändert hätten. In jedem Fall liegt ein grob fahrlässiger Sorgfaltsverstoß vor,
weil es dem Kläger nach der klaren und wiederholten Aufklärung des Beklagten unmittelbar hätte einleuchten müssen,
dass die Änderung der Wohnungsmiete mitzuteilen ist.
(d) Ferner erfolgte die Rücknahme innerhalb der Jahresfrist der §§ 48 Absatz 4 Satz 1, 45 Absatz 4 Satz 2 SGB X.
Die Jahresfrist beginnt erst nach Abschluss der Anhörung zur Rückforderung zulaufen (vgl. Urteile des
Bundessozialgerichtes vom 08. Februar 1996 - 13 RJ 35/94 -, 25. Januar 1994 - 7 RAr 14/93 -, v.Wulffen/Wiesner,
Kommentar zum SGB X, § 45 R.33; Kasseler/Kommentar/SGB X/Steinwedel § 45, Rd.27).
(e) Rechtsfolge des Vorliegens des Rücknahmetatbestandes ist die intendierte Entscheidung der Beklagten zur
Rücknahme und Erstattung der überzahlten Leistungen nach § 50 Absatz 1 Satz 1 SGB X. Dabei ist unschädlich,
dass der Beklagte, der von einer Anwendung von § 45 SGB X ausging, Ermessen ausgeübt hat. Rechtlich unhaltbar
wäre allenfalls die umgekehrte Fallkonstellation. Ein atypischer Sachverhalt, welcher eine Ermessensentscheidung im
Rahmen von § 48 Absatz 1 Satz 2 SGB X gebieten könnte liegt nicht vor. Insbesondere bestehen keine
Anhaltspunkte für ein Mitverschulden der Behörde.
(2) Darüber hinaus sind auch die Voraussetzungen einer Rücknahme nach §§ 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X
gegeben. Demnach ist ein Verwaltungsakt ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, wenn der
Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt im besonders schweren Maße verletzt hat, dass
der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder
teilweise weggefallen ist.
Im vorliegenden Fall hätte der Klägerin unmittelbar einleuchten müssen, dass die Weitergewährung desselben
Betrages für Kosten der Unterkunft ab März 2008 nicht zutreffend sein konnte, weil er selbst nur die geminderte Miete
zahlte. Ihm hätte ohne weiteres klar sein müssen, dass der überschießende Betrag ihm nicht zustand. Dies lässt sich
auch aus der Belehrung des Beklagten bei Antragstellung und eine weitere Abfrage vom Juli 2008 ableiten, welche er
wahrheitswidrig beantwortete. Der Kläger wäre nach seinen Fähigkeiten ohne weiteres in der Lage gewesen, die
Rechtswidrigkeit der Bewilligung zu erkennen. Im Zweifel hätten sich ihm Rückfragen aufdrängen müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.