Urteil des SozG Lüneburg vom 07.01.2010

SozG Lüneburg: örtliche zuständigkeit, wohnung, alter, vermieter, sozialhilfe, rechtskraft, gerichtsakte, aufenthalt, feststellungsklage, freizeit

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 07.01.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 22 SO 99/08
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte die Gewährung der Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung und zur Eingliederungshilfe nach SGB XII der Leistungsberechtigten F. G. H. ab Rechtskraft des
Urteils in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen hat. 2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem
Kläger die zugunsten der Leistungsberechtigten rechtmäßig aufgewendeten Kosten für die Leistungen zur
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und zur Eingliederungshilfe nach dem SGB XII vom 16.
November 2007 bis zur Übernahme der Hilfeleistung zu erstatten hat. 3. Die Beklagte trägt die Kosten des
Rechtsstreites.
Tatbestand:
Der Kläger erstrebt die Übernahme der Aufwendungen für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach
dem SGB XII und der Eingliederungshilfe für F. G. H. und die Feststellung, dass die erbrachten Leistungen ab dem
16. November 2007 zu erstatten sind.
Die 1960 geborene F. H. ist dauerhaft voll erwerbsgemindert, mit einem Grad der Behinderung von 80
schwerbehindert, lebte zunächst im Zuständigkeitsbereich des Klägers und wurde bis Ende Oktober 2006 stationär im
I. der J. betreut, wobei Kostenträger der Kläger war. Sie lebt seit dem 01. November 2006 in der ambulant betreuten
Wohngemeinschaft K. in L ... Sie mietete zum 16. November 2007 selbst eine Wohnung von der M. im N. in L. an und
wurde weiter ambulant betreut. Sie hat monatlich eine Kaltmiete in Höhe von 164,31 Euro zuzüglich
Betriebskostenabschläge von 70,19 Euro und Heizkostenabschläge von 38,98 Euro zu entrichten (Bl. 41 bis 50 der
Gerichtsakte).
Die Klägerin beantragte bei der Beklagten die Übernahme der Kosten der ambulanten Betreuung und diese leitete den
Antrag an den Kläger weiter, welcher die Kosten vorläufig übernahm.
Mit Schreiben vom 20. Dezember 2007 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch an.
Mit Schreiben vom 06. Februar 2008 (Bl. A62 bis 63 der Verwaltungsakte) lehnte diese den Antrag ab, da eine
ambulant betreute Wohnmöglichkeit bestehe, so dass der Kläger weiterhin nach § 98 Absatz 5 SGB XII zuständig sei.
Mit Schreiben vom 10. März 2008 (Bl. 28 bis 29 der Verwaltungsakte der Beklagten) forderte der Kläger Erstattung für
Aufwendungen der Grundsicherung ab dem 15. November 2007.
Mit Schreiben vom 17. April 2008 (Bl. 35 bis 36 der Verwaltungsakte der Beklagten) lehnte die Beklagte die Erstattung
ab.
Der Kläger hat am 03. Juni 2008 Klage erhoben.
Er trägt vor:
Der Kläger habe gemäß § 102 Absatz 1 SGB X einen Kostenerstattungsanspruch, weil er nicht nach § 98 Absatz 5
SGB XII zuständig sei. Denn die ambulant betreute Wohnmöglichkeit werde nicht vom Betreuungsträger angeboten,
sondern die Hilfebedürftige habe die Wohnung selbst angemietet. Die Beklagte sei nach § 98 Absatz 1 SGB XII
zuständig. Dem Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 21. Juni 2007 - L 13 SO 5/07 ER -
sei zu folgen.
Der Kläger beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, die Gewährung der Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
und zur Eingliederungshilfe der F. G. H. ab Rechtskraft des Urteils in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen und 2.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die zugunsten der Hilfeempfängerin rechtmäßig
aufgewendeten Kosten für die Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und zur
Eingliederungshilfe vom 16. November 2007 bis zur Übernahme der Hilfeleistung zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor:
Die Wohnung müsse nicht zwingend vom Betreuungsträger vermietet werden.
Die O. hat auf Anfrage der Kammer mit Schriftsatz vom 25. August 2009 mitgeteilt (Bl. 59 der Gerichtsakte), dass der
Umzug auf Initiative der Hilfebedürftigen erfolgt, der Vermieter nicht Teil des Hilfekonzeptes sei und die Betreuung 10
Wochenstunden betrage. Hilfebedarf bestehe in den Zielbereichen adäquater Umgang mit Konflikten, Zubereitung von
Mahlzeiten, Steuerung von Gefühlen, Äußerung von Bedürfnissen, Nutzen von Freizeit- bzw. Bildungsangeboten und
Aufbau eines Bekannten- bzw. Freundeskreises.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte nebst beigezogener
Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat Erfolg.
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierauf gemäß § 124 Absatz 2
SGG verzichtet haben.
Die Klage ist zulässig.
Die Klage ist bezüglich des Klageantrages zu 1. als Feststellungsklage zulässig, da die Feststellung der
Zuständigkeit eines Leistungsträgers nach § 55 Absatz 1 Nr. 1 SGG einer Leistungsklage ist. Gemäß § 123 SGG ist
die Kammer nicht daran gehindert, den Antrag dergestalt auszulegen.
Ein Feststellungsinteresse im Sinne von § 55 a.E. SGG ist zu bejahen, weil es sich um einen Rechtstreit von
Behörden handelt und im Übrigen weitergehender Rechtsschutz möglich ist als mit einer Leistungsklage, sofern dies
Zeiten nach Rechtskraft des Urteils betrifft (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, § 55, Rd. 19 b
und c).
Die Klage ist bezüglich des Klagenantrages zu 2. ebenfalls als Feststellungsklage zulässig (§ 55 Absatz 1 Nr. 1
SGG).
Die Klage ist auch vollumfänglich begründet.
(1) Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte die Leistungsberechtigte, Frau Mahnke, ab Rechtskraft
des Urteils in ihre Zuständigkeit übernimmt, und zwar sowohl bezüglich der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach dem SGB XII als auch im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII.
(a) Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel
des SGB XII folgt aus § 98 Absatz 1 Satz 1 SGB XII.
Nach dieser Norm ist für die Sozialhilfe örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich die
Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten. Nach § 98 Absatz 1 Satz 3 SGB XII bleibt diese Zuständigkeit bis zur
Beendigung der Leistung auch dann bestehen, wenn die Leistung außerhalb seines Bereiches erbracht wird.
§ 98 Absatz 2 SGB XII regelt die örtliche Zuständigkeit bei stationären Leistungen.
§ 98 Absatz 5 Satz 1 SGB XII ist für die Leistungen nach diesem Buch, welches Personen nach dem Sechsten bis
Achten Kapitel dieses Buches In Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten erhalten, der Träger der Sozialhilfe
örtlich zuständig, der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt zuständig war oder gewesen wäre.
Die örtliche Zuständigkeit des Klägers endete am 16. November 2007 mit der Anmietung einer eigenen Wohnung
durch die Leistungsberechtigte. Denn ab diesem Zeitpunkt kommt es auf den tatsächlichen Aufenthalt an, welcher im
Zuständigkeitsbereich der Beklagten lag.
Bei der Unterbringung in der Wohnung der P. handelt es sich nicht um eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit,
welche die weitere Zuständigkeit des Klägers begründen würde.
§ 98 Absatz 5 SGB XII ist vorliegend nicht einschlägig. Der Begriff der betreuten Wohnmöglichkeiten orientiert sich an
§ 55 Absatz 2 Nr. 6 SGB IX (vgl. Schellhorn/ Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII, § 98, Rd. 101; LPK-SGB
XII-Schoch § 98, Rd. 49). Nach dieser Vorschrift ist derjenige Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, der vor Eintritt
in die Wohnform zuletzt zuständig war oder gewesen wäre.
Nach dem Beschluss des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 21. Juni 2007 (L 13 SO 5/07 ER)
müsse es sich um eine Wohnung handeln, die vom freien Träger der Leistung organisiert wurde. Damit sei nicht zu
vereinbaren, dass der Betroffene sich selbst eine Wohnung sucht und anmietet, wenn er dann von Mitarbeitern des
freien Trägers zum Zweck der ambulanten Betreuung aufgesucht werde.
Dieser Auffassung sind auch das Sozialgericht Oldenburg mit Beschluss vom 19. Dezember 2005 und das
Sozialgericht Lüneburg mit Beschlüssen vom 27. Juni 2006 - S 32 SO 94/06 ER - und 26. Februar 2009 - S 22 SO
10/09 ER - gefolgt.
Das Oberverwaltungsgericht Bremen vertritt diesbezüglich eine andere Rechtsansicht und führt mit Beschluss vom
23. Juni 2006 - 3 B 188/06 - aus, dass Wohnen im Sinne des Gesetzeswortlautes in vielerlei Formen möglich sei, wie
zum Beispiel in Wohngruppen, Wohngemeinschaften oder Einzelwohnungen, solange der Leistungsberechtigte eine
Wohnbetreuung erfahre. Der Maßnahmeträger müsse nicht zwingend die Wohnung selbst zur Verfügung stellen. Diese
Auffassung wird vom Sozialgericht Duisburg mit Beschluss vom 16. März 2006 - S 10 SO 6/06 ER - geteilt.
Dem ist das Sozialgericht Stuttgart mit Beschluss vom 02. Oktober 2006 gefolgt (S 7 SO 6973/06 ER) unter der
Betonung des Aspektes, dass in der Wohnmöglichkeit selbst die Betreuung zu erbringen sei.
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vertritt mit Urteil vom 08. Oktober 2009 - L 15 SO 267/08 - die
Auffassung, dass in den Wohngelegenheiten Teilhabeleistungen zum Leben in der Gemeinschaft erbracht werden
müssten und lässt offen, ob der Maßnahmeträger auch Vermieter sein müsse.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin einen Mietvertrag mit einem privaten Vermieter abgeschlossen. Der
Maßnahmeträger, der ambulante Betreuung erbringt, ist weder Mietvertragspartei noch organisiert er im Rahmen eines
Gesamtkonzeptes das Wohnen der Klägerin. Nach dem vorgelegten Hilfeplankonzept spielt der Aspekt der
Wohnsituation keine wesentliche Rolle. Die Klägerin zahlt den Mietzins direkt an den Vermieter, eine Abrechnung über
Leistungssätze des Maßnahmeträgers erfolgt gerade nicht. Für die Kammer stellt sich das Bewohnen der Unterkunft
nicht als Teil eines organisatorischen Gesamtkonzeptes dar, das weder finanziell noch logistisch in sich abgestimmt
ist. Die O. hat auf Anfrage der Kammer mit Schriftsatz vom 25. August 2009 ausdrücklich mitgeteilt, dass der
Hilfebedarf lediglich in den Zielbereichen adäquater Umgang mit Konflikten, Zubereitung von Mahlzeiten, Steuerung
von Gefühlen, Äußerung von Bedürfnissen, Nutzen von Freizeit- bzw. Bildungsangeboten und Aufbau eines
Bekannten- bzw. Freundeskreises bestehe. Der Vermieter sei in das Hilfekonzept nicht eingegliedert.
Selbst wenn man die Rechtsansicht des Oberverwaltungsgerichtes Bremen zugrunde legen würde, führte dies zu
einem anderen Ergebnis. Denn nach dem im Rahmen der Sacherhaltsaufklärung gemäß § 20 SGB X ermittelten
Konzept des Betreuungsträgers, der nicht als Vermieter auftritt, spielt die Wohnsituation keine Rolle im Rahmen der
ambulanten Betreuung. Der Vermieter ist gerade nicht Teil des Hilfekonzeptes.
(b) Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die Gewährung von Grundsicherung folgt aus § 98 Absatz 1 Satz 2
SGB XII.
Nach dieser Norm ist für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Träger der Sozialhilfe
örtlich zuständig, in dessen Bereich der gewöhnliche Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten liegt.
Es kann offenbleiben, ob im Falle des § 98 Absatz 5 SGB XII auch die Zuständigkeit bezüglich der Grundsicherung
wegen des Prinzips der einheitlichen Leistungsgewährung übergeht. Denn ein ambulant betreutes Wohnen liegt nicht
im Sinne der Norm vor. Somit kommt es auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin an (§ 30 Absatz 3 Satz 2 SGB
XII), der unstreitig im Zuständigkeitsbereich der Beklagten liegt.
(2) Der Kläger kann von der Beklagten beanspruchen, die erbrachten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach dem SGB XII und der Eingliederungshilfe zu erstatten, und zwar für die Zeit vom 16.
November 2007 bis zur Rechtskraft dieses Urteils, soweit die Leistungen im Übrigen rechtmäßig erbracht worden sind
(vgl. § 110 SGB XII). Denn die Beklagte ist örtlich zuständiger Leistungsträger hinsichtlich der erbrachten Leistungen,
wie vorstehend bereits festgestellt wurde, weil die Voraussetzungen des § 98 Absatz 1 Satz 1, 2 SGB XII jeweils
gegeben sind.
Dem Erstattungsanspruch steht nicht entgegen, dass die Beklagte für die Zeit bis zum 01. November 2008 einen
Kostenerstattungsanspruch gegen den Kläger nach § 106 Absatz 3 Satz 1 SGB XII hatte.
Denn der bisherige Leistungsträger, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte zuletzt seinen gewöhnlichen
Aufenthalt hatte, bleibt längstens für die Dauer von zwei Jahren nach Verlassen der stationären Einrichtung zuständig,
sofern innerhalb eines Monats nach Entlassung Leistungen der Sozialhilfe erbracht wurden und keine Unterbrechung
für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als zwei Monaten vorlag.
Die Leistungsberechtigte verließ am 01. November 2006 die stationäre Einrichtung Q. K., so dass mangels
Unterbrechungen ein Kostenerstattungsanspruch der Beklagten nach § 106 Absatz 3 Satz 1 SGB XII bestand.
Die Beklagte hat bislang diesen Kostenerstattungsanspruch - konsequenterweise aus ihrer Rechtsansicht heraus -
nicht geltend gemacht. Erst im Falle der Ausübung dieses Gestaltungsrechtes wäre zu prüfen, ob der Kläger den
Anspruch durchsetzen könnte (vgl. § 111 SGB X). Da dieses Gestaltungsrecht jedoch nicht ausgeübt wurde, stellt
sich diese Frage im vorliegenden Rechtsstreit nicht und ist daher unerheblich für den Erfolg der Klage.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Absatz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Absatz 1 VwGO entsprechend.
Denn das Verfahren ist gemäß § 197a Absatz 3 SGG gerichtskostenpflichtig, da keiner der Beteiligten nach § 183
SGG privilegiert ist.
Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Beklagten nicht der Zulassung, weil hier
deren Beschwer oberhalb des für Erstattungsstreitigkeiten geltenden Schwellenwertes von 10.000,- Euro liegt.