Urteil des SozG Lüneburg vom 06.11.2007

SozG Lüneburg: wirtschaftliche tätigkeit, unternehmen, unfallversicherung, versicherungspflicht, entschädigung, eugh, entlassung, befreiung, einfluss, erfüllung

Sozialgericht Lüneburg
Urteil vom 06.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 2 U 174/04
1.) Die Klage wird abgewiesen. 2.) Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. 3.) Der Streitwert wird auf 20.536,35
EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Klägerin ist ein
Dachdeckerunternehmen in Form eines Einzelunternehmens. Mit den Bescheiden vom 23. Oktober 2000 wurde das
Unternehmen bei der Beklagten aufgenommen und zur gesetzlichen Unfallversicherung veranlagt. Auf dieser
Grundlage ergingen in der Folgezeit die Beitragsbescheide.
Mit dem Schriftsatz vom 24. August 2004 "kündigte" der Prozessbevollmächtigte die Pflichtmitgliedschaft der
Klägerin bei der Beklagten zum 31. Dezember 2004. Mit dem Schreiben vom 13. September 2004 teilte die Beklagte
dem Prozessbevollmächtigten mit, dass eine Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft gesetzlich nicht vorgesehen sei.
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wurde geltend gemacht, dass die Ablehnung der Entlassung aus der
Pflichtmitgliedschaft mit dem Grundgesetz und dem Europäischen Recht nicht vereinbar sei. Der Widerspruch wurde
mit dem Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2004 zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 5. November 2004 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und ihr Begehren
weiterverfolgt.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, 1. den Bescheid der Beklagten vom 13. September 2004 und den
Widerspruchs- bescheid vom 13. Oktober 2004 aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin aus der
Pflichtmitgliedschaft zu entlassen, soweit der Bereich der Pflichtversicherung der Arbeitnehmer gegen die Risiken des
Arbeitsunfalls und der Berufskrankheiten betroffen ist,
hilfsweise, festzustellen, dass die Klägerin ab dem 1. Januar 2005 nicht mehr Pflichtmitglied bei der Beklagten ist,
soweit der Bereich der Pflichtversicherung der Arbeit- nehmer gegen die Risiken des Arbeitsunfalls und der
Berufskrankheiten betroffen ist.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet, da die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten zu Recht besteht
und eine Entlassung hieraus nicht möglich ist. Die angefochtenen Bescheide sind daher rechtmäßig.
Anknüpfungspunkt für die gesetzliche Zwangsmitgliedschaft von Unternehmen zur gesetzlichen Unfallversicherung
sind die §§ 114 Abs. 1 und 121 Abs. 1 SGB VII. Darin ist festgelegt, dass die Berufsgenossenschaften – welche die
Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind – für alle Unternehmen zuständig sind. In den §§ 121 ff. SGB VII sind
sodann die Zuständigkeiten der Berufsgenossenschaften für die einzelnen Branchen bzw. Unternehmensarten näher
bestimmt. Die – deklaratorische – Feststellung von Beginn und Ende der Zuständigkeit eines
Unfallversicherungsträgers für ein Unternehmen erfolgt im Wege eines Bescheids (§ 136 Abs. 1 SGB VII). Im
vorliegenden Fall ist die Feststellung, dass die Beklagte für die Klägerin zuständig ist, mit dem Aufnahmebescheid
vom 23. Oktober 2000 erfolgt. Da dieser Bescheid nicht angefochten wurde, ist er in der Sache bindend geworden ist
(§ 77 SGG). Gleiches gilt für die auf dieser Grundlage ergangenen Veranlagungs- und Beitragsbescheide.
Da eine Befreiung von der Pflichtversicherung gesetzlich nicht vorgesehen ist, wäre eine Durchbrechung der
Bestandskraft nur unter den Voraussetzungen des § 44 SGB X möglich. Zu Recht hat daher die Beklagte den Antrag
der Klägerin, ihn von der Versicherungspflicht zu befreien, in einen Antrag auf Rücknahme des Aufnahmebescheids
und der Folgebescheide gem. § 44 Abs. 1 SGB X umgedeutet. Nach dieser Vorschrift muss ein Verwaltungsakt
zurückgenommen werden, soweit sich ergibt, dass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen
Sachverhalt ausgegangen wurde und deshalb Beiträge zu Unrecht entrichtet wurden. Diese Voraussetzungen sind
jedoch hier nicht erfüllt, da die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin zu Recht besteht. Da Verstöße gegen das einfach
gesetzliche Recht nicht geltend gemacht wurden und auch nicht erkennbar sind, war nur zu klären, ob die
Pflichtmitgliedschaft der Klägerin gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen das Grundgesetz und das EU-
Recht, verstößt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Dies hat das BSG in mehreren Entscheidungen überzeugend
herausgearbeitet, so dass zur Begründung vollinhaltlich darauf Bezug genommen wird (Urt. v. 24. Juni 2003 – B 2 U
21/02 = BSGE 91, 263; Urt. v. 9. Mai 2006 – B 2 U 34/05; Urt. vom 20. März 2007 – B 2 U 9/06 R). Auch die gegen
das Urteil des BSG vom 24. Juni 2003 erhobene Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Auf die Ausführungen
des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie die hier geltend gemachten Fragenkomplexe betreffen, wird ebenfalls
vollinhaltlich Bezug genommen (BVerfG, Beschluss vom 3. Juli 2007 – 1 BvR 1696/03). Aus diesen Gründen besteht
auch keine Veranlassung den Rechtsstreit auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem EuGH
vorzulegen.
Ergänzend wird noch auf folgende Aspekte besonders hingewiesen: Auch aus Sicht der erkennenden Kammer ist
daran festzuhalten, dass es sich bei den Berufsgenos-senschaften nicht um Unternehmen i. S. der Art. 85 und 86
EG-Vertrag - bzw. jetzt 81 und 82 EG-Vertrag - handelt. Nach der Entscheidung des EuGH vom 22. Januar 2002 ist
dies nämlich dann nicht der Fall, wenn eine Einrichtung, welche durch Gesetz mit der Verwaltung eines Systems der
Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten betraut ist, eine Aufgabe von rein sozialer Natur wahrnimmt
und keine wirtschaftliche Tätigkeit i. S. des Wettbewerbsrechts ausübt. Ein wirtschaftliche Tätigkeit der
Berufsgenossenschaften kann aber schon deshalb nicht erkannt werden, weil das deutsche System der gesetzlichen
Unfallversicherung umlagefinanziert ist (§ 152 SGB VII), was bedeutet, dass sich die Beitragslast im Wesentlichen
nur nach den Ausgaben richtet, die zur Bewältigung der sozialen Aufgaben, nämlich Prävention, Rehabilitation und
Entschädigung (§ 1 SGB VII) erforderlich sind. Die soziale Ausrichtung der Aufgabenerfüllung wird dabei insbesondere
durch die ausschließliche Zuständigkeit eines Trägers für ein bestimmtes Unternehmen und die Verzahnung von
Aufgaben des Arbeitsschutzes, der Entschädigung und der Beitragshöhe besonders deutlich. Dies ist auch der
entscheidende Unterschied gegenüber profitorientierten privaten Versicherungsunternehmen, die keinen derartigen
Einfluss auf die Einhaltung und Weiterentwicklung der Arbeitsschutzbestimmungen und auch keinen Blick für das
ganze Unternehmen haben. Das Risiko der Belegschaft eines bestimmten Unternehmens, Arbeitsunfälle und
Berufskrankheiten zu erleiden, würde für den Fall, dass die Erfüllung der genannten Aufgaben oder die Zuständigkeit
für die genannten Bereiche in unterschiedlichen Händen liegt, erhöht. Es sei darauf hingewiesen, dass hiervon auch
der oder die Inhaber des Unternehmens profitieren – sofern sie sich im Unternehmen aufhalten.
Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht darauf ankommen, ob die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung
wie in Italien insgesamt durch einen Träger oder wie in der Bundesrepublik Deutschland durch mehrere, den einzelnen
Branchen zugeordnete Träger erfüllt werden. Durch das gegliederte System der Berufsgenossenschaften in der
Bundesrepublik Deutschland wird im Wesentlichen der branchenspezifischen Sachkunde der unterschiedlichen
Unfallversicherungsträger mehr Geltung verschafft, was wiederum die Aufgabenerfüllung optimiert. Die Gliederung des
Systems ist daher eine rein organisatorische Maßnahme, welche die rein soziale Natur der Aufgabe nicht tangiert. Bei
allen Trägern handelt es sich jeweils um eine Einrichtung, welche durch Gesetz mit der Verwaltung eines Systems der
Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten betraut ist. Damit ist keineswegs postuliert, dass ein Träger
auch das gesamte System verwalten muss. Vielmehr sind die genannten Voraussetzungen auch erfüllt, wenn ein
Träger nur mit der Verwaltung eines Teilbereichs des Systems betraut ist. Die Bedenken des Sächsischen
Landessozialgerichts im Beschluss vom 24. Juli 2007 greifen daher nicht durch.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Klägerin bislang nicht dargetan hat, welche private Versicherung das Risiko
der Berufskrankheiten in gleichem oder ähnlichem Umfang wie die gesetzliche Unfallversicherung übernehmen würde.
Es sei darauf hingewiesen, dass angesichts der Vielzahl von in ihrer Wirkung bislang wenig erforschten Stoffen,
gegenüber denen die Versicherten während einer versicherten Tätigkeit exponiert sind, das Berufskrankheitenrisiko in
hohem Maße unwägbar ist, zumal dann für eine Haftungsfreistellung des Unternehmers gem. § 104 SGB VII kein
Raum mehr wäre.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von
Bedeutung ist, geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich auch mit
dieser Entscheidungsform einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (=
VwGO). Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (= GKG) in der ab dem
1. Juli 2004 geltenden Fassung des Art. 1 Kostenmodernisierungsgesetz vom 5. Mai 2004 BGBl. I, S. 718) i. V. m. §
72 Nr. 1 GKG. Hiernach ist bei einem Streit um die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung wegen
deren grundsätzlicher Bedeutung für den Streitwert der dreifache Jahresbetrag des Unfallversicherungsträgers,
mindestens aber der vierfache Auffangstreitwert, zugrunde zu legen (BSG, Urt. v. 9. Mai 2006 – B 2 U 34/05, m. w.
N.). Als Grundlage für die Ermittlung des Jahresbeitrags ist hier der Beitragsvorschussbescheid 2004, d. h. für das
Jahr der Klageerhebung, heranzuziehen. Darin ist ein Beitrag i. H. v. 6.845, 45 EUR ausgewiesen. Da der dreifache
Jahresbeitrag der Klägerin über dem vierfachen des Auffangstreitwerts von 5000,00 EUR (= 20.000,00 EUR) liegt, war
der Streitwert auf 20.536,35 EUR festzusetzen.