Urteil des SozG Lüneburg vom 16.02.2010

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Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 16.02.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 45 AS 34/10 ER
1. Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter
dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen in der Hauptsache ab dem 20.01.2010 bis zum Vorliegen einer
bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für einen Zeitraum von sechs Monaten
Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung angemessener Heizkosten i.H.v. 110,36 Euro zu gewähren. Im
Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. 2. Der Antragsgegner hat die notwendigen
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 9/10 zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über Kosten der Unterkunft und Heizung.
Die Antragstellerin steht im Bezug von Leistungen nach dem SGB II bei dem Antragsgegner. Sie bewohnt eine in
ihrem Eigentum stehende Doppelhaushälfte mit einer Wohnfläche von etwa 63 qm. Beide Doppelhaushälften
zusammen haben eine Wohnfläche von rund 120 qm.
Mit Bescheid vom 22.12.2009 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin vorläufig für die Zeit von Januar bis Juni
2010 Kosten der Unterkunft und Heizung. Dabei legte er Heizkosten i.H.v. 116,48 Euro zu Grunde, die sich aus
110,00 Euro Heizkostenabschlägen, sowie 6,84 Euro für die Anlagenwartung zusammensetzen. In Abzug brachte er
eine Warmwasserpauschale i.H.v. 6,48 Euro sowie eine Kürzung wegen Unangemessenheit i.H.v. 45,29 Euro, sodass
er insgesamt Heizkosten i.H.v. 64,71 Euro anerkannte.
Mit Bescheid vom 22.12.2009 lehnte der Antragsgegner einen Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung der Kosten
für eine bereits durchgeführte Trinkwasseruntersuchung durch das Umweltlabor C. i.H.v. einmalig 26,78 Euro ab.
Gegen die Bescheide vom 22.12.2009 legte die Antragstellerin unter dem 15. bzw. 18.01.2010 Widerspruch bei dem
Antragsgegner ein.
Mit Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 18.01.2010, bei Gericht eingegangen am 20.01.2010,
begehrt die Antragstellerin nun, ihr höhere regelmäßige Leistungen für Unterkunft und Heizung zu gewähren, sowie
den Betrag gemäß der Rechung des Umweltlabors C. zu übernehmen.
Im Einzelnen begehrt die Antragstellerin, die Heizkosten in tatsächlicher Höhe zzgl. der Warmwasserpauschale zu
übernehmen und die Anlagenwartung als allgemeine Nebenkosten (statt als Heizkosten) zu berücksichtigen. Sie ist
der Meinung, die Angemessenheit ihrer Heizkosten könne nicht anhand des bundesweiten Heizspiegels beurteilt
werden, weil die Wohnfläche ihrer Doppelhaushälfte unter 100 qm betrage.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
1. den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Nebenkosten i.H.v zusätzlichen 6,84
Euro monatlich für die Anlagenwartung zu gewähren,
2. den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Heizkosten i.H.v. 103,52 Euro
monatlich zu übernehmen und
3. den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr den Betrag i.H.v. 26,76 Euro zur
Begleichung der Rechnung des Umweltinstituts C. zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Er verweist hinsichtlich der Angemessenheit der Heizkosten auf den bundesweiten Heizspiegel und ist der
Auffassung, dass hinsichtlich der Nebenkosten eine Eilbedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, sowie der beigezogenen
Verwaltungsakte des Antragsgegners.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist im tenorierten Umfang begründet. Im Übrigen ist er
unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint.
Für die einstweilige Anordnung gilt gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG unter anderem § 920 ZPO entsprechend. Nach
dieser Vorschrift soll das im Zivilprozess statthafte Arrestgesuch die Bezeichnung des Anspruchs sowie des
Arrestgrundes enthalten. Anspruch und Arrestgrund sind glaubhaft zu machen.
Dies bedeutet, dass die Antragstellerin zum einen als Anordnungsanspruch ein subjektives öffentliches Recht auf das
begehrte Verwaltungshandeln glaubhaft machen muss. Weiter muss als Anordnungsgrund eine Eilbedürftigkeit
glaubhaft gemacht werden, also die Notwendigkeit der begehrten einstweiligen Anordnung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile. Vermieden werden soll als Ausfluss des in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Gebots des
effektiven Rechtsschutzes, dass der Antragsteller vor vollendete Tatsachen gestellt wird, bevor er wirksamen
Rechtsschutz erlangen kann (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 27a).
Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Zwischen beiden besteht
vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als sich die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender
Eilbedürftigkeit oder Schwere des drohenden Nachteils verringern und umgekehrt. Anordnungsanspruch und
Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (vgl.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. März 2007, Az. L 9 AS 137/07 ER; Beschluss vom
14.2.2006, Az. L 9 AS 19/06 ER; Sozialgericht Lüneburg, Beschluss vom 24.6.2009, Az. S 75 AS 915/09 ER;
Beschluss vom 18.5.2009, Az. S 87 AS 674/09 ER).
Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenwertes
Recht nicht vorhanden ist. Wenn die Klage offensichtlich zulässig und begründet ist, dann vermindern sich die an den
Anordnungsgrund zu stellenden Anforderungen und ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung häufig
stattzugeben. Auch in diesem Fall kann aber auf einen Anordnungsgrund nicht gänzlich verzichtet werden, weil dieser
insoweit das einzige spezifische Erfordernis ist, das den einstweiligen Rechtsschutz vom Hauptsacheverfahren
unterscheidet (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.10.2003, Az. L 15 AL 23/03 ER =
SGb 2004, 44 und info also 2004, 140; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 86b Rn. 29 m.w.N.). Bei
offenem Ausgang ist eine Interessen- bzw. Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-
Bremen, Beschluss vom 5.6.2008, Az. L 13 AS 88/08 ER; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 86b Rn.
29a m.w.N.).
Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend in die Abwägung einzubeziehen.
Denn die Gerichte müssen sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützend und fördernd
vor die Grundrechte des einzelnen stellen. Dies gilt besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen
geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung haben die Gerichte zu verhindern, auch wenn sie nur
möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25.2.2009, Az. 1 BvR
120/09 = NVwZ 2009, 715, NZS 2009, 674; Beschluss vom 12.5.2005, Az. 1 BvR 569/05 = NVwZ 2005, 927,
Breithaupt 2005, 803, info also 2005, 166).
Vorliegend handelt es sich bei den Kosten für die Wartung der Heizungsanlage zwar entgegen der Auffassung der
Antragstellerin um Heizkosten und nicht um allgemeine Nebenkosten. Diese könnten jedoch auch unter
Berücksichtigung der Kosten der Anlagenwartung vollständig - unter Abzug lediglich einer Pauschale für die bereits in
der Regelleistung enthaltende Erwärmung von Warmwasser i.H.v. 6,48 Euro (vgl. dazu Geiger, Leitfaden zum
Arbeitslosengeld II, 6. Auflage, Seite 219) - zu übernehmen sein. Nach § 22 Abs. 1 S. 1 werden nämlich unter
anderem Leistungen für Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind.
Ob dies vorliegend der Fall ist, kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend festgestellt
werden.
Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die Heizkosten mit einer Höhe von etwa 1,85 Euro je qm sehr hoch sind.
Andererseits kann der "Bundesweite Heizspiegel" der seit 2005 jährlich veröffentlicht wird und auf den das
Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 02.07.2009 (Az.: B 14 AS 36/08 ER) Bezug genommen hat, vorliegend
nicht herangezogen werden. Denn dieser bezieht sich ausdrücklich nur auf Wohngebäude mit einer Gebäudefläche
von mindestens 100 qm. Hierunter fällt die von der Antragsstellerin bewohnte Doppelhaushälfte nicht. Dafür kommt es
auch nicht darauf an, wie groß beide Doppelhaushälften zusammen sind. Denn Doppelhaushälften sind regelmäßig
technisch getrennt und verfügen über zwei Heizungsanlagen. Sie entsprechen somit eher zwei Einzelhäusern als
einem einheitlichen Gebäude. Dies ergibt sich auch daraus, dass Doppelhaushälften letztlich als zwei
aneinandergebaute Reihenendhäuser gesehen werden können. Auch bei Reihenhäusern wäre es jedoch fernliegend,
die Wohnfläche sämtlicher zusammengebauter Häuser - beispielsweise einer Straße - zusammenzurechnen.
Nicht von Bedeutung ist auch, ob - wie von dem Antragsgegner angeführt - die Projektleitung der
Heizspiegelkampagne der Auffassung ist, die gesamte Wohnfläche des Doppelhauses sei bei einem Vergleich mit
den Werten des Heizspiegels zugrundezulegen. Denn diese Auffassung hat jedenfalls keinen Niederschlag im
Wortlaut des Heizspiegels gefunden, auf den allein sich auch das Bundessozialgericht beziehen konnte.
Eine abschließende Klärung, ob - und ggf. in welcher Höhe - die Heizkosten der Antragstellerin angemessen sind, ist
im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor diesem Hintergrund deshalb nicht möglich, weil hierzu ggf. die
Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich wäre, mit dem die Frage geklärt werden könnte, ob die
Antragstellerin unwirtschaftlich heizt. Die Kammer weist dabei bereits an dieser Stelle darauf hin, dass Zweifel daran
bestehen, ob hierzu ein Kurzgutachten des co2online gGmbH ausreichen kann. Jedenfalls ist aber die Einholung
eines Sachverständigengutachtens in der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Verfügung stehenden Zeit nicht
möglich.
Liegen damit die Voraussetzungen für eine Folgenabwägungsentscheidung vor, ist diese zugunsten der Antragstellerin
zu treffen. Mit der erstrebten Leistung wird das verfassungsrechtliche gewährleistete "soziokulturelle
Existenzminimum" abgesichert. Dem Hilfeempfänger muss es möglich sein, in der Umgebung von
Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Für die Abwägungsentscheidung bedeutet dies, dass die
Antragstellerin eine auf dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz und der Verpflichtung des Staates
zum Schutz der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz beruhende Position für sich reklamieren kann.
Demgegenüber hat das Interesse des Antragsgegners, dass finanzielle Mittel nur den gesetzlichen Regelungen
entsprechend verwendet werden dürfen, zurückzutreten. Somit sind der Antragstellerin - vorläufig - die tatsächlichen
Heizkosten zu gewähren.
Der Anordnungsgrund folgt hinsichtlich der Heizkosten daraus, dass es der Antragstellerin nicht zuzumuten ist,
dauerhaft bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen maßgeblichen Anteil der Heizkosten aus ihrer Regelleistung
zu finanzieren.
Im Übrigen - hinsichtlich der Rechnung des Umweltlabors C. - war der Antrag auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes abzulehnen. Insoweit fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Denn die als Anordnungsgrund
erforderliche Eilbedürftigkeit besteht für eine Begleichung von Schulden regelmäßig nicht. Insoweit sind nämlich die
Interessen Dritter und nicht das soziokulturelle Existenzminimum des Antragstellers betroffen. Im Übrigen ist es der
Antragstellerin auch zuzumuten, einen einmaligen Betrag i.H.v. deutlich weniger als 10 Prozent der Regelleistung aus
dieser aufzubringen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus §§ 183 ,193 SGG.