Urteil des SozG Lübeck vom 13.11.2007

SozG Lübeck: freiwillige versicherung, rechtswidrigkeit, versicherungspflicht, erwerbsfähigkeit, erwerbsunfähigkeit, krankenversicherung, mitgliedschaft, leistungsbezug, rücknahme, zustellung

Sozialgericht Lübeck
Urteil vom 13.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lübeck S 1 KR 139/07
1. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2007
wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger ab 1. Oktober 2006 als freiwilliges Mitglied in der
gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen. 3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten
des Klägers. Rechtsmittelbelehrung: Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist
innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht Gottorfstr.
2 24837 Schleswig schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht Lübeck
Eschenburgstraße 3 23568 Lübeck schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der
Geschäftsstelle eingelegt wird. Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten
Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur
Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch
Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der
Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht
Lübeck schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Lehnt das Sozialgericht den
Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf
der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist
gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Der 1952 geborene Kläger, der seit dem 15. Dezember 2005 von dem Prozessbevollmächtigten gesetzlich betreut
wird, war vom 01. Januar 2005 bis zum 30. September 2006 wegen der Zahlung von Arbeitslosengeld 2 (ALG ) bei der
Beklagten als Pflichtmitglied krankenversichert. Zuvor war er zuletzt 1978 gesetzlich krankenversichert.
Mit Schreiben vom 6. April 2006 ( Bl. 53 d. VerwA der Beigel.) wandte sich die Beklagte an die Beigeladene und
äußerte erhebliche Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers i.S.d. § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 2. Buch ( SGB 2 ).
Ab 1. Mai 2006 erhielt der Kläger Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 12. Buch ( SGB 12 ) unter Anrechnung der
weiterhin gewährten Leistungen nach dem SGB 2. Unter Übersendung dieses Schreibens meldete die
Arbeitsgemeinschaft Lübeck als zuständiger Leistungsträger von ALG 2 mit Schreiben vom 2. Mai 2006 bei der
Beigeladenen einen Erstattungsanspruch an.
Mit Schreiben vom 22. Mai 2005 beantragte der Kläger formlos die Aufnahme als freiwillig krankenversichertes
Mitglied bei der Beklagten.
Mit Bescheid vom 09. Juni 2006 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, Zeiten, in denen die
Versicherung allein deshalb bestanden habe, weil ALG 2 – hiervon müsse im Fall des Klägers ausgegangen werden –
zu Unrecht bezogen worden sei, blieben unberücksichtigt. Damit sei die Vorversicherungszeit nicht erfüllt. Der
Bescheid enthielt keine Rechtsmittelbelehrung.
Dagegen erhob der Kläger am 10. November 2006 Widerspruch und wandte ein, die Leistungen nach dem SGB 2
seien nicht zu Unrecht bezogen worden. Ein unrechtmäßiger Leistungsbezug könne nur dann vorliegen, wenn der
gesamte Bewilligungsbescheid durch die Arbeitsgemeinschaft zurückgenommen und die Leistungen zurückgefordert
würden. Dies sei nicht der Fall.
Die Aufhebung der Bewilligung von ALG 2 erfolgte durch Bescheid der ARGE vom 20. November 2006 mit Wirkung
zum 1. Oktober 2006 unter Bezugnahme auf §§ 7 Abs. 1, 8 und 9 Abs. 1 SGB 2 und 48 Abs. 1 Satz 2
Sozialgesetzbuch 10. Buch ( SGB 10 ) mit der Begründung, die Erwerbsfähigkeit sei weggefallen.
Mit Bescheid vom 19. Januar 2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie
aus, gemäß § 7 Abs. 1 Satz1 Nr. 2 SGB II bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II nur bei vorliegender
Erwerbsfähigkeit (§ 8 SGB II). Aus den gespeicherten Krankheitsdaten gehe hervor, dass der Kläger unter chronischer
Niereninsuffizienz, arteriellem Hypertonus, hypertensiver Herz-Nierenkrankheit, einem Zustand nach Stammganglien-
Einblutung in Folge hypertensiver Enzephalopathie sowie Epilepsie leide. Realistischerweise sei daher von einer
längerfristigen Erwerbsunfähigkeit auch in der Vergangenheit auszugehen und somit davon, dass Erwerbsunfähigkeit
– wenn nicht sogar schon vor Beginn des Leistungsbezuges – bereits vor der Aufhebung des Leistungsbezuges von
ALG 2 am 22. November 2006 vorgelegen habe. Bei der Beurteilung der Vorversicherungszeit sei es unerheblich, bis
zu welchem Zeitpunkt die Leistung (zu Unrecht) weitergezahlt und ob die Leistung zurückgefordert worden sei. Dies
habe das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht in seinem Beschluss vom 19. September 2006 Aktenzeichen
L 5 B 376/06 KR ER bestätigt. Somit könne zumindest die Zeit vom 01. Mai bis zum 30. September 2006 bei der
Anrechnung der Versicherungszeiten nicht berücksichtigt werden, da für diesen Zeitraum durch die Stadt Lübeck
Leistungen nach dem SGB 2 bewilligt und diese Leistungen mit der ARGE verrechnet worden seien. Daraus folge,
dass der Kläger innerhalb der maßgeblichen Rahmenfrist vom 01. Oktober 2005 bis 30. September 2006 eine
durchgehende Vorversicherungszeit von 12 Monaten vor dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht nicht
nachweisen könne.
Gegen den am 24. Januar 2007 zugestellten Bescheid richtet sich die am 16. Februar 2007 bei dem Sozialgericht
Lübeck erhobene Klage. Zur Begründung macht der Kläger geltend, es habe kein unrechtmäßiger Leistungsbezug
vorgelegen. Voraussetzung für die Annahme einer zu Unrecht bezogenen Leistung sei die Rücknahme der
ursprünglichen Leistungsbewilligung und die Rückforderung gezahlter Leistungen gemäß den §§ 45, 50 SGB X. Im
Fall des Klägers sei jedoch keine Rücknahme und Rückforderung erfolgt, sondern das ALG 2 lediglich gemäß § 48
SGB X für die Zukunft eingestellt worden. Der Kläger übersendet auf Anforderung das zur Frage der Unterbringung in
der Fachklinik N erstellte Gutachten des Arztes für psychotherapeutische Medizin, Neurologie und Psychiatrie Dr. D
vom 27. November 2006.
Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juni 2006 und des
Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2007 den Kläger als freiwilliges Mitglied bei der AOK weiterhin
krankenzuversichern.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf ein gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände zur Versicherungs-, Beitrags- und
Melderecht in der Kranken- und Pflegeversicherung für Bezieher von Arbeitslosengeld 2 vom 26. Januar 2007 und
verweist insbesondere auf Abschnitt III, Punkt 2.2. Sie regt an, zum Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit
einen ärztlichen Gutachter zu hören. Nach Übersendung des Gutachtens von Dr. D wird die Klageerwiderung
dahingehend ergänzt, das danach unzweifelhaft Erwerbsunfähigkeit - wenn nicht sogar schon vor Beginn des
Leistungsbezuges – so doch bereits im Jahr 2005 vorgelegen habe. Die Kammer hat durch Beschluss vom 10.
September 2007 den Bürgermeister der Hansestadt Lübeck beigeladen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 13. November 2007 hat die den Kläger betreffende Leistungsakte der
Beklagten sowie der Beigeladenen vorgelegen. Darauf sowie auf die Gerichtsakte wird wegen der weiteren
Einzelheiten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Zu Unrecht hat die Beklagte die Weiterversicherung des Klägers bzw.
dessen Aufnahme als freiwilliges Mitglied ab 01. Oktober 2006 nach dem Ausscheiden aus dem ALG 2
Leistungsbezug abgelehnt, denn der Kläger erfüllt die erforderliche Vorversicherungszeit nach § 9 Abs. 1 Nr. 1
Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB 5).
Der angefochtene Bescheid vom 09. Juni 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2007
verletzt den Kläger in seinen Rechten und war deshalb aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger als
freiwilliges Mitglied ab 01. Oktober 2006 in der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen.
Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB 5 besteht ein Beitrittsrecht zur freiwilligen Krankenversicherung für Personen, die als
Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind und in den letzen fünf Jahren vor dem Ausscheiden
mindestens 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens 12 Monate versichert
waren; Zeiten der Mitgliedschaft nach § 189 und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil
Arbeitslosengeld 2 zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt (§ 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Hs. SGB 5 in der
Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 2005, BGBL I Seite 3676).
Demgegenüber sind nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB 5 Personen in der Zeit, in der sie ALG 2 nach dem SGB 2 beziehen,
versicherungspflichtig auch dann, wenn die Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend
aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB 5 in der
Fassung des Gesetzes vom 24. Dezember 2003 mit Wirkung zum 01. Januar 2005). Während also die
Versicherungspflicht sogar bei formeller Rechtswidrigkeit des Leistungsbezuges nach Aufhebung des
Bewilligungsbescheides besteht, sollen bei dem Zugangsrecht zur freiwilligen Krankenversicherung nach § 9 Abs. 1
Nr. 1 SGB 5 Zeiten des unrechtmäßigen Bezuges von ALG 2 als Vorversicherungszeit nicht berücksichtigt werden.
Der Gesetzgeber wollte verhindern, das ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger Bezug von ALG 2 dazu
führt, das nach Ende des unrechtmäßigen Leistungsbezug eine dauerhafte freiwillige Mitgliedschaft in der
gesetzlichen Krankenversicherung begründet werden kann (BT/Drs. 16/245 Seite 9).
Der Kläger war vom 1. Januar 2005 bis zum 30. September 2006 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB 5 auf Grund des
Bezuges von ALG 2 in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Die
Vorversicherungszeit gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB 5 geht mithin dem 1. Oktober 2006 entweder 12 Monate oder 5
Jahre voraus. Vor dem 1. Oktober 2006 war der Kläger seit dem 1. Januar 2005 und damit mehr als 12 Monate
ununterbrochen – aufgrund des ALG 2 Bezuges – bei der Beklagten versichert. Dies wird auch von der Beklagten
anerkannt. Auch die Beklagte geht von einer Versicherungspflicht in dem Zeitraum vom 01. Januar 2005 bis zum 30.
September 2006 und mithin auch für den Zeitraum des gleichzeitigen Bezuges von Leistungen nach dem SGB 12 seit
Mai 2006 aus (Seite 2 des Widerspruchsbescheides). Die in diesem Bescheid geäußerte Rechtsauffassung,
zumindest für den Zeitraum vom 01. Mai bis zum 30. September 2006 könnten wegen des gleichzeitigen Bezuges
von Leistungen nach dem SGB 12 die Versicherungszeiten nicht berücksichtigt werden, ist deshalb irreführend. Denn
die Versicherungspflicht bleibt selbst bei einer rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung gemäß § 5 Abs. 1
Nr. 2 a SGB 5 bestehen.
Steht mithin fest, dass der Kläger wegen des ALG 2 - Bezuges in dem Zeitraum vom 01. Januar 2005 bis zum 30.
September 2006 der Versicherungspflicht unterlag, so könnte eine Anrechnung auf die Vorversicherungszeit allein
daran scheitern, dass die Leistung zu Unrecht bezogen wurde.
Die Rechtmäßigkeit eines Leistungsbezuges kann zunächst danach beurteilt werden, ob die materiellen
Voraussetzungen dafür vorlagen ( materielle Rechtsmäßigkeit ), etwa, ob der Leistungsbezieher nach § 8 Abs. 1 SGB
2 erwerbsfähig war. Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB 2 gilt Erwerbsfähigkeit als eine der Anspruchsvoraussetzungen für
ALG 2. Diese ist nur dann erfüllt, wenn der Berechtigte fähig ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB 2).
Ob diese Anspruchsvoraussetzung während des gesamten Bezuges von ALG 2 vom 1. Januar 2005 bis zum 30.
September 2006 vorgelegen hat, steht nicht fest und kann auch nicht dem Gutachten von Dr. D , dass wegen der
geplanten Unterbringung für das Amtsgericht Lübeck gefertigt wurde, entnommen werden. Bisher ist von der
Beklagten auch keine Feststellung zur Erwerbsunfähigkeit des Klägers und der Unrechtmäßigkeit des ALG 2 Bezugs
getroffen worden. Diese hat die Ablehnung der Aufnahme des Klägers als freiwilliges Mitglied lediglich mit der
Vermutung der Unrechtmäßigkeit ( " es müsse davon ausgegangen werden" ) begründet, ohne diese ausdrücklich
festzustellen. Eine derartige Unterstellung ohne jegliche Begründung und vorherige gutachtliche Beurteilung kann
keine Feststellung der Unrechtmäßigkeit des Leistungsbezuges i.S.d. § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Hs. SGB 5 darstellen.
Ohnehin hat die Beklagte keinen Zeitpunkt oder Zeitraum genannt. Auch im Widerspruchsbescheid stützt die Beklagte
die Ablehnung nur auf die Annahme der Erwerbsunfähigkeit des Klägers bereits vor Aufhebung der Bewilligung am 20.
November 2006 – wenn nicht schon sogar vor Beginn des Leistungsbezugs. Unabhängig davon, ob die Beklagte
berechtigt ist, über die Rechtmäßigkeit einer Leistung eines anderen Leistungsträgers zu entscheiden, können die
Formulierungen im Bescheid vom 9. Juni 2006 und im Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2007 nicht als solche
Entscheidung gewertet werden, denn sie sind derart unbestimmt, dass es bereits an der formellen Rechtmäßigkeit ( §
33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch, SGB 10 ) mangelt.
Selbst eine hinreichend bestimmte Entscheidung der Beklagten über die Unrechtmäßigkeit des ALG 2-Bezugs wegen
Erwerbsunfähigkeit könnte jedoch die Anrechnung auf die Vorversicherungszeit nicht verhindern, denn den
Krankenkassen ist es verwehrt, bei der Prüfung der Vorversicherungszeit für eine freiwillige Versicherung von
ehemaligen Beziehern von ALG 2 eigenständig zu überprüfen, ob die Mitgliedschaft auf einem rechtswidrigen Bezug
von ALG 2 beruht hat (LSG Essen, Beschluss vom 31. August 2006, L 11 B 18/06 ER; vgl. auch BSG SozR 3 – 2500
§ 9 Nr. 3 Seite 9; Peters in Kassler Kommentar, Stand 2004, RdNr. 42 ).
Der Bezug von ALG 2 ist mithin bis zur Aufhebungsentscheidung der ARGE formal zu Recht erfolgt, da eine
rückwirkende Aufhebung ohne das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 45,48 SGB 10 nicht erfolgen kann ( vgl.
LSG Niedersachsen, Beschluss vom 6. März 2007, L 1 KR 1/07 ER). Solange der Leistungsträger von ALG 2 die
bestandskräftige Bewilligung nicht aufgehoben hat, ist die Leistung formal rechtmäßig bezogen worden (vergleiche
LSG Essen, Beschluss vom 29. August 2006, L 20 B 77/06 SO ER, LSG Essen, Beschluss vom 31. August 2006, L
11 B 18/06 KR ER). Die materielle Rechtmäßigkeit ist deshalb solange nicht entscheidungsrelevant, wie ALG 2 formal
rechtmäßig bezogen wurde. Letzteres ist hier für den Zeitraum bis zum 30. September 2006 der Fall.
Denn die ARGE Lübeck hat die Bewilligung von ALG 2 erst mit Bescheid vom 20. November 2006 mit Wirkung zum
01. Oktober 2006 wegen einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse aufgehoben und nicht wegen
einer von Beginn an bestandenen Rechtswidrigkeit der Bewilligung. Der Aufhebungsbescheid vom 20. November 2006
beinhaltet mithin keine Entscheidung über die Unrechtmäßigkeit der in dem Zeitraum vom 01. Januar 2005 bis zum
30. September 2006 gezahlten Leistungen. Deren Unrechtmäßigkeit hätte ohnehin allein bei Vorliegen der
Voraussetzungen von § 45 SGB 10 festgestellt werden können. Eine Rücknahme der Bewilligung nach § 45 SGB 10
ist jedoch nicht erfolgt. Wenn aber einerseits der Kläger versicherungspflichtiges Mitglied aufgrund des ALG 2
Bezuges vom 01. Januar 2005 bis zum 30. September 2006 gewesen ist und andererseits die Bewilligung erst zum
01. Oktober 2006 aufgehoben wurde, so sind vor dem letztgenannten Zeitpunkt mehr als 12 Kalendermonate
ununterbrochener Versicherungspflicht zu berücksichtigen und die Voraussetzungen für die freiwillige Versicherung ab
01. Oktober 2006 gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Hs. SGB 5 sind erfüllt.
Die Kammer vermochte der gegenteiligen Rechtsauffassung, dass es auf die materielle Rechtmäßigkeit des
Leistungsbezuges ankommt, nicht zu folgen. Sie sieht diese Rechtsauffassung auch nicht in dem von der Beklagten
zitierten Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. September 2006, L 5 B 376/06 KR
ER begründet. Vielmehr wird dort auf den Wortlaut des § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2.Hs. SGB 5 abgestellt und ausgeführt,
es sei nicht geregelt, wer die Feststellung verbindlich treffe. Hinweise darauf, ob es auf die materielle oder formelle
Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit ankommt, finden sich in dem Beschluss nicht. Zwar hat das Sozialgericht
Lübeck in seinem Beschluss vom 10. April 2006 (S 5 KR 37/06 ER) und ebenso das LSG Niedersachen (Beschluss
vom 6. März 2007, L 1 KR 1/07 ER ) die Auffassung vertreten, dass die materielle Rechtswidrigkeit ausreicht und die
Anwendung von § 9 Abs. 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V nicht voraussetzt, dass die Bewilligung der Leistungen nach dem
SGB 2 aufgehoben wurde und dies damit begründet, eine solche Betrachtung würde dem Gesetzeszweck
zuwiderlaufen, diese Auffassung vermag die 1. Kammer jedoch nicht zu folgen.
Im Ergebnis würde dies nämlich bedeuten, dass erstmalig und einmalig im Sozialversicherungsrecht nicht der die
Leistung gewährende Träger sondern ein anderer über die Rechtmäßigkeit dieser Leistung entscheiden kann. Eine
derart weitgehende Intention ist der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen. Die Verhinderung einer Mitgliedschaft
aufgrund eines rechtswidrigen Bezuges von ALG 2 kann als Ziel auch verfolgt werden, wenn diese Rechtswidrigkeit
die Aufhebung der Bewilligung durch den zuständigen Leistungsträger voraussetzt. Nur der zuständige Leistungsträger
hat nach den Regeln des Sozialversicherungsrechts die Kompetenz, über Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit
nach den Vorschriften des §§ 45 ff. SGB 10 zu entscheiden. Auch der Vertrauensschutz nach den §§ 45,48 SGB 10
wäre nicht gewährleistet, würde man die materielle Rechtswidrigkeit ausreichen lassen. Zutreffend weist der 1. Senat
des LSG Niedersachsen darauf hin, dass in der Regel keine Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers im Hinblick auf
das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Erwerbsfähigkeit gegeben sein wird, so dass im Regelfall auch keine
rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung erfolgen kann (LSG Niedersachen, a.a.O., S. 7 ).
Daraus zu schließen, es müsse deshalb die materielle Rechtswidrigkeit ausreiche, würde eine Umgehung des
Vertrauensschutzes bedeuten. Dieses Rechtsgut gilt es jedoch auch bei der Gefahr von Missbrauch zu schützen.
Die Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Beklagten, dass Erwerbsunfähige keine Leistungen nach dem
SGB 2 sondern nach dem SGB 10 erhalten, müsste auf andere Art und Weise sichergestellt werden. Wenn der
Gesetzgeber jedenfalls die Anrechnung im Rahmen der Vorversicherungszeit daran scheitern lassen will, das ALG 2
zu Unrecht bezogen wurde, so ist diese Feststellung allein von dem zuständigen Leistungsträger zu treffen. Auch
umgekehrt ist die Zuständigkeit deutlich abgegrenzt: so sind zum Beispiel Krankenkassen unter Berücksichtigung der
Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB 5 für einen Bezieher von ALG 2 nicht befugt, der Entscheidung des
Leistungsträgers nach § 44 a SGB 2 zu widersprechen oder die Übernahme von Kosten für eine stationäre
Krankenhausbehandlung unter Hinweis auf die nicht vorliegende Erwerbsfähigkeit des Arbeitssuchenden zu versagen
(LSG Niedersachen/Bremen, Beschluss vom 19. April 2005, L 4 KR 42/05 ER). Denn grundsätzlich gilt, dass
innerhalb eines gegliederten Sozialleistungssystems die anderen Träger die Regungsbefugnis des zuständigen
Trägers zu akzeptieren haben. Soweit das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes anordnet, muss jeder Träger die
Entscheidung der anderen Träger respektieren und inhaltlich seinen Entscheidungen zu Grunde legen (vergleiche BSG
SozR 1300 § 103 Nr. 2; SozR 3 – 2200 § 183 Nr. 6; SozR 3 – 1300 § 86 Nr. 3). Die Gesetzesbegründung gibt keinen
Hinweis, dass im Rahmen des § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Hs. SGB 5 von diesen Grundsätzen abgewichen werden sollte.
Die Unrechtmäßigkeit des Leistungsbezuges, die zu einer Vernichtung der Berücksichtigung dieses Zeitraumes bei
der Vorversicherungszeit führt, besteht auch nicht aus anderen Gründen. Insbesondere scheitert die Anrechnung nicht
daran, dass der Kläger in dem Zeitraum vom 01. Mai bis zum 30. September 2006 neben ALG 2 auch Sozialhilfe nach
dem SGB 12 bezogen hat. Denn die Leistungsgewährung eines weiteren Leistungsträgers, nämlich der Beigeladenen,
vermag ebenfalls nicht die Rechtswidrigkeit des ALG 2 Bezuges zu begründen. Diese folgt auch nicht daraus, dass
die ARGE einen Erstattungsanspruch angemeldet hat. Der entgegenstehenden Rechtsauffassung des LSG Nordrhein-
Westfalen (Beschluss vom 31. August 2006, L 11 B 18/06 KR ER Rn 14) vermochte die Kammer nicht zu folgen. Im
Übrigen geht auch der 11. Senat des LSG Essen davon aus, dass die Rechtslage noch ungeklärt ist und hat
ausgeführt, aus der Anmeldung eines Erstattungsanspruches könne noch nicht die Wirkung einer faktischen
Rücknahme der Bewilligung beigemessen werden und die abschließende rechtliche Würdigung müsse daher im
Hauptsacheverfahren erfolgen (Beschluss am angegebenen Ort Rn 15).
Schließlich ist noch auszuführen, das auch dem Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände der
Krankenkassen vom 26. Januar 2007 an der von der Beklagten zitierten Stelle (III. 2. 2) keine Ausführungen darüber
zu entnehmen sind, wer die Feststellung des unrechtmäßigen Leistungsbezuges trifft und ob die materielle
Rechtswidrigkeit ausreicht oder die formelle Rechtswidrigkeit festgestellt worden sein muss.
Nach alldem war der Klage in vollem Umfang stattzugeben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger ab 01. Oktober
2006 gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB 5 als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Abschließend weist die Kammer allerdings darauf hin, dass zu der Frage, wann eine Unrechtmäßigkeit des
Leistungsbezuges i.S.v. § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Hs. SGB 5 vorliegt, derzeit eine Revision bei dem 12. Senat des
Bundessozialgerichts (BSG) anhängig ist (B 12 KR 19/07 R).
Der Vorsitzende der 1. Kammer
gez. Klingauf