Urteil des SozG Landshut vom 16.04.2008

SozG Landshut: arzneimittel, versichertenkarte, rückforderung, behörde, vergleich, mitgliedschaft, ermessensspielraum, ermessensfehler, sicherheit, erkenntnis

Sozialgericht Landshut
Urteil vom 16.04.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 1 KR 231/06
I. Der Bescheid der Beklagten vom 11.05.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2006 wird
aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Rückforderung von im Zeitraum vom 07.07.2003 bis 27.10.2003 von der
Beklagten angeblich zu Unrecht erbrachten Leistungen. Im Einzelnen: Arzneimittel, VO vom 15.07.2003 114,33 EUR
Arzneimittel, VO vom 04.08.2003 32,64 EUR Arzneimittel, VO vom 15.09.2003 114,33 EUR Sehhilfe, erhalten am
26.07.2003 80,78 EUR Blutzuckermessgeräte, VO vom 15.07.2003 156,39 EUR Tensgerät, VO vom 18.09.2003
336,40 EUR Insulin Injektionsgerät, VO vom 13.10.2003 91,52 EUR Teststreifen, VO vom 13.10.2003 285,80 EUR
Gesamtbetrag 1.212,19 EUR
Die Rückforderung wurde von der Beklagten damit begründet, dass für den Kläger im genannten Zeitraum keine
Mitgliedschaft bei ihr bestanden habe. In diesem Zusammenhang wird auf einen Gerichtstermin vor dem Sozialgericht
Berlin vom 26.04.2005 hingewiesen, in dessen Rahmen festgestellt worden sei, dass ein nachgehender
Leistungsanspruch nur bis einschließlich 06.07.2003 bestehe. Auf dieser Grundlage sei ein Vergleich geschlossen
worden. Gemäß § 19 Abs.1 SGB V erlösche der Anspruch auf Leistungen grundsätzlich mit dem Ende der
Mitgliedschaft. Für die nach dem 06.07.2003 (bis 27.10.2003) in Anspruch genommenen Leistungen sei der Kläger
somit erstattungspflichtig.
Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg. Im Widerspruchsbescheid vom 24.07.2006 führte die Beklagte
u.a. aus: "Durch Ihre bis Mai 2005 unterlassene Mitteilung, dass Sie bei der T. BKK familienversichert waren, ist es
der BKK-VBU nicht mehr möglich, Erstattungsansprüche bei der T. BKK geltend zu machen, da die Anmeldung
solcher Ersatzansprüche nur innerhalb einer gesetzlich festgelegten Ausschlussfrist erfolgen kann. Insofern hatte die
BKK-VBU keine andere Möglichkeit, als die Kosten bei Ihnen geltend zu machen, da Sie grob fahrlässig unter
Verletzung der Sorgfaltspflicht Leistungen mit der Krankenversichertenkarte der BKK-VBU zu Unrecht in Anspruch
genommen haben sowie Ihrer Mitteilungspflicht nicht nachgekommen sind".
Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Klage. Zur Begründung ließ der Kläger u.a. vortragen: Bis zum
Abschluss des Vergleichs vor dem Sozialgericht Berlin sei er davon ausgegangen, dass er weiterhin bei der
Beklagten versichert sei. Das Verfahren vor dem SG Berlin habe zwei Jahre gedauert; er hätte alle über die
Versichertenkarte der Beklagten abgerechneten Leistungen auch von der T. BKK erhalten können.
Nach Auffassung der Beklagten sind die Voraussetzungen der §§ 45 und 48 SGB X erfüllt, da der Kläger es
zumindest grob fahrlässig unterlassen habe, die Beklagte über die Möglichkeit einer Familienversicherung über seine
Ehefrau zu informieren.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers stellte im Klageschriftsatz vom 24.08.2006 den Antrag, den Bescheid der
Beklagten vom 11.05.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2006 aufzuheben.
Die Beklagte stellte den Antrag, die Klage abzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den wesentlichen Inhalt der
beigezogenen Beklagtenakte sowie auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug
genommen.
Im ausdrücklichen Einverständnis der Beteiligten hat die Kammer gemäß § 124 Abs.2 SGG ohne mündliche
Verhandlung entschieden.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Kläger ist nicht zur Erstattung der auf Versichertenkarte der Beklagten in
der Zeit vom 07.07. bis 27.10.2003 in Anspruch genommenen Leistungen verpflichtet. Der angefochtene Bescheid
vom 11.05.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2006 ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
Die Entscheidung der Kammer ergibt sich im Wesentlichen aus folgenden Erwägungen:
1. Es kann im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob Rechtsgrundlage für das Erstattungsbegehren der Beklagten § 50
Abs.1 oder § 50 Abs.2 SGB X ist. In beiden Fällen ist die Regelung des § 45 SGB X zu beachten. Absatz 1 setzt
voraus, dass die Leistungsbewilligung gemäß § 45 wirksam aufgehoben wurde. Bei Absatz 2 gilt § 45 zum Schutz
des Erstattungsschuldners entsprechend.
2. Der angefochtene Bescheid lässt nicht hinreichend erkennen, dass die Beklagte die Vorgaben des § 45 SGB X
beachtet hat. Nach dieser Vorschrift darf ein begünstigender Verwaltungsakt, der rechtswidrig ist, unter bestimmten
Voraussetzungen mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Es handelt sich
dabei um eine Ermessensentscheidung, an die besondere formale Anforderungen zu stellen sind: Der Bescheid muss
erkennen lassen, dass der Behörde der ihr eingeräumte Ermessensspielraum bewusst war, weiter die Gesichtspunkte
aufzeigen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Hierbei sind alle wesentlichen
Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, soweit sie einen unmittelbaren Bezug auf das Vertrauen des
Begünstigten, seine Schutzwürdigkeit oder das öffentliche Interesse haben. Ausführungen über das Fehlen eines
Vertrauensschutzes reichen nicht aus (BSG SozR § 45 Nr.34; BSG 56, 55). Die Nichtausübung von Ermessen stellt
einen Ermessensfehler dar, der zur Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes führt.
3. Abgesehen von diesem formellen Fehler liegen nach Auffassung der Kammer auch die materiellen
Voraussetzungen des § 45 SGB X im konkreten Fall nicht vor, insbesondere kann nicht mit hinreichender Sicherheit
festgestellt werden, dass der Kläger bei Entgegennahme der Leistungen "bösgläubig" war und deswegen keinen
Vertrauensschutz im Sinne des § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X genießt. Der Hinweis des Prozessbevollmächtigten des
Klägers, dieser sei bis zum Vergleich vor dem SG Berlin im April 2005 davon ausgegangen, er seit weiterhin bei der
Beklagten versichert, ist nach Auffassung der Kammer nicht zu widerlegen. Es ist nicht auszuschließen, dass der
juristisch nicht vorgebildete und zum damaligen Zeitpunkt gesundheitlich zweifellos schwer beeinträchtigte Kläger
möglicherweise davon ausging, aufgrund des Krankengeldbezugs noch Mitglied der Beklagten zu sein. Die im
Gerichtstermin vom 26.04.2005 gewonnene Erkenntnis machte jedenfalls den Kläger nicht nachträglich "bösgläubig".
Der Klage war daher stattzugeben. Auf die Frage, ob die Einjahresfrist des § 45 Abs.4 Satz 2 SGB X eingehalten
wurde, kommt es für die Entscheidung nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.