Urteil des SozG Konstanz vom 09.01.2013

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SG Konstanz Beschluß vom 9.1.2013, S 3 SO 3704/11
Umdeutung eines wegen Verfristung unzulässigen Widerspruchs
Tenor
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
1 Die Beteiligten streiten um die Erstattung außergerichtlicher Kosten der Klägerseite
nach Erledigung einer Untätigkeitsklage wegen Bescheidung eines Antrages nach
§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz (SGB X).
I.
2 Die Klägerin bezog Hilfe zur Pflege vom Beklagten. Mit Bescheid vom 7. Februar
2011 (Verwaltungsakten Bl. 171/173) wurde der Einkommenseinsatz ab Juli 2008
erhöht und Leistungen in Höhe von 294 EUR zurückgefordert. Hiergegen legten
die Bevollmächtigten mit Telefax vom 11. März 2011 (Verwaltungsakten Bl. 263)
„zunächst zur Fristwahrung Widerspruch ein“. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.
Juli 2011 (Verwaltungsakten Bl. 301 ff.) wies der Beklagte (u. a.) den Widerspruch
vom 11. März 2011 als unzulässig, weil verfristet, hilfsweise unbegründet, zurück.
Mit Schreiben vom 16. August 2011 verlangte die Klägerseite, den Widerspruch als
Antrag nach § 44 SGB X auszulegen und zu bescheiden.
3 Unter dem 23. November 2011 fertigte der Beklagte ein zunächst nicht
abgegangenes Schreiben, wonach erst das Schreiben vom 16. August 2011 als
Antrag nach § 44 SGB X angesehen werden könne, dessen Voraussetzungen
jedoch nicht vorlägen, weil sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben hätten.
4 Am 28. Dezember 2011 erhob die Klägerin Untätigkeitsklage auf Bescheidung des
Antrages nach § 44 SGB X vom 11. März 2011. Am 4. Januar 2012 ging beim
Sozialgericht Konstanz ein Schriftsatz des Beklagten ein, mit welchem er das
Schreiben vom 23. November 2011 übersandte, welches „versehentlich dazumal
nicht abgesandt wurde“. Am 9. Januar 2012 wurde der gesamte Schriftsatz an die
Klägervertreter weitergeleitet. Auf Hinweise des Gerichts vom 13. Juli und 29.
August 2012, dass die Untätigkeitsklage durch das als Bescheid anzusehende
Schreiben des Beklagten vom 23. November 2011 erledigt sei, wurde das
Verfahren von Klägerseite am 3. September 2012 für erledigt erklärt und Antrag auf
Kostengrundentscheidung gestellt.
II.
5 Das Gericht hat gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Antrag
durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 3 SGG) zu
entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu
erstatten haben, wenn das Verfahren - wie im vorliegenden Fall - anders als durch
begründete Entscheidung beendet wird. Die Kostengrundentscheidung ist unter
Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen
zu treffen, wobei neben den primär maßgeblichen Erfolgsaussichten auch die
Gründe für die Klagerhebung und die Erledigung herangezogen werden können
(Leitherer in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, SGG, Kommentar, 10. Aufl. 2012,
§ 193 Rdnrn. 13 - 13 b).
6 Bei Erledigung einer Untätigkeitsklage ist unter dem Gesichtspunkt der
Veranlassung des Rechtsstreits § 161 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) analog oder wenigstens seinem Rechtsgedanken nach heranzuziehen.
Danach fallen die Kosten in der Regel dem Beklagten zur Last, wenn der Kläger
nach den ihm bekannten Umständen mit einer Bescheidung vor Klageerhebung
rechnen durfte (BVerwG, Beschluss vom 15. November 1974 - VII C 57.12 -,
Buchholz 310 § 75 VwGO Nr. 6; HessLSG, Beschluss vom 21. Dezember 1992 - L
5 B 42/92 -, Breithaupt 1993, 606; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6. Januar
1993 - L 6 SB 82/92 -, Breithaupt 1993, 439; LSG Bremen vom 18. Juli 1997 - L 2
BR 33/96-, NZS 1998, 151; Leitherer, a. a. O., Rdnr. 13 c).
7 Im vorliegenden Falle entspricht es nicht der Billigkeit, die Kosten der Klägerin für
erstattungsfähig zu erklären, denn ihr Antrag nach § 44 SGB X wurde fristgerecht
beschieden.
8 § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG bestimmt, dass die Klage nicht vor Ablauf von sechs
Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts zulässig ist, wenn
ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in
angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden ist. Liegt ein zureichender
Grund dafür vor, daß der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so
setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist
aus, die verlängert werden kann (Satz 2).
9 Das Gericht sieht keinen Anlass, den wegen Verfristung unzulässigen
Widerspruch vom 11. März 2011 von Amts wegen in einem Überprüfungsantrag
nach § 44 SGB X umzudeuten. Zwar soll eine solche Umdeutung „uU in Betracht“
kommen (Leitherer, a. a. O., § 84 Rdnr. 7), doch spricht hier schon der eindeutige,
von einem Rechtskundigen formulierte Wortlaut des Rechtsbehelfes dagegen. Der
Bevollmächtigte hätte anhand des Bescheiddatums (7. Februar 2011) leicht
erkennen können, dass sich bei Erhebung des Widerspruchs am 11. März 2011
Probleme mit der Einhaltung der Widerspruchsfrist ergeben könnten. Wenn
tatsächlich von Anfang an ein Überprüfungsantrag gewollt gewesen wäre, so hätte
einer solchen Antragstellung jedenfalls in Form eines Hilfsantrages nichts
entgegengestanden. Bei der Vertretung durch eine auf Sozialrecht spezialisierte
Anwaltskanzlei bedurfte es auch keines Hinweises auf diese Möglichkeit.
10 Ob sich aus der weithin angenommenen Unzulässigkeit eines parallel zum
Widerspruchsverfahren geführten Überprüfungsverfahrens (vgl. BSG, Urteil vom
27. Juli 2004 - B 7 AL 76/03 R -, SozR 4-4300 § 330 Nr. 2 Rz. 17; LSG Baden-
Württemberg, Beschluss vom 2. Februar 2012 - L 12 AS 4675/11 - und Urteil vom
28. Oktober 2009 - L 2 AS 677/09 -) weitere Gründe gegen eine Umdeutung
ergeben, kann in dem nicht zur Klärung schwieriger Rechtsfragen bestimmten
Verfahren nach § 191 Abs. 1 Satz 3 SGG dahingestellt bleiben.
11 Selbst wenn man aber - entgegen der Auffassung des beschließenden Gerichts -
eine solche Umdeutung hier vorzunehmen hätte, wäre der vorliegenden Klage kein
Erfolg beschieden gewesen.
12 Mindestens bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Behörde entschieden hat, sich auf
die Unzulässigkeit des Widerspruchs zu berufen und nicht trotz Unanfechtbarkeit
des Verwaltungsaktes sachlich zu entscheiden, läge nämlich ein zureichender
Grund im Sinne von § 88 Abs. 1 Satz 2 SGG vor, über den Antrag nach § 44 SGB
X nicht zu entscheiden. Zur Vermeidung divergierender Entscheidungen und
unnötigen Verwaltungsaufwandes erscheint es angezeigt, zunächst die
Entscheidung im Widerspruchsverfahren abzuwarten. Erst wenn im eigentlichen
Rechtsbehelfsverfahren keine Entscheidung über den materiellen Anspruch
ergeht, wird das Verfahren nach § 44 SGB X „benötigt“ (vgl. BSG, a. a. O.) und ist
zu betreiben.
13 Auch wenn man zugunsten der Klägerin auf die Beschlussfassung der Behörde
und nicht auf den Zugang oder gar die Bestandskraft des
Widerspruchsbescheides abstellt, bestünde frühestens ab 18. Juli 2011 kein
zureichender Grund mehr, einen eventuell umgedeuteten oder aber jedenfalls den
dann mit Schreiben vom 16. August 2011 gestellten Überprüfungsantrag zu nicht
zu bearbeiten.
14 Die sechsmonatige Frist endete daher frühestens am 18. Januar 2012, wenn man
auf den umgedeuteten Antrag abstellt, ansonsten erst am 16. Februar 2012.
15 Zwar ist das als Bescheid anzusehende Schreiben vom 23. November 2011 der
Klägerseite erst unter Vermittlung des Gerichts am 11. Januar 2012
bekanntgegeben worden, doch liegt dieser Termin noch innerhalb der
Bearbeitungsfrist, so dass die Untätigkeitsklage bis zu ihrer Erledigung durch
Zugang des begehrten Bescheides unzulässig war.
16 Eine Kostenerstattung durch den Antragsgegner kommt daher auch unter
Berücksichtigung der Besonderheiten einer Untätigkeitsklage nicht in Betracht.
17 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG).