Urteil des SozG Köln vom 31.03.2010

SozG Köln (geistige behinderung, medizinische indikation, behinderung, verhütung, krankenversicherung, leben, höhe, sozialhilfe, schwangerschaft, leistung)

Sozialgericht Köln, S 21 SO 199/09
Datum:
31.03.2010
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 21 SO 199/09
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13.03.2009 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2009 verurteilt,
der Klägerin den Betrag in Höhe von 318,81 EUR zu erstatten. Die
Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Berufung wird
zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Erstattung von Kosten für ein Verhütungsmittel (Implanon).
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Bei der 1974 geborenen Klägerin liegt eine geistige Behinderung vor. Sie ist
schwerbehindert im Sinne des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch –Rehabilitation und
Teilhabe behinderter Menschen- (SGB IX) mit einem Grad der Behinderung (GdB) von
100. In ihrem Schwerbehindertenausweis sind die Merkzeichen G, H und RF
eingetragen. Für die Klägerin besteht eine gesetzliche Betreuung. Sie ist gesetzlich
krankenversichert bei der Beigeladenen. Die Klägerin ist verheiratet mit ebenfalls geistig
behindert (GdB 80 und Merkzeichen G und H), für ihn besteht ebenfalls eine Betreuung.
Die Eheleute arbeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen und beziehen von der
Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach
dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch -Sozialhilfe- (SGB XII). Aus der
Ehe ist das am 29.7.2008 geborene Kind hervorgegangen. Für die Klägerin besteht
derzeit Elternzeit. Nach einem aktenkundigen Vermerk des Allgemeinen Sozialen
Dienstes (ASD) vom 15.9.2008 wird die Pflege des Kindes durch die Familie der
Klägerin und ihres Ehemannes, überwiegend durch das Ehepaar sichergestellt, da der
Klägerin bzw. ihrem Ehemann nicht klar bzw. bewusst sei, wann und ob ihr Kind der
Pflege und Zuwendung bedürfe.
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Mit Schreiben vom 27.2.2009 beantragte der Betreuer der Klägerin die Übernahme von
Kosten für das Einsetzen eines Verhütungsstäbchens bei der Klägerin zwecks
Empfängnisverhütung.
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Mit Bescheid vom 13.3.2009 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten für das
Einsetzen des Verhütungsstäbchens ab. Leistungen des Sozialhilfeträgers könnten nur
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im Rahmen erbracht werden wie dies durch die gesetzlichen Krankenkassen erfolgen
könne. Die Klägerin sei Mitglied bei der Beigeladenen, die als vorrangiger
Leistungsträger zuständig sei. Sofern die Beigeladene keine Kosten übernehme, könne
der Sozialhilfeträger aufgrund der Regelungen des §§ 48, 52 SGB XII nicht anstelle der
Krankenkasse die gewünschte Leistung erbringen.
Die Klägerin reichte die Privatliquidation der Frauenarztpraxis vom 27.2.2009 zu den
Verwaltungsakten, wonach für das Einsetzen des Hormonstäbchens (Implandon) ein
Rechnungsbetrag in Höhe von 120,- Euro anfiel. Des weiteren reichte die Klägerin eine
Quittung der Apotheke vom 27.2.2009 über den Erwerb eines Hormonstäbchens
Implanon zum Preis von 198,81 Euro zu den Verwaltungsakten.
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Der Betreuer der Klägerin erhob gegen den Bescheid vom 13.3.2009 Widerspruch. Die
Klägerin sei nicht in der Lage, ein Kind zu betreuen und zu erziehen. Zur Verhütung
einer erneuten Schwangerschaft sei das Hormostäbchen eingesetzt worden. Der
Betreuer legte das Attest von Frau Dr. , Frauenarztpraxis vom 22.6.2009 vor. Hierin ist
ausgeführt worden, aus bekannten Gründen sei bei der Klägerin eine sichere Verhütung
erforderlich. Bei Zustand nach Kaiserschnittentbindung sei die Einlage einer Spirale
traumatisierend. Eine regelmäßige Einnahme der Antibabypille sei bei der Klägerin
nicht gewährleistet. Daher sei das Legen des Implantates (Implanon) wegen der hohen
Sicherheit nötig gewesen. Des weiteren reichte der Betreuer das Schreiben der
Beigeladenen vom 22.6.2009 zu den Verwaltungsakten. Darin lehnte die Beigeladene
die Übernahme der Kosten für das Verhütungsmittel ab. Kosten eines Verhütungsmittels
könnten nur bis zur Vollendung des 20.Lebensjahres von den gesetzlichen
Krankenkassen übernommen werden. Die Klägerin sei bereits 35 Jahre und habe daher
keinen Anspruch mehr auf Kostenübernahme für ein Verhütungsmittel.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 6.11.2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück
und führte begründend aus, zuständiger Sozialleistungsträger sei die Krankenkasse, es
sei das Nachrangprinzip zu beachten, so dass eine Kostenübernahme auch nicht nach
§ 49 SGB XII möglich sei. Selbst bei Annahme eines Anspruchs nach § 48 SGB XII
(Krankenhilfe) oder § 49 SGB XII (Familienplanung) bestehe nach § 52 SGB XII
hinsichtlich der Leistungserbringung die Regelung, dass die Hilfen nach §§ 47 bis 51
SGB XII den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprächen. Damit
lege der Gesetzgeber fest, dass die Leistungen bei Hilfe bei Krankheit oder Hilfe zur
Familienplanung nicht über die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch –
Gesetzliche Krankenversicherung- (SGB V) hinausgingen.
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Die Klägerin, vertreten durch ihren Betreuer, hat am 3.12.2009 Klage erhoben. Sie
macht geltend, die Krankenkasse komme als vorrangiger Leistungsträger nicht in
Betracht. Wegen der geistigen Behinderung der Klägerin sei eine dauerhafte
Empfängnisverhütung erforderlich. Dies sei keine Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung. Die von der Beklagten angegebenen Normen seien nicht
einschlägig. Es gehe hier nicht um eine Verhütung im Kontext von Krankheit, sondern
um eine Verhütung bei Behinderung der Klägerin und ihres Ehemannes.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.3.2009 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 6.11.2009 zu verurteilen, die Kosten für das Einsetzen
des Hormonstäbchens Implanon in Höhe von 318,81 Euro zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf die Ausführungen in ihrem Widerspruchsbescheid vom 6.11.2009.
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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Streitakten und die
beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (Band III).
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid vom 13.3.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
6.11.2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz –SGG-). Die Beklagte hat zu Unrecht die Übernahme der Kosten
für den Erwerb und das Einsetzen des Verhütungsstäbchens Implanon in Höhe von
318,81 Euro abgelehnt. Zutreffend ist zwar die Auffassung der Beklagten, dass eine
Übernahme der Kosten nach § 49 SGB XII in Verbindung mit § 52 SGB XII ausscheidet
(dazu weiter unter 1). Die Kosten des Verhütungsmittels sind im Fall der Klägerin aber
vor dem Hintergrund ihrer wesentlichen geistigen Behinderung im Rahmen der
Eingliederungshilfe als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 5 Nr. 4
SGB IX) von der Beklagten als zuständiger Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 in
Verbindung mit § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) zu erbringen (dazu weiter unter 2).
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(1) Ein Anspruch der Klägerin kann nicht aus der Vorschrift des § 49 SGB XII hergeleitet
werden (aA SG Duisburg, Urteil vom 9.9.2008 –S 7 SO 10/07-). Nach § 49 Satz 2 SGB
XII (Hilfe zur Familienplanung) werden die Kosten für empfängnisverhütende Mittel vom
Sozialhilfeträger übernommen, wenn diese ärztlich verordnet worden sind. Aus § 52
Abs. 1 Satz 1 SGB XII folgt, dass die nach § 49 SGB XII zu erbringende Hilfe den
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 24a SGB V entsprechen
muss. Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung haben nach § 24a Abs. 2 SGB
V nur bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf Versorgung mit ärztlich
verordneten empfängnisverhütenden Mitteln. Die Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB
XII führt dazu, dass Kosten empfängnisverhütender Mittel für Personen nach Vollendung
des 20. Lebensjahres nicht nach § 49 SGB XII übernommen werden können
(Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, § 49 Rdn. 8 m.w.N.). Entsprechend dem Recht
der gesetzlichen Krankenversicherung kommt über diese Altersgrenze hinaus eine
Kostenübernahme für empfängnisverhütende Mittel nur in Betracht, wenn diese nicht
primär der Empfängnisverhütung dienen, sondern wegen Vorliegens einer Krankheit die
Verhütung einer Schwangerschaft angezeigt ist (Schellhorn/Schellhorn/Hohm, aaO),
also eine medizinische Indikation für das Verhütungsmittel besteht (§ 27 SGB V).
Medizinisch indiziert ist ein empfängnisverhütendes Mittel, wenn die Frau durch eine
Schwangerschaft schwerwiegenden Gesundheitsgefahren ausgesetzt wäre. Eine
solche Fallkonstellation liegt bei der Klägerin nicht vor. Die Klägerin leidet an einer
wesentlichen geistigen Behinderung, nicht aber an einer Krankheit, die die Verhütung
einer Schwangerschaft erfordert. Die letzte Schwangerschaft der Klägerin, die zur
Geburt des Kindes geführt hat, ist offensichtlich problemlos verlaufen. Auch die
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behandelnde Frauenärztin Dr. hat eine medizinische Indikation für das Verhütungsmittel
nicht gestellt, sondern in ihrem Attest vom 22.6.2009 ausgeführt, aus den bekannten
Gründen sei bei der Klägerin eine sichere Verhütung erforderlich, wobei mit "bekannten
Gründen" offensichtlich die geistige Behinderung der Klägerin gemeint ist. Wegen
fehlender medizinischer Indikation für ein Verhütungsmittel hat die Beigeladene wegen
des Alters der Klägerin die Übernahme der Kosten für das Verhütungsstäbchen
Implanon nach den für sie maßgebenden Vorschriften des SGB V zu Recht abgelehnt.
Da nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß SGB V die
Übernahme der Kosten für das Hormonstäbchens wegen Überschreiten der
Altersgrenze und fehlender medizinischer Indikation ausgeschlossen ist, scheidet eine
Übernahme der Kosten durch die Beklagte über die Vorschrift des § 49 Abs. 2 SGB XII
ebenfalls aus. Denn die Regelung des § 52 SGB XII hat übergreifende Bedeutung und
gilt für alle Hilfen nach dem Fünften Kapitel, d.h. für Leistungen nach §§ 47 bis 51 SGB
XII und bindet die entsprechenden Hilfen an das Recht der gesetzlichen
Krankenversicherung an. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 52 SGB XII die
Hilfen bei Krankheit/Familienplanung etc. strikt an das Leistungsrecht der gesetzlichen
Krankenversicherung angebunden und ist insoweit von dem Bedarfsdeckungsprinzip
der Sozialhilfe abgerückt (Schellhorn/Schellhorn/Hohm, aaO § 52 Rdn. 1, 2). Es dürfte
daher dem Willen des Gesetzgebers widersprechen, anzunehmen, § 49 Satz 2 SGB XII
könne –in Abweichung der Anordnung nach § 52 SGB XII- gleichwohl (weiterhin) dem
Individualitätsgrundsatz (Bedarfsgrundsatz) Rechnung tragen und ermögliche
Leistungen der Sozialhilfe, wenn nach den Besonderheiten des Einzelfalls
Empfängnisverhütung zwingend geboten und die Aufbringung der hierfür erforderlichen
Mittel nicht möglich sei (so SG Duisburg, aaO). Dass die durch den Gesetzgeber bei den
Hilfen nach §§ 47ff SGB XII vorgenommene Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip der
Sozialhilfe bedenklich erscheint vor dem Hintergrund, dass die gesetzlichen
Krankenkassen bestimmte Leistungen nicht mehr finanzieren bzw. nach dem SGB V zu
leistende Eigenanteile und Zuzahlungen immer mehr ausgeweitet worden sind, steht
auf einem anderen Blatt. Dies führt dazu, dass notwendige Kosten für die
gesundheitliche Versorgung, die bei Empfängern von Sozialhilfe anfallen und nach §§
47 ff SGB XII nicht mehr übernommen werden können, ggf. durch andere Hilfen nach
dem SGB XII gedeckt werden müssen, wenn sie ein bestimmtes zumutbares Maß
überschreiten (vgl. Schellhorn/Schellhorn/Hohm, aaO Rdn. 6).
In der Regel werden die Aufwendungen für übliche Verhütungsmittel, wie Kondome
oder die Antibabypille das zumutbare Maß nicht überschreiten und können durch den
pauschalen Regelsatz als abgegolten angesehen werden. Besonderheit im
vorliegenden Fall ist, dass für die Klägerin und ihren Ehemann diese üblichen
Verhütungsmaßnahmen nicht in Betracht kommen, dies angesichts ihrer geistigen
Behinderungen, welche einer verlässlichen Anwendung dieser Verhütungsmittel
entgegenstehen. Die Frauenärztin der Klägerin hat in ihrem Attest vom 22.6.2009
nachvollziehbar dargelegt, dass eine regelmäßige Einnahme der Antibabypille im Fall
der Klägerin nicht gewährleistet ist und daher das Legen des Implantates (Implanon)
zwecks sicherer Verhütung allein in Betracht kam. Die für diese Verhütungsmethode
anfallenden Kosten in Höhe von 318, 81 (198,81 Euro für das Hormonstäbchen
Implanon und 120,00 Euro für die ärztliche Dienstleistung/Einsetzen des
Hormonstäbchens) überschreiten das zumutbare Maß an finanzieller Belastung im
Rahmen des Sozialhilfebezuges und sind daher vom Sozialhilfeträger zu übernehmen.
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Es könnte an eine Hilfe in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII gedacht werden.
Dem steht aber entgegen, dass eine solche Hilfe voraussetzt, dass es ihrem Zweck
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nach sich hierbei um neue außerhalb der in den Kapiteln 3 bis 9 liegenden Tatbestände
handeln muss. Denn § 73 SGB XII stellt weder eine Aufstockungsregelung noch eine
Ausweitung der dort konkret geregelten Leistungstatbestände dar
(Schellhorn/Schellhorn/Hohm, aaO, § 73 Rdn. 3). Der hier streitgegenständliche
Tatbestand, welche Mittel der Familienplanung in welchem Umfang von der Sozialhilfe
übernommen werden, ist allerdings im 5. Kapitel in den Vorschriften des §§ 49,52 SGB
XII geregelt. Ein anderer Tatbestand als in Kapitel 3 bis 9 geregelt, liegt damit nicht vor
und § 73 SGB XII scheidet als Anspruchsnorm aus.
Als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin sind die Vorschriften zur
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53, 54 SGB XII in Verbindung mit
§ 55 Abs. 1 SGB IX heranzuziehen, dies vor dem Hintergrund der geistigen
Behinderung der Klägerin und der gebotenen Verwirklichung des in § 4 SGB IX
gesetzlich normierten Teilhabeziels. Die Klägerin, bei der eine Schwerbehinderung mit
einem GdB von 100 besteht, gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis (§ 53 Abs.
1 SGB XII). Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es eine Behinderung und deren Folgen
zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft
einzugliedern. Hierzu gehört es insbesondere, den behinderten Menschen die
Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern ( ) (§ 53
Abs. 3 SGB XII). Leistungen der Eingliederungshilfe sind gemäß § 54 Abs. 1 SGB XII ua
die Leistungen nach § 55 SGB IX. Nach dieser Vorschrift werden Leistungen zur
Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbracht, die dem behinderten Menschen die
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern ( ) und nach den
Kapiteln 4 bis 6 (des SGB IX) nicht erbracht werden. Die hier fragliche Leistung fällt
unter den Oberbegriff der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Der Begriff der
Teilhabe ist gemäß § 1 Abs. 1 SGB IX dahingehend zu verstehen, dass Teilhabe daran
zu messen ist, ob es gelingt, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe des
Behinderten am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden
bzw. ihnen entgegen zu wirken (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.5.2007 –L 8
SO 20/07 ER-). Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft schließt die Teilhabe am
Leben in Familie und Ehe (als Teil der Gemeinschaft/Gesellschaft) mit ein. Leistungen
zur Teilhabe umfassen die notwendigen Sozialleistungen, um eine möglichst
selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen bzw. zu erleichtern (§
4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX), Teilhabe in diesem Sinne beinhaltet auch, dem Behinderten ein
selbstbestimmtes Sexualleben zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Im Fall der geistig
behinderten Klägerin erfordert ein selbstbestimmtes Sexualleben zwecks Verhütung
einer ungewollten Schwangerschaft eine der Behinderung angepasste
Verhütungsmethode. Die Verhütung mittels Hormonstäbchen stellt sich insoweit als
einzig sichere Verhütungsmaßnahme dar. Denn die Klägerin ist aufgrund ihrer
wesentlichen geistigen Behinderung nicht in der Lage, die Tragweite ungeschützten
Sexualverkehrs zu erkennen bzw. übliche und preisgünstige, aber regelmäßig
anzuwendende Verhütungsmittel wie die Antibabypille verantwortungsvoll zu nutzen,
was sich aus dem bereits besprochenen Attest von Frau Dr. vom 22.6.2009 ergibt. Die
Kosten für die Verhütung mittels Hormonstäbchen sind daher maßgeblich durch die
geistige Behinderung der Klägerin bedingt und können im Rahmen der
Eingliederungshilfe als behinderungsspezifischer Bedarf übernommen werden, denn im
Rahmen der Eingliederungshilfe sind regelmäßig die Kosten (soweit in der Höhe
angemessen) zu übernehmen, die zusätzlich durch die Behinderung der Betroffenen
entstehen (vgl. Thüringer LSG Beschuss vom 22.12.2008 –L 1 SO 619/08 ER-).
Anspruchsgrundlage für die Übernahme dieses behinderungsspezifischen Bedarfs ist §
54 Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX als Auffangnorm (vgl. BSG Urteil
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29.9.2009 –B 8 SO 19/08 R-), weil § 55 SGB IX unter Berücksichtigung des
umfassenden Förderungspostulats des § 4 SGB IX Teilhabeleistungen mit
Schwerpunktbildung im Bereich der interaktiven und alltagspraktischen/elementaren
Grundbedürfnissen regelt (Luthe in jurisPK- SGB IX § 55 Rdn. 13). Leistungen zur
Befriedigung sozialer Grundbedürfnisse im engeren Lebensumfeld des Betroffenen und
zur Verbesserung der Lebensqualität kommen danach in Betracht, wenn sie geeignet
sind die Beziehungen des behinderten Menschen zur Gemeinschaft herzustellen, zu
stabilisieren oder zu erleichtern. Das liegt hier vor, denn die sichere Verhütungsmethode
ist Mittel zum Zweck, nämlich der geistig behinderten Klägerin ein selbstbestimmtes
Sexualleben in ihrer Ehegemeinschaft zu ermöglichen bzw. zu erleichtern (vgl. § 4
Abs.1 Nr. 4 SGB IX und § 53 Abs. 3 SGB XII). Die Beklagte war daher zu verpflichten,
die Kosten der durchgeführten Verhütungsmaßnahme im Rahmen der
Eingliederungshilfe zu übernehmen.
Die Klägerin hat zudem Anspruch auf die Leistung der Eingliederungshilfe ohne
Zahlung eines Eigenanteils, da sie und ihr Ehemann als Einkommen lediglich
Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII (unter Anrechnung des
Einkommens aus der Tätigkeit in der Werkstatt für behinderten Menschen) beziehen.
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Der Höhe nach ist der geltend gemachte Kostenbetrag von 318,81 Euro durch die
Liquidation der Frauenärzte Dres. vom 27.2.2009 und die Quittung der Apotheke vom
27.2.2009 hinreichend belegt und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Der
Klage war daher auch in der Höhe in vollem Umfang statt zugeben.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193, 183 SGG.
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Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat das Gericht die Berufung
zugelassen (§ 144 Abs. 1 und 2 Nr. 1 SGG)
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