Urteil des SozG Köln vom 22.06.2010

SozG Köln (angina pectoris, erkrankung, medikamentöse behandlung, behandlung, therapie, anordnung, senkung, antrag, herzinfarkt, erlass)

Sozialgericht Köln, S 26 KR 373/09 ER
Datum:
22.06.2010
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 26 KR 373/09 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für ein Jahr LDL-Apherese-
Behandlungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen als
Sachleistung zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die
außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
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Der Antragsteller (AS) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die
Kostenübernahme für eine ambulante Blutwäschebehandlung (LDL-Apherese) zur
Absenkung des Lipoprotein (a)-Wertes durch die Antragsgegnerin (AG) , seine
gesetzliche Krankenkasse. Der im Oktober 1977 geborene AS leidet an einer
kombinierten schweren Fettstoffwechselstörung mit deutlicher Hypercholesterinämie
und Hypolipoproteinämie (a). Bei ihm liegt ferner eine schwere koronare
Dreigefäßerkrankung vor, welche im September 2008 in einen Herzinfarkt mündete. Er
leidet zusätzlich an einer chronischen Niereninsuffizienz bei histologisch gesicherter
IgA-Nephritis, einer arteriellen Hypertonie, einer Adipositas und einem sekundären
Hyperparathyreoidismus. Die infolge des Herzinfarktes im September 2008
durchgeführte Koronarangiographie zeigte eine koronare Dreigefäßerkrankung mit
Wandunregelmäßigkeiten in allen Gefäßabschnitten. Beim AS wurde eine RPLS -
PTCA und Stentimplantation notwendig. Die zwischenzeitlich erfolgte medikamentöse
Behandlung des AS führte zwar zu einer Senkung des Gesamtcholesterins und des
LDL-Cholesterins in den Zielbereich der Patienten mit manifester koronarer
Herzerkrankung; das krankhaft erhöhte Lipoprotein (a) konnte jedoch durch die
konservative medikamentöse Therapie nicht auf das anzustrebende Maß von 30 mg/dl
gesenkt werden, sondern war zeitweise um mehr als das 4-fache des bei seinem
Risikoprofil anzustrebenden Referenzwertes erhöht. Im August 2009 beantragte der
behandelnde Arzt des AS, der Internist/Nephrologe PD Dr. xxxxxxx bei der
Beratungskommission der beigeladenen KV Nordrhein die Durchführung einer LDL-
Apherese-Therapie für den AS. Diese teilte Ende September 2009 mit, dass sie dieser
Behandlung des AS nicht zustimmen könne. Die LDL-Zielwerte seien durch die
konservative Behandlung erreicht; eine Progression der Gefäßerkrankung sei nach
Aktenlage nicht dokumentiert. Daraufhin lehnte die Antragsgegnerin (AG), bei welcher
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der AS krankenversichert ist, die Kostenübernahme der streitgegenständlichen Therapie
mit Bescheid vom 13.10.2009 ab. Der AS erhob hiergegen Widerspruch und wies darauf
hin, dass aufgrund der massiven Hypolipoproteinämie (a) und der daraus bereits
entstandenen Dreigefäßerkrankung mit- samt schon erlittenem Herzinfarkt und des
vollständigen Fehlens wirksamer Behandlungsmethoden ein Anspruch auf die LDL-
Apherese-Therapie bestehen müsse. Die AG legte daraufhin die Unterlagen erneut der
Beratungskommission der Beigeladenen vor, welche in ihrer Sitzung am 14.12.2009 die
streitgegenständliche Therapie beim AS wiederum für nicht erforderlich hielt; eine
konservative Behandlung reiche aus. Daraufhin hat der AS am 17.12.2009 einen Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Köln gestellt. Zur
Begründung trägt der AS im wesentlichen vor, die erhöhte Lp(a)-Konzentration könne
einen Verschluss der arteriosklerotisch veränderten Arterien bewirken und sei
medikamentös nicht ausreichend absenkbar. Ohne Durchführung der Therapie bestehe
die akute Gefahr eines weiteren Infarktes und/oder Schlaganfalls. Er erfülle alle
Voraussetzungen für die Durchführung einer LDL-Apherese nach § 3 Nr. 3.1 der Anlage
I der Richtlinien Methoden vertragsärztliche Versorgung des Gemeinsamen
Bundesausschusses in der derzeit gültigen Fassung (im folgenden: RL). Er habe ein
LDL im Normbereich für Patienten mit seinem Risikoprofil, sein Lp(a) liege weit über 60
mg/dl und er weise eine progrediente kardiovaskuläre Erkrankung auf. Durch eine
Farbdoppler-Echokardiographie vom 16.02.2010 sei die progrediente koronare
Dreigefäßerkrankung bestätigt. Anfang Juni 2010 habe der AS bei einer ambulanten
Behandlung in der Uniklinik Köln immer noch Lp(a)-Werte von 118 mg/dl aufgewiesen.
Dies sei fast das Doppelte des Grenzwertes, welcher in den RL als Marke für die
Erbringbarkeit der LDL-Apherese zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
genannt werde. Seit dem Herzinfarkt sei der AS Nichtraucher und nicht mehr berufstätig.
Er sei verheiratet und habe drei Kinder. Seine Ehefrau sei ebenfalls erwerbslos. Die
Familie verfüge insgesamt über monatlich 1459,00 EUR, wovon u. a. 600,00 EUR Miete
und 150,00 EUR Strom bezahlt werden müssten. Die einmal wöchentlich notwendigen,
ca. 1000,00 EUR teuren Apherese-Behandlungen könne er selbst nicht finanzieren.
Der AS beantragt sinngemäß,
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die AG im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem AS zur Behandlung
der bei ihm bestehenden progredienten koronaren Dreigefäßerkrankung mit bereits
erlittenem Herzinfarkt sowie notwendiger Stentimplantation, ausgelöst durch eine
ausgeprägte Hypolipoproeinämie (a), vorläufig die LDL-Apherese-Behandlung als
Sachleistung zur Verfügung zu stellen.
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Die AG beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Sie vertritt die Auffassung, dass die LDL-Zielwerte durch die konservative Behandlung
erreicht worden seien und eine Progression der Gefäßerkrankung nicht dokumentiert
sei. Auch eine Progression der koronaren Herzkrankheit sei nicht zu erkennen. Da
Anfang 2009 bei dem AS gelegentlich linksthorakale Schmerzen aufgetreten seien und
nachfolgende nichtinvasive Untersuchungen unauffällig geblieben seien, ergebe sich
keine Indikation für eine erneute Koronarangiographie.
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Nachdem das Gericht eine Beweisanordnung angekündigt hatte, teilte die AG mit
Schriftsatz vom 06.01.2010 mit, sie erkläre sich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht -
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bis zum Eingang des Gutachtens, hilfsweise bis zum 31.01.2010 - bereit, die Kosten für
die LDL-Apherese zu übernehmen. Sie bitte ,die Entscheidung über die einstweilige
Anordnung bis dahin auszusetzen.
Das Gericht hat von Amts wegen ein Gutachten von dem Internisten/Kardiologen und
Oberarzt Prof. Dr. xxxxxxx vom Krankenhaus Köln- Merheim eingeholt. Nach Eingang
des Gutachtens stellte sich heraus, dass der AS das Angebot der AG vom 06.01.2010
nicht angenommen und die streitgegenständliche Behandlung vorübergehend nicht in
Anspruch genommen hatte. Der AS führte diesbezüglich aus, er habe das Angebot der
AG dahingehend interpretiert, dass die Behandlung längstens bis 31.01.2010
übernommen werden solle. Die streitgegenständliche Therapie sei deshalb für ihn nicht
durchführbar gewesen, werde jedoch von ihm nach wie vor angestrebt, da sie dringend
notwendig sei. Es bestehe weiterhin die Gefahr eines erneuten Herzinfarktes /
Schlaganfalls sowie Lebensgefahr.
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Die AG vertritt die Auffassung, ein Eilbedürfnis sei hier nicht erkennbar, da seit 2008
keine Akutereignisse mehr vorgefallen seien.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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den Eilantrag zurückzuweisen.
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Sie vertritt die Auffassung, dass im Falle des AS die Progression der koronaren
Herzerkrankung nicht objektiviert sei. Im übrigen sei wissenschaftlich nicht belegt, dass
eine koronare Erkrankung in sich selbst ein progredienter Prozess sei. Sie verweist
diesbezüglich auf zahlreiche ärztliche Stellungnahmen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zahlreichen
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die übersandten
ärztlichen Berichte und Stellungnahmen , den Inhalt des Sachverständigengutachtens
und die ergänzenden Stellungnahmen des Sachverständigen Prof. Dr. xxxxxxx
verwiesen.
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II.
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Der Antrag ist zulässig und auch begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer
einstweiligen Anordnung liegen vor. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht -
soweit ein Fall nach Absatz 1 nicht vorliegt - auf Antrag eine einstweilige Anordnung in
Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des
Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der
Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen
Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der
der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll,
sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der
Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind
glaubhaft zu machen. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht
isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die
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Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw.
Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und
umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres
funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System: Ist die Klage in der Hauptsache
offensichtlich unzulässig und /oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund abzulehnen, weil
ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache
dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den
Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen
Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des
Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und
Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu
entscheiden. Nach Eingang des Gutachtens von Prof.Dr. xxxxxxx und seiner
ergänzenden Stellungnahmen spricht hier bislang alles dafür, dass die bislang beim
Sozialgericht Köln noch nicht anhängige Hauptsacheklage des AS Erfolg haben wird.
LDL-Apheresen können nach den derzeit gültigen RL als vertragsärztliche Leistung im
ambulanten Bereich nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-Erhöhung
über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und
durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung
(koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit, zerebrovaskuläre
Erkrankungen). Im Vordergrund der Abwägung der Indikationsstellung soll dabei das
Gesamt-Risikoprofil des Patienten stehen. Letztendlich streiten die Beteiligten in Bezug
auf die Voraussetzungen der RL nur darüber, ob die kardiovaskuläre Erkrankung des
AS progredient ist bzw. ob die Progredienz dokumentiert ist. Ferner verneint die AG das
Vorliegen eines Anordnungsgrundes bzw. das Eilbedürfnis. Wie sich jedoch aus dem
überzeugenden Gutachten des Prof.Dr. xxxxxxx ergibt, leidet der AS unter einer
lebensbedrohlichen bzw. regelmäßig tödlich verlaufenden und die Lebensqualität auf
Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung in Form der koronaren Herzkrankheit
sowie der diagnostizierten Nephritis. Die letztgenannte Erkrankung kann nur noch durch
eine Organtransplantation verbessert werden (vgl. Befundbericht des PD Dr. xxxxxxx
vom 21.12.2009). Prof.Dr. xxxxxxx hat desweiteren ausgeführt, dass für die Senkung
des ( laut PD Dr. xxxxxxx genetisch verankerten) Lp(a) aktuell keine andere diätetische,
medikamentöse oder anderweitige nicht medikamentöse Therapiemöglichkeit zur
Verfügung stehe. Der Zusammenhang zwischen Lp(a) und kardiovaskulären
Erkrankungen sei inzwischen vom Gemeinsamen Bundesausschuss auf der Basis
eigener Recherchen zusammen mit Stellungnahmen von Experten im Anhang zu
seinem Beschluss vom 19.06.2008 im Kapitel "Sektorübergreifende Bewertung von
Nutzen und medizinischer Notwendigkeit" ausführlich dargestellt und gewürdigt worden.
Alle dokumentierten Werte für das Lp(a) lägen beim AS bei über 100 mg%, in der Spitze
bei 141 mg%. Jede Arteriosklerose als Grundlage von Folgeerkrankungen wie Herz-
oder Hirninfarkt oder peripherer arterieller Verschlusserkrankung verlaufe stets
progredient. Alle bekannten Therapiemaßnahmen seien lediglich in der Lage, diesen
Prozess zu verlangsamen, aber nicht vollständig und andauernd zu stoppen. Der AS
habe bereits einen Herzinfarkt mit lokalem Gewebeuntergang als höchstmöglichem
Schaden infolge einer Durchblutungsstörung bei hochgradiger Verengung (oder
Verschluss) einer Herzkranzarterie durchgemacht. Eine Progression sei daher an dieser
Stelle nicht mehr möglich. Aufgrund der weit fortgeschrittenen Niereninsuffizienz kämen
für den AS die direkt die Koronararterien visualisierende Verfahren wie die
Herzkatheteruntersuchung mit Koronarangiographie oder das nicht invasive kardiale CT
nicht in Betracht, weil hierfür der Einsatz von Kontrastmitteln benötigt werde; dies berge
für den AS die Gefahr des Nierenversagens mit anschließender gegebenenfalls
dauerhafter Dialysepflichtigkeit. Andere Verfahren seien hier nicht eindeutig in der Lage,
eine Progredienz der Herzerkrankung nachzuweisen. Die Lipidapherese sei das einzige
schulmedizinische Verfahren mit nachgewiesener Wirkung auf die Blutkonzentrationen
von LDL-Cholesterin und Lp(a). Die bei dem AS im Rahmen eines stationären
Aufenthaltes durchgeführte probatorische Lipidapherese habe sich als wirksam
erwiesen, die Konzentration des Lp(a) effektiv (auf minimal 30 mg%) zu vermindern(
Aufenthalt in der Uniklinik Köln vom 5.-8.5.2009). Zur Verfügung stünden 2 LDL-
Aphereseverfahren; es eigne sich am besten dasjenige, welches beim AS bereits mit
Erfolg in der Universitätsklinik Köln angewandt worden sei. Die Behandlung erfolge
üblicherweise einmal pro Woche mit unbefristeter Dauer. In einer ergänzenden
Stellungnahme vom 18.06.2010 hat der Sachverständige schließlich erklärt, das
technische Verfahren zur Senkung des LDL-Cholesterins solle bei dem AS eingesetzt
werden, um eine Senkung des Lp(a) zu erzielen, welches von diesem Verfahren parallel
miterfasst und abgesenkt werde; die dann unvermeidliche zusätzliche Senkung des
LDL-Cholesterins sei ein wünschenswerter Nebeneffekt. Im übrigen sei zu
berücksichtigen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss in Kenntnis und Würdigung
der unbefriedigenden Evidenzlage zur pathophysiologischen Bedeutung erhöhter Lp(a)-
Spiegel bzw. deren Senkung gleichwohl den Einsatz der LDL-Apherese zur Senkung
des Lp(a) unter bestimmten Bedingungen zugelassen habe. Unter medizinischen
Gesichtspunkten erscheine es ethisch vertretbar, bei Patienten mit stabiler Angina
pectoris durch entsprechende bildgebende Verfahren eine Progredienz nachzuweisen.
Bei Patienten mit instabiler Angina pectoris sei dies aus Sicht des Gutachters
unvertretbar wegen des kurzfristig drohenden irrerversiblen Gewebeschadens im
Rahmen eines Herzinfarktes. Dies gelte in gleicher Weise für Patienten mit einem ST-
Hebungs- oder Nicht-ST-Hebungsinfarkt (wie dem AS), da hier das Abwarten einer
Progredienz bewusst die Inkaufnahme eines zweiten Infarktereignisses bedeute. Dies
treffe insbesondere für den AS zu, da er im Rahmen eines Nicht-ST-Hebungsinfarktes
2008 die klinischen Stadien der stabilen und nachfolgend instabilen Angina pectoris
offensichtlich nicht oder in einem so kurzen Zeitraum durchlaufen habe, dass er sich aus
Sicht der behandelnden Ärzte direkt mit einem Herzinfarktgeschehen vorgestellt habe.
Bei diesem auch für zukünftige Ereignisse zu erwartenden klinischen Verlauf sei die
Festlegung eines Zeitpunktes für eine medikamentöse oder nicht medikamentöse
Behandlung an Hand der Progredienz klinischer Symptome nicht möglich. Eine
Erweiterung der Definition der Progression im Sinne der RL dahingehend, dass nach
einem klinischen Erstereignis in Form eines Herzinfarktes ein Zweitereignis als
Ausdruck der Progression abgewartet werden müsse, werde nicht für ethisch vertretbar
gehalten. Diese Beurteilung des Prof.Dr. xxxxxxx deckt sich mit der des behandelnden
Internisten / Nephrologen PD Dr. xxxxxxx, welcher in seinem Befundbericht vom
21.12.2009 im wesentlichen folgendes ausgeführt hat: Das Risiko des AS bezüglich
progredienter kardiovaskulärer Veränderungen resultiere zum einen aus seiner
Lipidstoffwechselstörung mit der genetisch verankerten Lp(a)-Erhöhung, zum anderen
aus der bereits weit fortgeschrittenen Nephropathie mit Niereninsuffizienz III°. Die
streitgegenständliche Behandlung diene der kardiovaskulären Risikominimierung eines
kombinierten, aus Lp(a)-Erhöhung und renalem Krankheitsbild bestehenden
Gesamtkrankheitsbild. Er halte es für anabdingbar, das Risiko des Patienten in Bezug
auf seine Mortalität zu reduzieren, indem die einzige therapierbare Erkrankung
angegangen werde, nämlich die Lp(a)-Erkrankung. Die chronische Niereninsuffizienz
sei nicht mehr zu verbessern, das Risiko daraus selbst durch eine Dialysebehandlung
nicht mehr zu optimieren. Auch der Internist / Kardiologe Dr. xxxxxxx hat in seinem
ärztlichen Bericht vom 18.02.2010 auf die progrediente koronare 3-Gefäßerkrankung
hingewiesen. Es bestehe eine massive Risikokonstellation mit Fettstoffwechselstörung,
pathologisch erhöhtem Lp(a) und fortgeschrittener Niereninsuffizienz. Die
medikamentöse Therapie sei ausgereizt, so dass dringlich zur raschen Einleitung einer
regelmäßigen Lipidapherese geraten werde. Wie das Bundesverfassungsgericht in
einem Beschluss vom 06.02.2007 (1 BvR 3101/06 - ebenfalls in einem Eilverfahren
bezüglich einer Apherese-Behandlung -) ausgeführt hat, steht der Annahme eines
lebensbedrohlichen Zustands nicht entgegen, dass eine koronare Herzerkrankung noch
nicht das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht hat. Das
Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass eine Krankheit auch dann als
regelmäßig tödlich zu qualifizieren sei, wenn sie erst in einigen Jahren zum Tod des
Betroffenen führe (vgl. BVerfGE 115, 25, 45). Auf die zur Verfügung stehenden
intensivmedizinischen Rettungsmöglichkeiten könne der Beschwerdeführer nicht
verwiesen werden. Nach dem gegenwärtigen Stand in der Medizin sei davon
auszugehen, dass die Hypercholesterämie einen bedeutsamen Faktor im
Gesamtrisikoprofil einer kardiovaskulären Erkrankung repräsentiere, welcher bei
Hochrisikopatienten durch eine lipidsenkende Therapie zu behandeln sei (vgl.
Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Empfehlungen zu Therapie von
Fettstoffwechselstörungen, 2. Auflage 1999, Seite 6 ff.). Aufgrund der dargestellten
vielfältigen Erkrankungen und der eingeschränkten Diagnosemöglichkeiten ist der AS
aus Sicht des Gerichts als Hochrisikopatient einzustufen. Das Gericht folgt insoweit den
überzeugenden Ausführungen des Gerichtsgutachters und aller behandelnden Ärzte
des AS, die hier- wie die RL dies auch fordern- das Gesamt-Risikoprofil des AS
berücksichtigt haben. Ein Obsiegen des AS im Hauptsacheverfahren ist deshalb sehr
wahrscheinlich. Zur Abwendung des lebensbedrohlichen Zustandes ist es deshalb
geboten, die AG im Wege der Einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, die
streitgegenständliche Therapie zunächst für ein Jahr zu finanzieren (vgl. auch § 7 Satz 1
der Anlage 1 RL, wonach die Genehmigung zur Durchführung einer LDL-Apherese im
Einzelfall jeweils auf ein Jahr zu befristen ist). Der Anordnungsgrund ist auch nicht
dadurch entfallen, weil der AS aufgrund einer Fehlinterpretation des schriftlichen
Angebots der AG vom 06.01.2010 die Apherese- Behandlung vorübergehend noch nicht
in Anspruch genommen hat. Denn am 7.6.2010 wurden bei ihm wiederum extrem hohe
Lp(a)-Werte von 118 mg/dl festgestellt, welche die zügige Einleitung einer LDL-
Apherese erfordern.
Ein Anordnungsgrund ist vom AS auch in finanzieller Hinsicht ausreichend dargelegt
worden. Dieser ist als Bezieher von ALG II nicht in der Lage, die monatlich rund 4.000,-
EUR teure LDL-Apherese-Therapie zu finanzieren.
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Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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