Urteil des SozG Köln vom 30.06.2010

SozG Köln (geistige behinderung, behinderung, kläger, wohl des kindes, eltern, erziehung, schule, unterbringung, störung, bericht)

Sozialgericht Köln, S 21 SO 10/07
Datum:
30.06.2010
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 21 SO 10/07
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung für die vollstationäre
Unterbringung im Hilfefall des Beigeladenen.
2
Der Beigeladene und seine Familie erhielten vom Kläger in der Vergangenheit ab dem
Jahr 1997 aufgrund schwieriger Familienverhältnisse wiederholt Kinder- bzw.
Jugendhilfen. Der Beigeladene war ab 1997 außerhalb seiner Herkunftsfamilie in einer
Pflegefamilie, in Tagesgruppen und in den Jahren 2000 bis 2001 im Kinderheim betreut
worden. Der Beigeladene stand in psychiatrischer Behandlung bei dem Kinder- und
Jugendpsychiater ... In seinem Bericht vom 23.10.2000 teilte ...mit, es bestehe bei dem
Beigeladenen der Verdacht auf leichte Intelligenzminderung, eine Störung des
Sozialverhaltens und emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit. Nach den
Untersuchungen handele es sich um ein geistig behindertes Kind. Im Test HAWIK 3
habe sich ein IQ von 61 mit Senke im Bereich des Verbalteils IQ 57 ergeben. Die Werte
würden für eine geistige Behinderung sprechen, die sich jedoch nicht mit dem
klinischen Eindruck decke. In einem weiteren Bericht vom 11.1.2001 teilte der Arzt mit,
in der Testpsychologie (AID) erreiche der Beigeladene einen IQ von 63, was die
bisherigen Befunde einer geistigen Behinderung bestätige. Da der Beigeladene im
Bereich der geistigen Behinderung anzusiedeln sei, komme für ihn § 39
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Betracht. Der Beigeladene bedürfe einer
heilpädagogischen Atmosphäre mit enger, gut strukturierter und personalaufwendiger
und vollstationärer Betreuung. Die Unterbringung im Heim wurde im Jahr ... auf Wunsch
der Eltern des Beigeladenen beendet.
3
Der Beigeladene besuchte die ...Schule (Schule für Geistigbehinderte) in ... (Schule für
geistig Behinderte). In dem Bericht der Schule vom ... wird aufgeführt, die Eltern des
Beigeladenen seien mit der Erziehung vollkommen überfordert.
4
In den Jahren ... und ... kam es von Seiten des Beigeladenen zu sexuellen Übergriffen
auf seine Schwestern und auf ein Mädchen im Schulbus. Des weiteren kam es zu
5
häufigen Fehlzeiten und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten des Beigeladenen
(Gewalt gegen Mitschüler, Lehrer, Diebstahl etc.) in der Schule (Aktennotiz der Schule
vom ...). Der Schulbesuch wurde teilweise von den Eltern als Strafmaßnahme
(Hausarrest) unterbunden, zudem sind Gewalttätigkeiten des Vaters gegenüber den
Beigeladenen als Erziehungsmaßnahmen beschrieben.
Von ... bis ... ist der Beigeladene in einem heilpädagogischen Heim in ... betreut worden.
Im Juli ... und September ... ist bei dem Beigeladenen eine jugendpsychiatrische
Diagnostik von Dr ..., Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie durchgeführt worden.
Der Arzt stellte in seinem Bericht vom ... fest, es bestünde eine Störung des
Sozialverhaltens und eine leichte intellektuelle Minderbegabung mit
Verhaltensauffälligkeiten (leichte geistige Behinderung, HAWIK III IQ 65). Der Besuch
der GB-Schule sei adäquat.
6
Im März ... bis Mai ... befand sich der Beigeladene stationär in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie der Rheinischen Kliniken ... wegen zunehmender Unbeschulbarkeit.
Die dortige Behandlung wurde abgebrochen, weil die Eltern nicht mitwirkten. Im
Entlassungsbericht vom 2.7.2005 wurden folgende Diagnosen aufgeführt:
hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, leichte geistige Behinderung, Enuresis
nocturna. Die Ärzte empfahlen bei Entlassung eine ambulante kinder- und
jugendpsychiatrische Weiterbehandlung des Beigeladenen.
7
In der Folgezeit nach Entlassung aus den Rheinischen Kliniken ... besuchte der
Beigeladene die Schule nicht mehr. Nach einem erneuten sexuellen Übergriff des
Beigeladenen auf seine 10jährigen Zwillingsschwestern im Juni ... wurde er vom Kläger
am 29.6.2005 in Obhut genommen und vorübergehend im ...-Haus ... (Regelgruppe)
untergebracht. Ab ... wurde der Beigeladene im Heilpädagogischen
Eingliederungszentrum (HPZ) der Lebenshilfe in ... zur Betreuung aufgenommen und in
einer Wohngruppe mit geistig und mehrfachbehinderten Bewohnern betreut. In dem
Zwischenbericht des Rehazentrums des HPZ Zülpich-Bürvenich vom ... wird ausgeführt,
Grund der Aufnahme sei die Inobhutnahme des Beigeladenen wegen sexueller
Übergriffe auf die Geschwister. Nach dem Eindruck des Jugendamtes sei es den Eltern
nicht möglich gewesen, dem Beigeladenen Grenzen, Regeln und Strukturen zu
vermitteln, die er für eine positive Entwicklung benötige. Die Diagnosen lauteten: leichte
Intelligenzminderung, Enuresis, hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens und
depressive Störung des Sozialverhaltens, emotionale Vernachlässigung in der Familie.
Als Ziele der Behandlung waren formuliert worden: Begleitung bei der Ablösung vom
Elternhaus, Vermittlung von Grenzen, Akzeptanz von Regeln und Normen, Bearbeitung
des Themas Sexualität, Ermittlung weiteren Hilfebedarfs. Im lebenspraktischen Bereich
sei der Beigeladene weitgehend selbständig. Da sich seine familiäre Situation sehr
schwierig gestalte und seine Eltern jeglichen Kontakt mit ihm ablehnten, sei seine
dauerhafte Fremdunterbringung unumgänglich.
8
Mit Schreiben vom ...bat der Kläger den Beklagten um Übernahme der Kosten im
Rahmen der Eingliederungshilfe mit der Begründung, bei dem Beigeladenen liege eine
geistige Behinderung vor.
9
Seit dem ... wurde der Beigeladene in einer Wohngruppe der Evangelischen ... in ...
betreut (Leistungstyp 7: Wohnangebote der Eingliederungshilfe für Kinder und
Jugendliche mit schweren Mehrfachbehinderungen). Die Einrichtung betreut in der
Regel Kinder und Jugendliche mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Der
10
Beigeladene besuchte die heiminterne Sonderschule für geistig Behinderte die
...Schule/ ...
Das ... legte mit Datum vom ... einen Abschlussbericht vor. Darin wird wiederholend
ausgeführt, der Beigeladene sei in allen lebenspraktischen Anforderungen sehr
selbständig. Seine kognitiven Fähigkeiten seien als gut zu bewerten, sein Potential in
dieser Hinsicht bei weitem nicht ausgeschöpft. Er sei ein Jugendlicher der über viele
Kompetenzen verfüge. Sein problematisches Sozialverhalten habe sich durch
konsequentes Aufarbeiten seiner Defizite erheblich verbessert. Er brauche weiterhin
klare, nachvollziehbare Strukturen und Abläufe. Eine langfristige Fremdunterbringung
sei unumgänglich, da die familiäre Situation erheblich belastet sei. Eine konstruktive
Zusammenarbeit mit dem Elternhaus sei nicht möglich gewesen, der Vater habe
angegeben, mit dem Sohn nichts mehr zu tun haben zu wollen. Die Mutter habe nur
angerufen, wenn der Beigeladene Zeitungen austragen sollte, dem sei von Seiten der
Einrichtung nicht zugestimmt worden.
11
Der Beklagte legte die Unterlagen seinem medizinisch-psychologischen Dienst (MPD)
vor. Mit Stellungnahme vom ... stellte der MPD fest, es läge bei dem Beigeladenen eine
Lernbehinderung, aber keine geistige bzw. wesentliche Behinderung vor. Die
Verhaltensauffälligkeiten seien Folge von Erziehungsdefiziten. Emotionale
Vernachlässigung, Druck und Gewalt würden wiederholt thematisiert und es herrsche
Konsens, dass der Beigeladene außerhalb seiner Familie unterzubringen sei. Aufgrund
der Intelligenzminderung allein wäre eine Heimunterbringung nicht erforderlich. Es sei
erkennbar, dass die zum Wohle des Kindes entsprechende Erziehung in der Familie
nicht gewährleistet gewesen sei. Es handele sich um Hilfe zur Erziehung.
12
Der Beklagte lehnte daraufhin mit Schreiben vom ... gegenüber dem Kläger die
Übernahme des Hilfefalls ab.
13
Mit Bescheid vom ... bewilligte der Kläger dem Beigeladenen rückwirkend ab dem ... als
unzuständiger Träger Eingliederungshilfe gemäß §§ 102 ff Sozialgesetzbuch Zehntes
Buch -Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz- (SGB X) in Verbindung mit §
35a Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch Achtes Buch -Kinder- und Jugendhilfe- (SGB VIII).
Der Beklagte als zuständiger Träger sei bislang nicht tätig geworden. Da der
Beigeladene prinzipiell einen Anspruch auf Sozialleistungen habe, erkläre er sich bereit
gemäß § 43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch –Allgemeiner Teil- (SGB I) vorläufig tätig zu
werden. Der Beigeladene gehöre zu den Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Seine Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung sei vonnöten, da er nicht mehr in
den Haushalt der Eltern zurückkehren könne. Es sei erforderlich, dass er aufgrund
seiner Gesamtpersönlichkeit in einem strukturierten und auf seine Bedürfnisse
abgestimmten Umfeld lebe.
14
Das Amtsgericht ... entzog den Eltern des Beigeladenen am ... die Gesundheitsfürsorge
und übertrug diese dem Kläger.
15
Der Kläger hat am 23.1.2007 Klage erhoben. Er macht geltend, bei dem Beigeladenen
handele es sich um eine wesentlich geistig behinderte Person, der in erheblichem
Umfang in seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt
sei. Die Ärzte Dr ... und Herr ... hätten eine geistige Behinderung bei dem Beigeladenen
festgestellt. Da der Beigeladene aufgrund der geistigen Behinderung einen Anspruch
auf Eingliederungshilfe habe, besteht gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch
16
Neuntes Buch –Teilhabe und Rehabilitation schwerbehinderter Menschen- (SGB IIX)
(aF) ein Vorrang der Sozialhilfe. Die Auffassung des Beklagten, dass laut Diagnostik
von Dr. Hellmann die Verhaltensauffälligkeiten im Vordergrund stünden, könne nicht
nachvollzogen werden, denn der Arzt habe sowohl eine Störung des Sozialverhaltens
als auch eine leichte intellektuelle Minderbegabung mit Verhaltensauffälligkeiten
diagnostiziert. Es handele sich um gleichwertige Diagnosen.
Der Kläger beantragt,
17
den Beklagten zu verurteilen, ihm die Aufwendungen für die Heimunterbringung des
Beigeladenen für die Zeit ab 29.6.2005 bis zum 8.2.2008 zu erstatten.
18
Der Beklagte beantragt,
19
die Klage abzuweisen.
20
Er macht geltend, ausschlaggebend für die Aufnahme des Beigeladenen in
verschiedenen Heimen sei nicht die Notwendigkeit gewesen, dem Beigeladenen als
behinderter Mensch nach § 53 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch -Sozialhilfe- (SGB XII)
spezielle Maßnahmen der Eingliederungshilfe zu gewähren. Die Aufnahmen seien
notwendig geworden, weil die Eltern für die Betreuung und Erziehung des
Beigeladenen nicht in Betracht gekommen seien und insoweit ein Erziehungs- und
Betreuungsdefizit bestanden habe. Dass die Überforderung der Eltern durch die
Behinderung des Hilfeempfängers ausgelöst worden sei, sei zugestanden. Dies spiele
aber für die Qualifizierung der in den Heimen zugewandten Leistungen der
Erziehungshilfe keine Rolle.
21
Der Kläger hat erwidert, schon im Jahr ... hätten Fachkräfte eine Unterbringung des
Beigeladenen in einer geeigneten Einrichtung für behinderte Menschen empfohlen. Seit
dem ... befinde sich der Beigeladene in der Einrichtung ..., es handele sich hierbei um
eine Einrichtung nach dem SGB XII und Ziel der Einrichtung sei die Überwindung,
Linderung und Verhütung von Verschlimmerung behinderungsbedingter
Beeinträchtigungen des behinderten Jugendlichen und seine Eingliederung in die
Gesellschaft. Die Heimunterbringung sei im Hinblick auf die Behinderung erfolgt, nicht
wegen des Bestehens eines Erziehungs- bzw. Betreuungsdefizits. Die vorrangige
Zuständigkeit des Beklagten sei wegen der Mehrfachbehinderung des Beigeladenen
gegeben. Voraussetzung für die vorrangige Zuständigkeit nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB
IX sei allein das Vorliegen einer geistigen oder körperlichen Behinderung. Das
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) habe in seiner Entscheidung vom 23.9.1999
klargestellt, dass nicht auf den Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden möglichen
Hilfeleistungen abzustellen sei, sondern allein auf die miteinander konkurrierenden
Leistungen. Deshalb sei der Beklagte für die Eingliederungshilfe zuständig, selbst wenn
der Beigeladene neben oder wegen seiner geistigen Behinderung auch von einer
seelischen Behinderung bedroht sein sollte.
22
Der Beklagte hat erwidert, es sei keine vorrangige Leistungsverpflichtung des
Sozialhilfeträgers gegeben. Das bloße Vorliegen einer wesentlichen geistigen
Behinderung bzw. das Drohen einer solchen Behinderung begründe nicht den Vorrang
der Eingliederungshilfe. Es müsse ein Anspruch auf Jugendhilfe und auf Sozialhilfe
bestehen und beide Leistungen müssten gleich, gleichartig, einander entsprechende,
kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sein. Die Unterbringung und
23
Betreuung des Beigeladenen in der Heimeinrichtung sei ausschließlich der Hilfe zur
Erziehung zuzuordnen.
Nach Eintritt der Volljährigkeit ist der Kläger in der Einrichtung ... verblieben und hat von
dem Kläger Hilfe für junge Volljährige erhalten. Mit Wirkung zum ... ist die
Hilfegewährung eingestellt worden.
24
Der Kläger hat das Gutachten von Frau Dr ..., Ärztin für Sozialmedizin und
Psychotherapie aus ... vom ...und die Bestellungsurkunde des Amtsgerichts ... vom ...,
mit der für den Beigeladenen ein Betreuer bestimmt worden ist, vorgelegt. In dem
Gutachten vom ... wird ausgeführt, bei dem Beigeladenen liege eine Minderbegabung
im Sinne einer leichtgradigen geistigen Behinderung vor, wobei sich das Wissen in
lebenspraktischen alltäglichen Dingen als gut darstelle.
25
Das Gericht hat den Beigeladenen von Dr ..., Arzt für Neurologie und Psychiatrie
untersuchen lassen. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom ... als
Diagnosen eine primäre Minderbegabung (IQ 70) und eine komplexe Störung im
Sozialverhalten mit depressiver, selbstunsicher, ängstlich und hochgradig vermeidender
Symptomatik und schwerer psychosexueller Reifungsstörung auf dem Boden einer lang
anhaltenden psychosozialen Traumatisierung im Kindes- und Jugendalter dargelegt.
Die psychische Problematik werde durch den faktischen Analphabetismus und die
Akalkulie und die sehr geringe soziale Kompetenz verstärkt bzw. unterhalten. Bei der
testpsychologischen Untersuchung habe sich der IQ 70 bei ansonsten unauffälligen
Ergebnissen gezeigt. Der Beigeladene sei sowohl geistig als auch seelisch wesentlich
behindert. Es liege eine Mehrfachbehinderung vor. Die bereits von Herrn Fernholz früh
festgestellte Notwendigkeit einer Integration in ein heilpädagogisches Heim sei
notwendig und eher viel zu spät erfolgt.
26
Der Kläger hat vorgetragen, die erheblich behindernde Kombination aus geistiger und
seelischer Beeinträchtigung in Form der Mehrfachbehinderung mache die
Heimunterbringung außerhalb der Familie notwendig.
27
Der Beklagte hat vorgetragen, nach dem Urteil des OVG NRW vom 20.2.2002 sei bei
einem IQ von 70 bis 84 eine geistige Behinderung nicht anzunehmen. § 53 SGB XII
verlange aber eine wesentliche Behinderung. Von einer solchen könne bei dem
Beigeladenen nicht ausgegangen werden.
28
Wegen weiterer Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten
und der von der Klägerin beigezogenen Verwaltungsvorgänge.
29
Entscheidungsgründe:
30
Die Klage ist zulässig (1), aber unbegründet (2).
31
(1) Das Begehren des Klägers ist gerichtet auf Erstattung der von ihm aufgewendeten
Kosten für die Heimunterbringung des Beigeladenen. Der Kläger stützt sein
Erstattungsbegehren auf die Vorschrift des § 102 SGB X. Die Erstattungsansprüche
nach §§ 102 ff SGB X sind durch reine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz
–SGG-) geltend zu machen. Der Zulässigkeit der Leistungsklage steht nicht entgegen,
dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung sein Erstattungsbegehren
betragsmäßig nicht zu beziffern wusste und seinen Leistungsantrag unter Angabe des
32
Zeitraums ... bis ... eingegrenzt hat. Denn bei den Beteiligten als juristische Personen
des öffentlichen Rechts wäre auch eine (bloße) Feststellungsklage gemäß § 55 SGG
statthaft, da wegen deren Bindung an Recht und Gesetz eine Befriedigung in der Regel
auch ohne Leistungsurteil mit Vollstreckungsdruck anzunehmen ist (Meyer-
Ladewig/Leitherer/Keller, SGG, § 55 Rdn. 19c). Dem Erfordernis der hinreichenden
Bestimmbarkeit des Klageantrages ist hinreichend Genüge getan, weil der Betrag der
streitbefangenen Heimkosten für den angegebenen Zeitraum von den Beteiligten
nachträglich ermittelt werden könnte.
(2) In der Sache hat die Klage keinen Erfolg. Der Kläger dringt mit seinem
Erstattungsbegehren nicht durch. Ein Anspruch auf Erstattung seiner Aufwendungen
aus § 102 SGB X steht dem Kläger gegenüber dem Beklagten nicht zu. Nach dieser
Vorschrift ist in dem Fall, dass ein Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften
vorläufig Leistung erbracht hat, der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger
erstattungspflichtig. Ausweislich des Bewilligungsbescheides vom 28.2.2006 hat der
Kläger dem Beigeladenen Eingliederungshilfe vorläufig nach § 43 SGB I bewilligt mit
der Begründung, prinzipiell habe der Beigeladene einen Anspruch auf
Eingliederungshilfe und daher werde er vorläufig tätig. Der Wille des Klägers, die
Leistungen lediglich vorläufig erbringen zu wollen, ist damit deutlich nach außen
erkennbar gemacht worden (vgl. von Wulffen, SGB X, § 102 Rdn. 6). Eine
Erstattungspflicht des Beklagten scheidet aber aus, weil er für den Hilfefall des
Beigeladenen nicht der leistungsverpflichtete Leistungsträger ist.
33
Vorliegend kann das Gericht unter Berücksichtigung der maßgebenden Vor- und
Nachrangregelung des § 10 Abs. 2 SGB VIII (alte Fassung –aF- bis zum 30.9.2005)
bzw. § 10 Abs. 4 SGB VIII eine vorrangige Leistungsverpflichtung des Beklagten für den
streitgegenständlichen Hilfefall nicht feststellen, es besteht vielmehr die Zuständigkeit
des Klägers als Jugendhilfeträger. Denn bei der dem Beigeladenen gewährten Hilfe in
Form der Heimunterbringung handelt es sich um Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34
SGB VIII (ggf. auch um Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und
Jugendliche nach § 35a SGB VIII), nicht aber um Eingliederungshilfe wegen einer
geistigen Behinderung nach §§ 53 ff SGB XII.
34
Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personenberechtigter bei der Erziehung eines Kindes
oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des
Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die
Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Eine dem Wohl des Kindes oder
des Jugendlichen entsprechende Erziehung ist nicht gewährleistet, wenn ein
erzieherischer Bedarf des Kindes im Einzelfall vorliegt und diese Mangellage durch die
Erziehungsleistung der Eltern nicht behoben wird (Erziehungsdefizit). Es genügt der
objektive Ausfall von Erziehungsleistung im elterlichen Erziehungsbereich. In der
Erziehung müssen die Grundbedürfnisse des Kindes wie Liebe, Zuwendung,
Akzeptanz, stabile Bindung, Versorgung, Körperpflege, Gesundheitsfürsorge, Schutz vor
Gefahren sowie geistige, emotionale und soziale Bildung befriedigt werden. Werden die
in der konkreten Familiensituation erreichbaren Standards für eine gelungene geistige,
körperliche oder seelische Entwicklung des Kindes nicht erreicht und ist dadurch das
Kindeswohl gefährdet, liegt ein Erziehungsdefizit vor. Grundsätzlich können auch
geistig behinderte Kinder in der Herkunftsfamilie erzogen werden, wobei stets die
individuellen Umstände des Einzelfalls maßgebend sind. Eine Erziehung in der Familie
wird zum Beispiel in Betracht kommen können, wenn bei dem betroffenen Kind eine
leichte geistige Behinderung bzw. eine Lernbehinderung vorliegt, die vorrangig eine
35
besondere Beschulung erfordert. Es kann auch bei diesen Kindern ein Erziehungsdefizit
vorliegen, das einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII auslöst. Die
notwendige Hilfe zur Erziehung kann gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in Form der
Heimerziehung in Einrichtungen über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten
Wohnform erbracht werden, wobei die Hilfe Kinder und Jugendliche durch eine
Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in
ihrer Entwicklung fördern soll. Sie soll entsprechend dem Alter und dem
Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der
Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie u.a. eine auf längere
Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten (§ 34
Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Zum Verhältnis zu anderen Leistungen bestimmt § 10 Abs. 2
Satz 1 SGB VIII aF bzw. § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, dass Leistungen nach dem SGB
VIII Leistungen nach dem SGB XII vorgehen. Andererseits gehen gemäß Satz 2 der
Vorschrift Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen,
die körperlich und geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind,
Leistungen nach dem SGB VIII vor. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichtes setzt diese Regelung notwendig voraus, dass sowohl ein
Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe (Eingliederungshilfe)
besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend kongruent,
einander überschneidend oder deckungsgleich sind (BVerwG Urteil vom 23.9.1999 -5 C
26/98-). Dieser Rechtsprechung hat sich das BSG in seiner Entscheidung vom
24.3.2009 angeschlossen (BSG Urteil vom 24.3.2009 –B 8 SO 29/07 R-). Es bleibt zu
beachten, dass die Vor- und Nachrangregelung in § 10 Abs. 2 SGB VIII (aF) bzw. § 10
Abs. 4 SGB VIII nicht auf den Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden Hilfeleistungen
abstellt, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen. Für den
Fall einer Heimunterbringung bedeutet dies, dass die Notwendigkeit der Heimerziehung
nach dem Kinder- und Jugendhilferecht mit der Notwendigkeit der Gewährung von
Eingliederungshilfe wegen einer geistigen oder körperlichen Behinderung in einem
Heim nach dem Sozialhilferecht gegeben sein muss. Nur in diesem Fall konkurrieren
Jugendhilfeleistungen zur Unterbringung in einem Heim mit gleichartigen
Sozialhilfeleistungen. Es muss eine Schnittmenge der Hilfebedarfe vorliegen,
erforderlich ist insoweit, dass sich die Leistungen in qualifizierter Weise überschneiden
bzw. gleichartig sind (Hessisches LSG 18.2.2008 –L 9 SO 44/07-; OVG Saarland
11.7.2007 -3 Q 104/06-). Wenn der Kläger meint, Voraussetzung für die vorrangige
Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (aF) bzw. § 10
Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sei allein das Vorliegen einer geistigen oder körperlichen
Behinderung, kann das Gericht dieser Auffassung nicht beitreten. Es reicht nicht aus,
dass eine geistige Behinderung vorliegt, die einen irgendwie gearteten Bedarf an
Eingliederungshilfe begründet, um den Leistungsvorrang des Sozialhilfeträgers
auszulösen und einen Erstattungsanspruch zu begründen (vgl. OVG Saarland, aaO).
Vielmehr müssen die sich gegenüberstehenden Bedarfe gleichartig sein. Für den Fall
der Heimunterbringung bedeutet dies, dass sowohl ein jugendhilferechtlicher Bedarf als
auch ein Eingliederungsbedarf in Bezug auf eine Heimunterbringung gegeben sein
muss, also eine doppelte Leistungspflicht (so BSG, aaO) in Bezug auf eine
Heimunterbringung bestehen muss. Ist aber die bei dem Hilfeempfänger vorliegende
geistige Behinderung weder wesentlich im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und
besteht aufgrund der geistigen Behinderung keine Notwendigkeit zur Unterbringung in
einer Eingliederungseinrichtung für geistig behinderte Menschen, entsteht auf der
Bedarfs- bzw. Anspruchsseite keine Konkurrenzsituation, so dass die Vor- und
Nachrangregelung des § 10 Abs. 2 SGB VIII aF bzw. § 10 Abs. 4 SGB VIII nicht zum
Tragen kommt. So liegt es hier.
Die bei dem Beigeladenen in den aktenkundigen ärztlichen Unterlagen für die
streitgegenständliche Zeit ... bis ... beschriebene leichte geistige Behinderung im Sinne
einer leichten Intelligenzminderung hat nach Auffassung des Gerichtes keinen Bedarf
zur Unterbringung des Beigeladenen in einem Heim zur Eingliederung geistig (bzw.
mehrfach-)behinderter Menschen ausgelöst. Die Heimunterbringung des Beigeladenen
ab dem ... war notwendig wegen des in seiner Herkunftsfamilie bestehenden
Erziehungs- und Betreuungsdefizits, ggf. auch wegen seiner seelischen Behinderung,
wofür allerdings auch der Kläger als Jugenhilfeträger der zuständige Leistungsträger
wäre (§ 35 a SGB VIII). Es fehlt daher an zwei gleich gerichtete Unterbringungsbedarfe
auf Seiten des Klägers als Jugendhilfeträgers und des Beklagten als Sozialhilfeträgers,
die in Konkurrenz zu einander stehen könnten.
36
Für die rechtliche Einordnung einer beanspruchten und gewährten Leistung sind deren
Ursache, Zweck und ihr (überwiegender) Charakter maßgeblich. Der Beigeladene ist im
Juni ... vom Jugendamt des Klägers in Obhut genommen und zunächst in einer Kinder-
und Jugendeinrichtung (Regelgruppe) und kurz darauf für mehrere Monate im ... und ab
dem ... fortlaufend in der Einrichtung ... Mettmann betreut worden. Anlass für die
stationäre Aufnahme war die Inobhutnahme des Beigeladenen durch das Jugendamt im
Juni 2005 wegen eines (wiederholten) sexuellen Übergriffs des Beigeladenen auf seine
Zwillingsschwestern vor dem Hintergrund schwieriger Familienverhältnisse verbunden
mit einem Erziehungs- und Betreuungsdefizit in der Herkunftsfamilie. Der Beigeladene
war auch in den Jahren zuvor wiederholt außerhalb seiner Herkunftsfamilie in einer
Pflegefamilie, in Tagesgruppen bzw. in einem Kinderheim betreut worden wegen der
schwierigen Familienverhältnisse und der Überforderung der Eltern mit der Erziehung
des Beigeladenen. Die Überforderung der Eltern ist in den aktenkundigen Unterlagen
mehrfach dokumentiert, so hat die Schulleitung der ...Schule/ ... in ihrem Bericht vom ...
dargelegt, die Eltern seien mit der Erziehung des Beigeladenen vollkommen überfordert.
Aus einer weiteren Notiz der Schule vom ... ergibt sich, dass bei dem Beigeladenen
massive Verhaltensauffälligkeiten in der Schule zu Tage traten und der Schulbesuch
von den Eltern als Strafmaßnahme (Hausarrest) unterbunden wurde mit der Folge, dass
für den Beigeladenen erhebliche Fehlzeiten in der Schule bestanden. Die Eltern waren
offensichtlich nicht in der Lage, den Verhaltensauffälligkeiten des Beigeladenen mit
adäquaten Erziehungsmethoden zu begegnen. In den aktenkundigen Unterlagen finden
sich zudem Hinweise auf wiederholte Gewalttätigkeiten des Vaters gegenüber dem
Beigeladenen als Erziehungsmaßnahmen. Schließlich wird von Seiten der ...Schule,
den Rheinischen Kliniken ... und dem ... mitgeteilt, dass die Eltern des Beigeladenen mit
der Schule, den Ärzten und den Einrichtungen nicht zusammengearbeitet haben. Dass
ein Erziehungs- und Betreuungsdefizit die Aufnahme des Beigeladenen in einer
Heimeinrichtung und sein dortiges Verbleiben erforderlich gemacht hat und daher die
Heimbetreuung als Hilfe zur Erziehung im Sinne von § 27 SGB VIII zu werten ist,
verdeutlichen die Ausführungen in den Berichten des ... vom ... und ... Dort wird
ausgeführt, dass im Fall des Beigeladenen eine emotionale Vernachlässigung in der
Familie bestand und es den Eltern nicht möglich war, ihm Grenzen, Regeln und
Strukturen zu vermitteln, die er für eine positive Entwicklung benötigt. Die in der
Rehabilitation angestrebten Ziele wie Vermittlung von Grenzen, die Akzeptanz von
Regeln und Normen, die Bearbeitung des Themas Sexualität sprechen für einen
vorrangig pädagogischen bzw. erzieherischen Bedarf bei dem Beigeladenen. Wenn das
... als Ergebnis der sieben Monate andauernden Betreuung des Beigeladenen feststellt,
dass das problematische Sozialverhalten des Beigeladenen gebessert werden konnte,
er aber weiterhin klare, nachvollziehbare Strukturen und Abläufe benötigt, um das
37
Verinnerlichte zu festigen, wobei eine langfristige Fremdunterbringung unumgänglich
ist, weil die familiäre Situation erheblich belastet ist bzw. sich sehr schwierig gestaltet,
ergibt sich hieraus, dass in der Herkunftsfamilie eine dem Wohl des Beigeladenen
dienende Erziehung bzw. Betreuung nicht gewährleistet werden konnte. Der
Erziehungs- und Betreuungsauftrag war daher von staatlicher Seite zu übernehmen und
Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung zu gewähren. Auch haben die Eltern
sich von dem Beigeladenen in der Zeit ab Heimaufnahme im Juni ... weitestgehend
abgewandt und den Kontakt zu ihm abgebrochen und damit nach außer erkennbar
gemacht, dass sie die Übernahme bzw. Erfüllung (verbliebener) elterlicher Aufgaben
verweigern. Auch ist den Eltern später das Sorgerecht für den Beigeladenen in Bezug
auf die Gesundheitsvorsorge entzogen und dem Kläger übertragen worden. All dies
macht deutlich, dass im Fall des Beigeladenen bedingt durch die schwierige familiäre
Situation ein Erziehungs- und Betreuungsdefizit bestand. Es kann zudem nicht
festgestellt werden, dass die Überforderung der Eltern mit der Erziehung und Betreuung
des Beigeladenen ihre Ursache in der Intelligenzminderung bzw. leichten geistigen
Behinderung des Beigeladenen hatte. Dagegen spricht, dass das ... in seinem Bericht
vom ... festgestellt hat, dass der Beigeladene in einem strukturiertem, ihm
Wertschätzung und Halt gebenden Umfeld in der Lage ist, ein adäquates
Sozialverhalten zu zeigen und in der Einrichtung die aggressiven und sexuellen
Auffälligkeiten, die in der Herkunftsfamilie auftraten, in der Einrichtung nicht beobachtet
worden sind. Schließlich bleibt anzuführen, dass auch in der Einrichtung ...
durchgeführte Maßnahmen sich als Erziehungsmaßnahmen wegen Regelverstößen
(Gewalt gegen Dritte, unerlaubtes Entfernen aus der Wohngruppe, Rauchen und
Alkohlkonsum, Diebstahl etc.) darstellen (vgl. Aktennotiz vom ..., Kurzbericht –ohne
Datum-, Maßnahmeplan vom ...).
Ob eine Heimbetreuung in der streitgegenständlichen Zeit auch wegen der
psychiatrischen Erkrankungen (hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens und
depressive Störung des Sozialverhaltens, vgl. Bericht der Rheinischen Kliniken Viersen
vom ... und Berichte des ... vom ... und ...) bzw. einer wesentlichen seelischen
Behinderung des Beigeladenen (vgl. Gutachten Dr ... vom ...) erforderlich geworden ist
und insoweit ein Eingliederungsbedarf im Sinne des § 35a Abs. 2 SGB VIII bestanden
hat, kann dahin stehen, da für die Erbringung dieser Leistung ebenfalls der Kläger als
Jugendhilfeträger zuständig gewesen wäre. Es bleibt insoweit allerdings darauf
hinzuweisen, dass die Rheinischen Kliniken ..., wo der Beigeladene kurz vor der
Inobhutnahme durch den Kläger im März bis Mai ... stationär behandelt worden ist, als
Abschlussempfehlung eine ambulante kinder- und jugendpsychiatrische
Weiterbehandlung ausgesprochen haben, dagegen eine Unterbringung des
Beigeladenen in eine Eingliederungseinrichtung für seelisch oder mehrfachbehinderte
Menschen nicht für notwendig erachtet hat.
38
Eine Zuständigkeit des Beklagten für die Heimbetreuung des Beigeladenen kann nicht,
auch nicht aufgrund einer Mehrfachbehinderung (seelische und geistige
Behinderungen) wie sie Dr ... in seinem Gutachten vom ... vertreten hat, angenommen
werden. Denn die Voraussetzungen eines entsprechenden Eingliederungsbedarfs
gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII lagen nicht vor. Bei dem Beigeladenen kann bereits keine
wesentliche geistige Behinderung im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII festgestellt
werden. Die Ärzte, die den Beigeladenen in Vergangenheit untersucht haben, haben
überwiegend eine leichte Intelligenzminderung bzw. leichte geistige Behinderung
attestiert. Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr ... hat in seinen Berichten vom ... und ...
nach Testung eine leichte Intelligenzminderung und einen IQ von 61 bzw. 63 mitgeteilt.
39
Ähnliches ergibt sich aus dem Bericht des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr ... vom ...,
in dem dieser eine leichte intellektuelle Minderbegabung und nach Testung einen IQ
von 65 mitteilt. Der Sachverständige Dr ... hat nach seiner testpsychologischen
Untersuchung im Januar ... einen IQ von 70 festgestellt. Aufgrund dieser IQ-Werte kann
von einer wesentlich geistigen Behinderung bei dem Beigeladenen nicht gesprochen
werden. Wesentlich geistig behindert sind Personen gemäß § 2 Eingliederungshilfe-
Verordnung (VO) die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichen
Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt
sind. Das lag bei dem Beigeladenen nach den aktenkundigen Unterlagen zu keinem
Zeitpunkt vor. Das ergibt sich zum einen deutlich aufgrund der durch testpsychologische
Untersuchungen festgestellten IQ-Werte. Nach der Rechtsprechung des
Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW besteht bei einem Kind mit einem IQ von 55 bis 69
eine leichte geistige Retardierung, die im Allgemeinen Lernbehinderung genannt wird.
Mit diesem Begriff wird ausgedrückt, dass ein Kind mit einem IQ von 55 bis 69 zwar im
Lernen behindert ist, aber doch in nicht zu großen Schulklassen von Sonderpädagogen
in den Stand gebracht werden kann, ein einigermaßen selbständiges Leben zu führen.
Bei den oberhalb dieser Stufe, mit einem IQ zwischen 70 und 84 anzusiedelnden
Personen kann von einer geistigen Behinderung nicht mehr gesprochen werden (OVG
NRW Urteil vom 20.2.2002 -12 A 5322/00- mit Verweis auf Kehrer, Geistige
Behinderung und Autisumus, Verlag Trias 1995, S. 16). Nach diesen Maßstäben
bestand bei dem Beigeladenen zu keiner Zeit eine wesentliche geistige Behinderung,
sondern lediglich eine leichte geistige Behinderung in Form einer Lernbehinderung.
Auch war der Beigeladene nicht vom Eintritt einer wesentlichen geistigen Behinderung
bedroht wie seine weitere Entwicklung zeigt. Der Sachverständige Dr ... konnte bei
seiner testpsychologischen Untersuchung im Jahr ... einen IQ von 70 und damit einen
höheren IQ als in der Vergangenheit feststellen. Dieses Testergebnis lässt zum jetzigen
Zeitpunkt die Bejahung selbst einer leichten geistigen Behinderung nicht mehr zu. Zum
anderen war der Beigeladene aufgrund der leichten Intelligenzminderung nicht in
erheblichem Umfang an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Das
ergibt sich insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die lebenspraktischen
Fähigkeiten des Beigeladenen gut entwickelt sind und er in den Verrichtungen des
alltäglichen Lebens weitestgehend selbständig ist. So hat Frau Dr ... in ihrem Gutachten
vom ... festgestellt, dass bei dem Beigeladenen eine Minderbegabung besteht, wobei
sich das Wissen in lebenspraktischen, alltäglichen Dingen aber als gut darstellt. Die
Auffassungsgabe, das Abstraktionsvermögen sowie das Denkvermögen sind lediglich
für komplexere Sachverhalte eingeschränkt. In den Berichten des ... vom ... und ...,
denen das Gericht insoweit entscheidendes Gewicht zumisst, weil der Kläger dort nach
Inobhutnahme durch das Jugendamt monatelang zur Beobachtung aufgenommen und
in einer Gruppe von geistig- und mehrfachbehinderten Bewohnern betreut worden ist,
wird mitgeteilt, dass der Beigeladene in allen lebenspraktischen Anforderungen sehr
selbstständig ist. Die Körperhygiene erledigt der Kläger selbst, er kann mit Geld
umgehen, kann einkaufen, die Uhr lesen, verfügt über gute Kenntnisse und Fähigkeiten
im hauswirtschaftlichen Bereich, er arbeitet auffallend strukturiert und zielgerichtet, seine
Auffassungsgabe ist dabei sehr gut, er hat ein gutes Situationsverständnis und kann
gute Tranferleistungen erbringen, er verfügt über gute sprachliche Fähigkeiten.
Einschränkungen zeigen sich bei dem Beigeladenen vorrangig in Form einer Schreib-
und Rechenschwäche; er verfügt lediglich über rudimentäre Kenntnisse im Leben und
Schreiben und beherrscht auch die Grundrechenarten nur lückenhaft. Die Schreib- und
Rechenschwäche stellt eine Beeinträchtigung der Teilhabe dar, vor dem Hintergrund
der gut ausgeprägten lebenspraktischen Fähigkeiten des Beigeladenen wird die
Teilhabe des Beigeladenen am Leben in der Gemeinschaft dadurch aber nicht in
erheblichem Umfang beeinträchtigt. Die Lernbehinderung erforderte zudem nach
Auffassung des Gerichtes keine vollstationäre Unterbringung und Förderung des
Beigeladenen in einer Eingliederungseinrichtung für geistig (oder mehrfach) Behinderte,
wenngleich es sich um eine solche Einrichtung bei der ... handelte. Der
Lernbehinderung konnte durch eine entsprechende Beschulung in einer Förderschule
adäquat begegnet werden. Das ergibt sich aus dem Bericht des Kinder- und
Jugendpsychiaters Dr ... vom ..., wonach im Fall des Beigeladenen der Besuch der
geistig Behinderten Schule von fachärztlicher Sicht für adäquat erachtet wurde. Da eine
weitergehende Aufsichts- Betreuungs- bzw. Hilfebedürftigkeit des Beigeladenen in
Bezug auf die Verrichtungen des alltäglichen Lebens nicht bestand, führte die
Lernbehinderung nicht zur Notwendigkeit der vollstationären Betreuung des
Beigeladenen durch besonders ausgebildetes Betreuungs- und Pflegepersonal in einer
Eingliederungseinrichtung.
Nach alledem hat der Kläger die Leistungen im Hilfefall des Beigeladenen als zur
Leistung verpflichteter Leistungsträger aufgebracht und kann daher von dem Beklagten
keine Erstattung seiner Aufwendungen verlangen.
40
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung
mit § 154 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
41