Urteil des SozG Koblenz vom 14.06.2006

SozG Koblenz: grobe fahrlässigkeit, rücknahme, verwaltungsakt, gesetzliche vermutung, arglistige täuschung, erwerbseinkommen, rechtswidrigkeit, sorgfaltspflicht, rückforderung, anhörung

Sozialrecht
SG
Koblenz
14.06.2006
S 11 AS 305/05
Rücknahme der Leistungsbewilligung gegenüber Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft
Tenor:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 15.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
12.10.2005 und des Änderungsbescheides vom 13.06.2006 wird aufgehoben, soweit die Bewilligung von
Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 hinsichtlich der Ehefrau des Klägers und des
Sohnes des Klägers zurückgenommen worden ist.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Beklagte hat 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Rücknahme- und Erstattungsbescheides.
Der am ……1961 geborene Kläger ist seit 1982 mit der am ……1961 geborenen I.R. verheiratet. Aus der
Ehe ist der am …...1988 geborene Sohn A. hervorgegangen.
Der Kläger bezog bis 25.05.2004 Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB
III) und anschließend bis zum 31.12.2004 Arbeitslosenhilfe. Er bewohnte zum 01.01.2005 mit seiner
Familie ein eigenes Haus mit einer Wohnfläche von 110 qm. Hierfür waren Schuldzinsen in Höhe von
201,57 € monatlich, Heizkosten in Höhe von 97,00 € monatlich und Nebenkosten in Höhe von 68,23 €
monatlich zu zahlen. Die Ehefrau des Klägers erzielte aus einer seit dem Jahr 2002 ausgeübten
Beschäftigung Einkommen. Im September 2004 belief sich das Bruttoarbeitsentgelt auf 830,00 € und das
Nettoarbeitsentgelt auf 528,98 €.
Im September 2004 beantragte der Kläger die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Mit Bescheid vom 13.12.2004
bewilligte die Beklagte der vom Kläger vertretenen Bedarfsgemeinschaft Leistungen für den Zeitraum vom
01.01.2005 bis 30.04.2005 in Höhe von 1.355,11 €, für den Zeitraum vom 01.05.2005 bis 31.05.2005 in
Höhe von 1.337,95 € und für den Zeitraum vom 01.06.2005 bis 30.06.2005 in Höhe von 1.252,11 €. Die
Beklagte legte dabei einen Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 1.255,80 €, aufgegliedert
in die Regelleistungen für den Kläger und seine Ehefrau in Höhe von jeweils 311,00 € und für den Sohn
A. in Höhe von 276,00 € sowie für die Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 357,80 € zugrunde.
Als Einkommen berücksichtigte sie lediglich das für das Kind A. gezahlte Kindergeld, nicht jedoch das
vom Kläger bei der Antragstellung angegebene Einkommen der Ehefrau des Klägers. Weiterhin wurde bei
dem Kläger ein befristeter Zuschlag nach § 24 SGB II berücksichtigt, der im Mai 2005 auf die Hälfte
abgesenkt wurde und zur Verminderung der Gesamtleistung an die Bedarfsgemeinschaft führte.
Nachdem der Kläger am 25.05.2005 einen Fortzahlungsantrag für den Zeitraum ab 01.07.2005 gestellt
hatte, bemerkte die Beklagte, dass das Einkommen der Ehefrau versehentlich bei der Feststellung der
Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 nicht berücksichtigt worden war. Mit
Schreiben vom 31.05.2005 hörte sie den Kläger hinsichtlich einer Rückforderung überzahlter Leistungen
für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 in Höhe von 2.324,62 € an. Mit Bescheid vom
31.05.2005 wurde für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis 30.09.2005 lediglich noch eine monatliche
Leistung in Höhe von 856,64 € bewilligt, wobei nunmehr das Einkommen der Ehefrau berücksichtigt
wurde. In seiner Stellungnahme vom 15.06.2005 gab der Kläger an, er habe in seinem Antrag alle
Angaben den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend dargelegt, insbesondere auch unter Beifügung
entsprechender Unterlagen über das Gehalt seiner Ehefrau. Da er sämtliche Angaben zutreffend und
richtig gemacht habe, habe er auf die Richtigkeit des Bewilligungsbescheides vertraut mit der
Konsequenz, dass er berechtigt gewesen sei, die gezahlten Beträge auszugeben. Dementsprechend sei
die Rücknahme lediglich im Rahmen des § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X)
möglich.
Mit Bescheid vom 15.07.2005 hob die Beklagte die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 teilweise auf. Zur Begründung führte sie
aus, der Kläger habe nach Antragstellung oder Erlass der Entscheidung Einkommen oder Vermögen
erzielt, das zum Wegfall oder Minderung seines Anspruches geführt haben würde. Er habe gewusst oder
hätte wissen müssen, dass der ihm zuerkannte Anspruch zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise
weggefallen sei. Sofern er das ihm ausgehändigte Merkblatt nicht gelesen habe, sei dies als grob
fahrlässig zu bewerten. Die Aufhebung erfolge nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 SGB X. Die für den
Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 zu Unrecht gezahlten Leistungen in Höhe von 2.324,61 € habe
der Kläger nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten.
Der Kläger erhob Widerspruch und trug zur Begründung vor, maßgebend sei § 45 SGB X. Nach dieser
Vorschrift könne eine Rücknahme nicht erfolgen, soweit der Begünstigte auf den Bestand des
Verwaltungsaktes vertraut habe. Es sei kein Grund ersichtlich, warum er nicht auf den begünstigenden
Verwaltungsakt hätte vertrauen dürfen. Seine Angaben seien in allen Punkten zutreffend gewesen, der
fehlerhaft begünstigende Verwaltungsakt sei durch eine fehlerhafte Sachbearbeitung der Beklagten
erfolgt. Der insoweit entstandene Fehler könne ihm nicht zugerechnet werden. Er habe im Vertrauen auf
die Richtigkeit die empfangenen Gelder zum Lebensunterhalt verwandt und ausgegeben. Daher scheide
eine Rückzahlung aus.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.10.2005 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Die
Beklagte stützte ihre Entscheidung nunmehr auf § 45 SGB X. Der Kläger könne sich nach § 45 Abs. 2 Satz
3 Nr. 3 SGB X nicht auf sein Vertrauen berufen, da er die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom
13.12.2004 gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Die Berechnung der
Leistungen nach dem SGB II sei monatelang in der Presse und den Medien diskutiert worden, das
betreffende Gesetz sei zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung bereits nahezu ein Jahr veröffentlicht
gewesen. Für jeden Interessenten verständige Informationen und Merkblätter hätten in den Diensträumen
der Arbeitsagenturen und Sozialämter ausgelegen. Zur Sorgfaltspflicht eines jeden Leistungsbeziehers
gehöre ganz insbesondere, dass es sich über die Berechnung der beantragten und bezogenen
Leistungen insoweit informiere, dass er die getroffenen Entscheidungen nachvollziehen könne. In dem
aufgehobenen Bewilligungsbescheid sei es versäumt worden, das Einkommen der Ehefrau des Klägers
zu berücksichtigen. Dies sei auch der Höhe nach so offensichtlich gewesen, dass dem Kläger dieser
Fehler hätte auffallen müssen. Wenn ihm ein solcher offenkundiger Fehler entgangen sein sollte, sei dies
infolge der mannigfaltigen Informationsmöglichkeiten auf grobe Fahrlässigkeit zurückzuführen. Nach § 45
SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 SGB III sei sie, die Beklagte, verpflichtet, den
rechtswidrigen Bescheid vom 13.12.2004 insoweit aufzuheben, als das Erwerbseinkommen der Ehefrau
des Klägers nicht angerechnet worden sei. Die Rückforderung der rechtswidrig gezahlten Leistungen in
Höhe von insgesamt 2.324,62 € erfolge nach § 50 Abs. 1 SGB X.
Am 14.11.2005 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt sein Vorbringen aus dem
Widerspruchsverfahren und trägt ergänzend vor, grobe Fahrlässigkeit könne ihm nicht vorgeworfen
werden. Er habe auf die Berechnung der Beklagten vertraut, für ihn sei die Möglichkeit einer
Nachberechnung mangels Kenntnis der Berechnungsfaktoren nicht möglich gewesen. Es sei nicht grob
fahrlässig, unverständliche Informationen und unverständliche Merkblätter nicht zu lesen, zumal zum
Verständnis dieser Unterlagen Grundkenntnisse hätten vorhanden sein müssen, die ihm nicht zur
Verfügung gestanden hätten.
Verfügung gestanden hätten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 15.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2005 und den
Bescheid vom 13.06.2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidungen für rechtmäßig.
Mit Änderungsbescheid vom 13.06.2006 hat die Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom
15.07.2005 dahingehend ergänzt, dass der Rückforderungsbetrag sich wie folgt aufgliedert: R.R. 907,79
€; I. R. 907,79 €; A. R. 509,04 €.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt
der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten. Der Akteninhalt war Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat in der Sache teilweise Erfolg. Der Bescheid der Beklagten erweist sich als
rechtswidrig, soweit die Beklagte gegenüber dem Kläger die Gewährung von Leistungen an die Ehefrau
des Klägers und an den Sohn des Klägers zurückgenommen und von ihm eine entsprechende Erstattung
gefordert hat. Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig.
Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt
hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er nach § 45 Abs. 1 SGB X, auch nachdem er
unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2-4 des § 45 SGB X ganz oder
teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein
rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht
zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und
sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das
Vertrauen ist nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte
Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter
unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach § 45
Abs. 2 Nr. 3 SGB X nicht berufen, soweit
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in
wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte;
grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem
Maße verletzt hat.
Ist ein Verwaltungsakt nach § 45 SGB X aufgehoben worden, sind nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X bereits
erbrachte Leistungen zu erstatten.
Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erfolgen bei der Bewilligung von Leistungen an
eine Bedarfsgemeinschaft für jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gesondert. Dies ergibt sich aus § 7
SGB II. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die
das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
erwerbstätig sind,
hilfebedürftig sind und
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
(erwerbsfähige Hilfebedürftige). Leistungen erhalten nach § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II auch Personen, die mit
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören
nach § 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, nach § 7 Abs. 3 Nr. 3a SGB II als Partner
des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte und nach § 7 Abs. 3 Nr.
4 SGB II die dem Haushalt angehörenden minderjährigen unverheirateten Kinder des erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen und seiner Ehefrau, soweit sie nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen die
Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beschaffen können. Nach der Konzeption des SGB II
erhält jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft eine eigene Leistung. Der erwerbsfähige Hilfebedürftige
und der - erwerbsfähige oder nicht erwerbsfähige - Ehegatte des hilfebedürftigen Erwerbsfähigen erhalten
Arbeitslosengeld II nach § 19 SGB II, die nicht erwerbsfähigen Kinder haben einen Anspruch auf
Sozialgeld nach § 28 SGB II. § 38 SGB II enthält die Vermutung, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige
bevollmächtigt ist, Leistungen nach dem SGB II auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft
lebenden Personen zu beantragen und entgegen zu nehmen, soweit Anhaltspunkte nicht
entgegenstehen. Leben mehrere erwerbsfähige Hilfebedürftige in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese
Vermutung zu Gunsten desjenigen, der die Leistung beantragt. § 38 SGB II normiert eine gesetzliche
Vermutung, wonach der erwerbsfähige Hilfebedürftige bevollmächtigt ist, für die Mitglieder seiner
Bedarfsgemeinschaft, die auch andere erwerbsfähige Hilfebedürftige umfassen kann, Leistungen nach
dem SGB II zu beantragen und entgegen zu nehmen. Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung des
allgemeinen Grundsatzes, wonach es einem Beteiligten freisteht, sich im Verwaltungsverfahren vertreten
zu lassen. Die Vorschrift entspricht einem praktischen Bedürfnis des Leistungsträgers, den
Verwaltungsaufwand bei mehreren Ansprechpartnern einer Bedarfsgemeinschaft möglichst gering zu
halten. Eigentlich müsste jedes einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantragen, da es
sich um Individualansprüche handelt. Die Vermutungsregelung des § 38 SGB II dienst somit der
Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie (Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2005, §
38 Rd-Nr. 1 ff.). Da jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ein individuell zu ermittelnder Einzelanspruch
zusteht, sind Widerspruch und Klage auch von jedem einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu
erheben. Es gibt keinen "Anspruch der Bedarfsgemeinschaft" (Eicher/Spellbrink, a. a. O., § 38 Rd-Nr. 11).
Stellt sich nach Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II gegenüber einer Bedarfsgemeinschaft
heraus, dass die Leistungen ganz oder teilweise von Anfang an zu Unrecht bewilligt worden sind, hat eine
Rücknahme der Leistungsbewilligung nach SGB X gegenüber jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft
hinsichtlich des auf ihn entfallenden Anteils der Leistungen zu erfolgen. Auch die vor der Rücknahme
erforderliche Anhörung nach § 24 SGB X muss gegenüber jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft,
demgegenüber sich ein Rückforderungsanspruch ergibt, durchgeführt werden. § 38 SGB II regelt lediglich
eine Vermutung, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige auch für die übrigen Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft zur Antragstellung berechtigt ist. Diese Vorschrift rechtfertigt es jedoch nicht,
gegenüber dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen auch die Entscheidung über die Rücknahme von
Leistungen, die den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft gewährt worden sind, vorzunehmen
und allein von dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen die Erstattung der überzahlten Leistung in voller
Höhe zu verlangen. Bereits für das Recht nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) war in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt worden, dass Bescheide über die Gewährung von Sozialhilfe
an einen Minderjährigen nicht gegenüber den Eltern zurückgenommen werden können und diese, auch
wenn sie die Überzahlung durch Verletzung ihrer Mitteilungspflichten über ihre Einkommens- und
Vermögensverhältnisse verursacht und die überzahlten Beträge aufgrund ihres Sorgerechts vereinnahmt
haben, nicht zur Erstattung verpflichtet sind (BVerwG, Urteil vom 30.04.1992, 5 C 29/88). Ebenso ist
bereits entschieden worden, dass § 50 Abs. 2 SGB X den Leistungsträger nicht berechtigt, versehentlich
einem Dritten überwiesene Leistungen, die für diesen nicht bestimmt waren, durch Verwaltungsakt
zurückzufordern (BSG 29.10.1986 - 7 RAr 77/85, SozR 1300 § 50 Nr. 13).
Hat der Leistungsträger nach dem SGB II Leistungen an Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft gewährt
und stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Leistungsgewährung ganz oder teilweise rechtswidrig war,
hat somit nach § 45 SGB X gegenüber jedem einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft eine
Rücknahmeentscheidung gemäß § 45 SGB X zu ergehen. Nur so wird auch sichergestellt, dass der
Maßstab des groben Verschuldens, wie er in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 und 3 SGB X maßgebend ist, für
jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft individuell geprüft wird. Ist dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen,
der Leistungen nach dem SGB II für die Bedarfsgemeinschaft beantragt hat, grobe Fahrlässigkeit
vorzuwerfen, kann dies noch nicht automatisch gegenüber den übrigen Mitgliedern der
Bedarfsgemeinschaft angenommen werden. Vielmehr ist für jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft
individuell in einem eigenen Rückforderungsbescheid nach erfolgter individueller Anhörung das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X zu prüfen. Eine solche Prüfung kann
durchaus hinsichtlich der einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu unterschiedlichen
Ergebnissen führen, so dass eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides gegenüber einem Mitglied
der Bedarfsgemeinschaft rechtmäßig sein kann mit der Folge, dass dieses Mitglied die an ihn erbrachten
überzahlten Leistungen zu erstatten hat, während gegenüber einem anderen Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft die Rücknahme für die Vergangenheit nicht erfolgen kann mit der Folge, dass
dieses Mitglied Leistungen für die Vergangenheit nicht zu erstatten hat, weil es sich auf Vertrauensschutz
nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X berufen kann. Ebenso kann die Erstattung der überzahlten Leistungen
nach § 50 Abs. 1 SGB X nur von dem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft verlangt werden, demgegenüber
die Leistung bzw. der entsprechende Anteil der Leistung erbracht worden ist. Der erwerbsfähige
Hilfebedürftige, der Leistungen für die Bedarfsgemeinschaft beantragt und entgegengenommen hat, ist
nicht nach § 38 SGB II verpflichtet, überzahlte Leistungen nach Rücknahme des Bewilligungsbescheides
für die gesamte Bedarfsgemeinschaft zu erstatten. Die Bescheide der Beklagten sind daher, soweit sie die
Rücknahme der Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 hinsichtlich der
Ehefrau des Klägers und des Sohnes des Klägers betreffen, rechtswidrig und aufzuheben.
Soweit die Beklagte die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X hinsichtlich der an den
Kläger überzahlten Leistungen bejaht hat, ist dies rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat gemäß §
45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zumindest infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit des
Bewilligungsbescheides vom 13.12.2004 nicht gekannt. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist in der
Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X festgeschrieben. Grobe Fahrlässigkeit liegt hiernach
vor, wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt
worden ist, wenn außer Acht gelassen worden ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten
müssen. Die Rechtswidrigkeit muss sich ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst
ergeben haben, und es muss anhand der Umstände und ganz nahe liegender Überlegungen einleuchten
und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft ist (von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 5. Auflage 2005, § 45
Rd-Nr. 24). Ob ein Kennenmüssen zu bejahen ist, muss unter Berücksichtigung aller Umstände,
insbesondere der Persönlichkeit des Betroffenen und seines Verhaltens entschieden werden.
Grundsätzlich handelt ein Leistungsempfänger grob fahrlässig, wenn er einen erhaltenen
Bewilligungsbescheid nach den ihm möglichen Sorgfaltsmaßstäben nicht überprüft. Der
Leistungsempfänger darf sich bei Erhalt eines Bewilligungsbescheides nicht darauf verlassen, dass die
Leistungsbewilligung dem Grunde und der Höhe nach rechtmäßig ist. Vielmehr hat er die in dem
Bescheid enthaltenen Angaben und Berechnungen nachzuvollziehen und ggf. beim Leistungsträger
hinsichtlich unklarer Punkte im Bewilligungsbescheid nachzufragen. Nimmt er Leistungen lediglich
entgegen, ohne den Bewilligungsbescheid dementsprechend zu prüfen, liegt bei offensichtlichen Fehlern
grobe Fahrlässigkeit im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor.
Der Kläger ist nach den von ihm im Antrag gemachten Angaben deutscher Staatsangehöriger. Daher
kann davon ausgegangen werden, dass er die in dem Bewilligungsbescheid verwendeten Begriffe
verstanden hat. Aufgrund des in der mündlichen Verhandlung durch die Kammer erhaltenen Eindrucks
des Klägers war dieser auch in der Lage, die Berechnungen im Bescheid der Beklagten
nachzuvollziehen. Aber selbst wenn der Kläger über die erforderlichen Sprachkenntnisse nicht verfügt
haben sollte, wäre es ihm zumutbar gewesen, sich nicht verständliche Begriffe durch einen Dritten oder
durch Mitarbeiter der Beklagten erläutern zu lassen.
Der Bewilligungsbescheid vom 13.12.2004 enthält auf den Seiten 1 und 2 Angaben über die Höhe der
Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005, über die Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft, über die Durchführung der Kranken- und Rentenversicherung sowie weitere
Erläuterungen hinsichtlich des Leistungsanspruches. Auf den Seiten 4-12 sind für die unterschiedlichen
Bewilligungszeiträume vom 01.01.2005 bis 30.04.2005, vom 01.05.2005 bis 31.05.2005 und vom
01.06.2005 bis 30.06.2005 die jeweiligen Berechnungen für die Ermittlung des Bedarfs der
Bedarfsgemeinschaft und das Gesamteinkommen der Bedarfsgemeinschaft enthalten. In der Tabelle, in
der das monatliche Gesamteinkommen aufgeführt war, ist jeweils als Einkommen nur das für den Sohn
Andreas gezahlte Kindergeld aufgeführt. Bei der Ehefrau des Klägers sind in der Spalte "Netto-
Erwerbseinkommen monatlich abzüglich Freibetrag", "Anzusetzendes Erwerbseinkommen" und
"Monatliches Gesamteinkommen" jeweils "0,00 €" angegeben. Bei einer Durchsicht des
Bewilligungsbescheides hätte es sich dem Kläger aufdrängen müssen, dass insoweit das von ihm
ordnungsgemäß bei der Antragstellung angegebene Erwerbseinkommen seiner Ehefrau versehentlich
nicht berücksichtigt worden ist. Insoweit hat der Kläger grob fahrlässig gehandelt. Unerheblich ist, dass die
zu hoch bewilligte Leistung ab 01.01.2005 auch auf einem Verwaltungsfehler der Beklagten beruht. Dies
befreit den Leistungsempfänger nicht von der Verpflichtung, erhaltene Leistungsbescheide auf ihre
Richtigkeit zu überprüfen und ggf. festgestellte Fehler, auch zu seinem Nachteil, mitzuteilen. Daher ist
auch das vom Kläger geltend gemachte Vertrauen auf die Richtigkeit der Leistungsbewilligung der
Beklagten nicht schutzwürdig. Der Kläger hat daher auch gemäß § 50 Abs. 1 SGB X den auf ihn
entfallenden Betrag der Überzahlung, der sich gemäß dem Bescheid der Beklagten vom 13.06.2006 auf
907,79 € beläuft, zu erstatten. Im Übrigen sind die angefochtenen Bescheide aus den oben genannten
Gründen rechtswidrig und aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).