Urteil des SozG Koblenz vom 30.04.2008

SozG Koblenz: diabetes mellitus, vorübergehende beschäftigung, stationäre behandlung, bedingung, versicherungsschutz, arbeitsunfall, unfallversicherung, bauunternehmer, kausalität, bauunternehmen

Sozialrecht
SG
Koblenz
30.04.2008
S 2 U 52/07
Zur Abgrenzung arbeitnehmerähnliche Tätigkeit - verwandtschaftlicher Gefälligkeitsdienst
1. Der Bescheid der Beklagten vom 02.08.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2007
wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Unfallereignis vom 09.06.2005 als Arbeitsunfall
festzustellen und zu entschädigen.
2. Die Beklagte hat dem Kläger die ihm entstandenen außergewöhnlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob das schädigende Ereignis vom 09.06.2005 von der Beklagten als
Arbeitsunfall festzustellen und zu entschädigen ist.
Der 1939 geborene Kläger ist Rentner. Bis 1995 war er als selbständiger Bauunternehmer tätig. Am
09.06.2005 führte der Sohn des Klägers, der Inhaber eines eigenen Bauunternehmens ist, im Rahmen
eines Rohbauauftrages Betongießarbeiten durch. Konkret wollte er eine Bodenplatte gießen. Der Kläger
war zufällig auf der Baustelle anwesend und beobachtete die Arbeiten, bei denen sein Sohn erstmals eine
bestimmte Art Beton verwendete. Beim Verteilen der Betonmasse traten Probleme auf. Der Beton ließ sich
nicht ohne weiteres verteilen. Der Kläger leistete daraufhin spontan Hilfe, um Unebenheiten in der
Bodenplatte und damit eventuell einen größeren Schaden für das Unternehmen seines Sohnes
abzuwenden. Die Arbeit dauerte ca. 3 Stunden. Dabei lief ihm Beton in die von ihm getragenen
Gummistiefel. Er zog sich Verbrennungen im Bereich beider Füße zu. Der Durchgangsarzt diagnostizierte
beginnende flächenhafte Rötungen beider Fußrücken und eine Fußrückenphlegmone links nach
Verbrennungen II. Grades beider Füße. Wegen der Verbrennungsfolgen wurde der Kläger vom 18.06. bis
20.06. und vom 22.09. bis 13.10.2006 stationär behandelt. Eine weitere stationäre Behandlung erfolgte
schließlich wegen einer chronischen Wunde im Bereich des linken Vorfußes vom 30.10. bis 23.12.2006.
Im Verlaufe dieser stationären Behandlung mussten der 2. bis 4. Zeh des linken Fußes amputiert werden.
Außerdem erfolgte eine transmetatarsale Resektion des 1. Strahles. Als unfallunabhängige Erkrankungen
nannten die behandelnden Ärzte einen Diabetes mellitus und eine arterielle Verschlusskrankheit.
Anschließend stellte sich noch eine Wundheilstörung nach Amputation ein.
Die Beklagte, der der Unfall mit Unfallanzeige vom 21.07.2005 gemeldet worden war, lehnte mit Bescheid
vom 02.08.2006 die Feststellung eines Arbeitsunfalles und die Gewährung von Entschädigungsleistungen
mit der Begründung ab, beim Eingreifen des Klägers habe es sich um eine familiäre Gefälligkeit
gehandelt.
Der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20.02.2007 als
unbegründet zurückgewiesen.
Mit der am 01.03.2007 eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er verweist darauf,
dass er sich, als er die Notsituation seines Sohnes beim Gießen der Bodenplatte bemerkt habe, aus dem
Baufahrzeug des Sohnes zwei Stiefel genommen, diese angezogen habe und in die Baugrube hinunter
gestiegen sei. Gemeinsam mit seinem Sohn habe er nun versucht, den immer wieder neu angelieferten
Beton ordnungsgemäß und plan zu verteilen. Es sei ihm nicht darum gegangen, seinem Sohn eine
Gefälligkeit zu erweisen, sondern darum, eine Gefahrensituation abzuwenden, die eingetreten wäre,
wenn der Sohn die weiteren Betonierarbeiten allein durchgeführt hätte. Bei nicht ordnungsgemäßer
Verteilung der Betonmasse wäre die Bodenplatte uneben geworden. Dies hätte zur Folge gehabt, dass
beim Aufbringen des Estrichs, aber auch beim Aufmauern des Mauerwerks stets der Untergrund hätte
ausgeglichen werden müssen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewährend
aufgrund des Ereignisses vom 09.06.2006 unter Aufhebung der Bescheide vom 02.08.2006 in Form des
Widerspruchsbescheides vom 15.02.2007.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidung nach wie vor für rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze und den übrigen Akteninhalt sowie die Leistungsakten der Beklagten, die
vorgelegen haben, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 87, 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene und auch sonst
zulässige Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 02.08.2006 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Er hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der
gesetzlichen Unfallversicherung, denn er hat am 09.06.2005 einen Arbeitsunfall erlitten.
§ 26 Sozialgesetzbuch (SGB VII) enthält die grundsätzliche Regelung, dass die Träger der gesetzlichen
Unfallversicherung nach Eintritt eines Arbeitsunfalles Leistungen erbringen müssen. Beispielhaft nennt
die Vorschrift Heilbehandlung, berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation, Leistungen bei
Pflegebedürftigkeit und Geldleistungen.
Voraussetzung für einen Leistungsanspruch ist jedoch das Vorliegen eines Arbeitsunfalles. Nach § 8 Abs.
1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3
oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den
Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 2
SGB VII).
Der Versicherungsfall „Arbeitsunfall“ ist durch eine dreigliedrige Kausalkette gekennzeichnet An ihrem
Anfang steht die Verrichtung einer Tätigkeit, die den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII
begründet (versicherte Tätigkeit). Diese muss Ursache für einen schädigenden Vorgang (Unfallereignis)
sein. Der schädigende Vorgang wiederum muss einen gesundheitlichen Primärschaden
(Gesundheitsstörung oder Tod) bewirken. Der ursächliche Zusammenhang zwischen den drei
Kausalgliedern muss rechtlich wesentlich sein.
Soweit ein „von außen“ auf den Menschen einwirkendes Ereignis gefordert wird, ist nicht gemeint, dass
nur auf die Körperoberfläche einwirkende Vorgänge geeignet seien, den Tatbestand eines „Unfalles“ zu
erfüllen. Es soll vielmehr nur deutlich gemacht werden, dass ein aus „innerer Ursache“, also aus dem
Menschen selbst kommendes Ereignis, nicht als „Unfall“ zu qualifizieren ist. Es sei denn, betriebsbedingte
Umstände haben den Gesundheitszustand (innere Ursache), der zu dem Primärschaden führte,
wesentlich beeinflusst und deshalb wesentlich zum Eintritt des konkreten Primärschadens beigetragen.
Sind die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit ein schädigendes Ereignis sowie ein Primärschaden mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen, muss mit zumindest hinreichender
Wahrscheinlichkeit der Ursachenzusammenhang zwischen drei Gliedern der Kausalkette festgestellt
werden. Der Ursachenzusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und schädigendem Ereignis wird
als haftungsbegründende, der Ursachenzusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und
Primärschaden als haftungsausfüllende Kausalität bezeichnet.
Ob der erforderliche ursächliche Zusammenhang besteht, beurteilt sich nach der Kausalitätstheorie der
wesentlichen Bedingung. Sie stellt darauf ab, ob eine Bedingung wegen ihrer besonderen Beziehung
zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Der Begriff der „wesentlichen Bedingung“ ist ein
Wertbegriff. Die Entscheidung, welche Bedingung im Einzelfall als wesentlich anzusehen und damit
Ursache im Rechtssinne ist, ist daher eine Werteentscheidung, die sich nach den besonderen Umständen
des Einzelfalles richten muss. Der Wert einer Bedingung bestimmt sich nach der Qualität, nicht nach der
Quantität oder nach der zeitlichen Reihenfolge. Danach sind berufliche Einwirkungen nur dann rechtlich
relevant, wenn sie zum Erfolg (Eintritt des schädigenden Ereignisses bzw. des Primärschadens) im
Vergleich zu berufsunabhängigen Noxen zumindest annähernd gleichwertig beigetragen haben.
Entsprechendes gilt im Rahmen der Bewertung von Sekundärschäden (Unfallfolgen). Das heißt,
Gesundheitsstörungen sind nur dann und insoweit als Folgen eines Arbeitsunfalles zu qualifizieren, wenn
die Einwirkungen dieses Unfalles im Vergleich unfallunabhängiger Noxen zur Entstehung oder
Verschlimmerung der krankhaften Veränderungen zumindest annähernd gleichwertig beigetragen haben.
Dieser Ursachenzusammenhang muss im Übrigen zumindest hinreichend wahrscheinlich sein. Das ist im
Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität dann der Fall, wenn nach der herrschenden medizinisch-
wissenschaftlichen Lehrmeinung bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles qualitativ mehr für als
gegen die Kausalität spricht. Lediglich die Möglichkeit der Verursachung oder allein eine örtliche und
zeitliche Verbindung zu der versicherten Tätigkeit, dem Unfallereignis oder dem Primärschaden genügen
nicht.
Gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII sind auch Personen gesetzlich gegen Unfall versichert, die wie nach Abs. 1 Nr.
1 Versicherte tätig werden. Zweck der Vorschrift ist es, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung
auch solchen Personen zu gewährleisten, deren - möglicherweise nur vorübergehende - Beschäftigung
oder Tätigkeit derjenigen eines nach Abs. 1 Versicherten entspricht, ohne die in Abs. 1 aufgezählten
Tatbestandsmerkmale vollständig zu erfüllen (BSG in Breithaupt 70, Seite 859, 860). Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist für die Anwendung des § 2 Abs. 2 i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 1
erforderlich, dass es sich um eine ernstliche, dem Unternehmen dienende Tätigkeit handelt, die dem
mutmaßlichen oder wirklichen Willen des Unternehmers entspricht. Sie muss ihrer Art nach von Personen
verrichtet werden, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis
stehen. Entscheidende Bedeutung kommt dem tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhang zu, in dem
im konkreten Fall die helfende Tätigkeit verrichtet wird. Es muss sich um eine arbeitnehmerähnliche
Tätigkeit handeln. Eine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützenden Unternehmen
braucht nicht vorzuliegen. Weiterhin sind die Beweggründe des Handelns für den Versicherungsschutz
unerheblich. Grundsätzlich schließen auch Freundschafts- und Gefälligkeitsdienste den
Versicherungsschutz nicht aus (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.06.1994, Az.: L 3 U 43/94). Von
entscheidender Bedeutung ist, dass die Tätigkeit nach § 2 Abs. 2 durch ihre Zielsetzung fremdbestimmt ist.
Dies bedeutet, dass der Versicherungsschutz bei Verrichtungen aufgrund mitgliedschaftlicher,
gesellschaftsrechtlicher oder körperschaftlicher Verpflichtung entfällt.
Dass es sich bei der Arbeit, die der Kläger für das Bauunternehmen seines Sohnes leistete, um eine
ernstliche, dem Unternehmen dienende Tätigkeit handelte, wird von der Beklagten nicht in Abrede
gestellt. Es liegt auf der Hand, dass eine unebene Bodenplatte ein mangelhaftes Gewerk darstellt und für
den betroffenen Bauunternehmer eine Mängel- und Mangelfolgeschadenhaftung nach sich zieht. Das
Tätigwerden des Klägers entsprach deshalb zumindest dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers, der
ein Interesse daran hatte, ein mangelfreies Gewerk abzuliefern. Die Arbeit wird auch üblicherweise ihrer
Art nach von Personen verrichtet, die als Bauarbeiter oder Betonfacharbeiter in einem Bauunternehmen
tätig sind. Die Tätigkeit des Klägers war auch fremdbestimmt, denn er hat mit der Ausübung seiner
Tätigkeit keine ihm selbst obliegende Verpflichtung erfüllt.
Der Kläger hat entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht nur im Rahmen eines
verwandtschaftlichen Gefälligkeitsverhältnisses gehandelt. Zwar ist die familienhafte Prägung einer
Tätigkeit umso eher zu bejahen, je enger die familienrechtlichen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen
den Beteiligten sind (BSG in Breithaupt 1993, Seite 817), allerdings führt nicht jedes Tätigwerden für einen
nahen Verwandten dazu, dass Unfallversicherungsschutz zu verneinen ist. Entscheidend ist vielmehr, ob
die Tätigkeit ihr Gepräge wesentlich durch familiäre Beziehungen erhalten hat und es sich wegen der Art
der Tätigkeit um eine Hilfeleistung im Rahmen alltäglicher Gefälligkeiten handelt (LSG Rheinland-Pfalz,
Urteil vom 20.04.1994, Az.: L 3 U 154/92).
Nach Auffassung der Kammer ist im vorliegenden Fall nicht davon auszugehen, dass die unfallbringende
Tätigkeit des Klägers ihr Gepräge wesentlich durch familiäre Beziehungen erhalten hat und es sich wegen
der Art der Tätigkeit um eine Hilfeleistung im Rahmen alltäglicher Gefälligkeiten handelt. Abzustellen ist
hier vielmehr entscheidend darauf, dass die Tätigkeit des Klägers sowohl was ihre Art als auch was ihren
zeitlichen Umfang angeht mit der aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses geleisteten Tätigkeit eines
im Unfallbetrieb beschäftigten Arbeitnehmers gleichzustellen ist. Es handelte sich nämlich bei der
körperlich anstrengenden, unter Zeitdruck sich über mehrere Stunden erstreckenden Tätigkeit des Klägers
nicht um eine bloße Handreichung wie sie im Rahmen alltäglicher Gefälligkeiten innerhalb einer Familie
erbracht werden. Dass ein Mann im Alter des Klägers, der an Diabetes und einer arteriellen
Verschlusskrankheit leidet, mehrere Stunden an einem Samstag eine körperlich anstrengende Tätigkeit
ausführt, ist nach Auffassung der Kammer trotz der zu erwartenden besonders engen Beziehungen
zwischen seinem Sohn und ihm nicht typisch und üblich und deshalb zu erwarten. Hinzu kommt, dass der
Kläger für die Kammer nachvollziehbar dargelegt hat, dass er eine ähnliche Hilfeleistung auch erbracht
hätte, wenn ein anderer Bauunternehmer aus seinem Heimatort in eine derart prekäre Lage geraten wäre
und er davon erfahren hätte.
Aus alledem folgt, dass der Klage stattzugeben war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.