Urteil des SozG Kassel vom 22.09.2009

SozG Kassel: diabetes mellitus, gerichtsakte, behinderung, gesellschaft, retinopathie, behandlung, stadt, diät, zahl, therapie

Sozialgericht Kassel
Urteil vom 22.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 6 SB 558/06
Hessisches Landessozialgericht L 4 SB 54/09
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des festzustellen Grades der Behinderung (GdB) und hierbei konkret darüber, ob
beim Kläger einen GdB von 50 ab Antragstellung festzustellen ist.
Der 1946 geborene Kläger stellte am 12.09.2006 erstmalig einen Antrag nach dem Schwerbehindertenrecht. Zu
Begründung seines Antrags gab er folgende Behinderungen an:
- Ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, - eine Polyneuropathie, - eine diabetischen Retinopathie und - ein
Trümmerbruch des linken Armkugelgelenks.
Zur Untermauerung seines Antrags überreichte der Kläger einen Befundbericht von dem behandelnden Arzt M. vom
15.09.2006, dem zu entnehmen ist, dass der Kläger seit Jahren an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ II
leide. Der Glykohämoglobinwert liege im Normbereich (zw. 6,0 und 7,0 %). Ferner liege ein diabetisches Fußsyndrom
vor, wegen dem derzeit keine Therapie erforderlich sei. Wegen eines Zustands nach Humeruskopffraktur links sei seit
der letzten Untersuchung keine Therapie mehr erforderlich (Bl. 3 Verwaltungsakte, Rückseite).
Mit Bescheid vom 09.10.2006 stellte der Beklagte einen GdB von 30 fest. Er berücksichtigte hierbei als Behinderung
einen Diabetes mellitus. In dem Bescheid heißt es weiterhin, dass die Gesundheitsstörung "Armfunktionsstörung"
keine Behinderung darstelle, weil sie nicht zu dauernden Funktionsbeeinträchtigungen führe, die einen GdB von 10
rechtfertigen könnten (Bl. 6 Verwaltungsakte).
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 16.10.2006 Widerspruch ein. Er begründete seinen Widerspruch damit,
dass er unter einem schwer einstellbaren Diabetes mellitus leide, der mit einer Insulinintensivtherapie behandelt
werde. Eine sich verschlimmernde diabetische Neuropathie der Füße setzte ihm schwer zu. Die Retinopathie der
Augen sei fortschreitend.
Zur Untermauerung seines Widerspruchs überreichte der Kläger einen Befundbericht von Dr. C. vom 23.10.2006 mit
Hinweis auf einen schwer einstellbaren Diabetes mellitus, eine Polyneuropathie und eine Retinopathie. Angaben, wie
sich die schwere Einstellbarkeit des Diabetes mellitus äußert, sind dem Befundbericht nicht zu entnehmen (Bl. 9
Verwaltungsakte).
Weiterhin überreichte der Kläger einen Befundbericht des Augenarztes Dr. D. vom 26.10.2006. Der Befundbericht
enthält als Diagnose eine diabetische Maculopathie. Dem Befundbericht ist weiterhin zu entnehmen, dass der Kläger
wegen dieser Netzhautschädigungen in den Jahren 2004, 2005 und 2006 an der Netzhaut per Laser ambulant
behandelt wurde. Dr. D. stellte einen Visus Rechts und links von 0,8 und einen Augeninnendruck beidseits im
Normbereich fest. Hinweise auf Gesichtsfeldausfälle sind dem Befundbericht nicht zu entnehmen (Bl. 10
Verwaltungsakte).
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.11.2006 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Den
Befundberichten von Dr. D. und Dr. C. seien keine Hinweise auf Funktionsbeeinträchtigungen zu entnehmen, die einen
höheren GdB als 30 rechtfertigten (Bl. 14 Verwaltungsakte).
Am 30.11.2006 hat der Kläger gegen den Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids Klage beim hiesigen
Sozialgericht Kassel erhoben.
Das Gericht hat zur Aufklärung der Sachverhalt zunächst Befundberichte eingeholt.
Dem Befundbericht von Dr. C. ohne Datum (Bl. 24 ff. Gerichtsakte) ist zu entnehmen, dass ein schwer einstellbarer
Diabetes mit Problemen durch Folgekrankheiten (Retinopathie, Polyneuropathie) vorliege. Das Vibrationsempfinden
sei beeinträchtigt. Dem Befundbericht ist weiterhin unter anderem zu entnehmen, dass die Nieren des Klägers bei
einer Untersuchung am 01.03.2007 ohne pathologischen Befund gewesen seien (Bl. 26 Gerichtsakte).
Der Befundbericht des Augenarztes Dr. D. vom 09.03.2007 bestätigt die bereits zuvor erwähnten durch den Diabetes
mellitus verursachten Netzhautschädigungen, welche per Laser ambulant versorgt wurden, und den beidseitigen Visus
von 0,8 (Bl. 27 Gerichtsakte).
Der Beklagte hat die Befundberichte durch seinen zentralärztlichen Dienst auswerten lassen und hat an seiner
Auffassung festgehalten. Der aktenmäßigen internistischen Äußerung von Medizinaldirektor M. vom 30.03.2007 zu
entnehmen, dass eine schwere Einstellbarkeit des Diabetes mellitus nicht ausreichend belegt sei. Gleiches gelte für
das diabetische Fußsyndrom und die Augenhintergrundveränderungen. Dem Befundbericht von Dr. C. sei
insbesondere nicht zu entnehmen, dass der Kläger unter Hypoglykämien leidet. Entsprechende
Blutzuckertagesprotokolle lägen nicht vor. Dem Befundbericht sei auch nicht zu entnehmen, dass der Kläger
hinsichtlich des Fußsyndroms unter Lähmungserscheinungen oder Muskelatrophien leide. Entsprechendes gelte auch
die Angaben hinsichtlich der Augenhintergrundveränderungen. Diese Folgeschädigung orientiere sich an den Visus-
Werten beziehungsweise Gesichtsfeldausfällen. Entsprechende Funktionsbeeinträchtigungen, die einen GdB von 10
begründen könnten, seien aber nicht angegeben worden.
Sodann hat der Kläger einen weiteren Befundbericht von Dr. C. vom 03.07.2007 übersandt, dem zu entnehmen ist,
dass der Kläger aufgrund der schweren Einstellbarkeit des Diabetes eine intensivierte Insulintherapie durchgeführt
habe. Neben der diabetischen Neuropathie, einer diabetischen Retinopathie liege als Folgeerkrankung auch eine
erektile Dysfunktion vor. Der Kläger müsse vier- bis sechsmal täglich Insulin spritzen und vier- bis sechsmal täglich
Blutzuckerselbstkontrollen durchführen. Nach den Empfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft und auch nach
den Anhaltspunkten sei ein GdB von 50 allein deshalb gerechtfertigt, da der Kläger mit einem schwer einstellbaren
Diabetiker mit einem Diabetes mellitus Typ I vergleichbar sei (Bl. 45 Gerichtsakte).
Die am 19.09.2007 durchgeführte mündliche Verhandlung ist vertagt worden, nachdem der Kläger mitgeteilt hatte,
wegen urologischer Beschwerden bei Dr. E. in Behandlung zu sein (Bl. 58 Gerichtsakte).
Einem im Rahmen des Verhandlungstermins überreichten Entlassungsbericht des Klinikums A-Stadt, Urologie, vom
17.08.2007 ist zu entnehmen, dass der Kläger in der Zeit vom 16.08.2007 bis 18.08.2007 wegen einer stummen Niere
links in stationärer Behandlung war und deshalb operiert wurde. Am Folgetag sei der Kläger beschwerdefrei gewesen
(Bl. 59 Gerichtsakte).
Einem Befundbericht vom Facharzt für Urologie E. vom 25.09.2007 ist zu entnehmen, dass sich der Kläger im
Februar 2006 erstmalig bei ihm wegen einer erektilen Dysfunktion bei fehlendem Steifwerdens des Schwellkörpers
vorgestellt habe. Ein Behandlungsversuch mit Viagra sei fehlgeschlagen. Wegen des Verdachts einer stummen Niere
sei der Kläger an das Klinikum A-Stadt überwiesen worden (Bl. 66 f. Gerichtsakte). Dem Befundbericht war der bereits
erwähnte Entlassungsbericht des Klinikums A-Stadt über die Behandlung wegen der Nierenerkrankung beigefügt.
Einem Befundbericht des Klinikums A-Stadt, Urologie, vom 09.07.2007 ist zu entnehmen, dass der Kläger wegen der
Nierenerkrankung bereits in der Zeit vom 03.07.2007 bis 09.07.2007 in stationärer Behandlung war (Bl. 70
Gerichtsakte).
Der Beklagte hat die Befundberichte und Entlassungsberichte durch seinen zentralärztlichen Dienst auswerten lassen
und hat am 15.11.2007 einen auf § 48 SGB X gestützten Bescheid erlassen, mit dem er einen GdB von 50 ab dem
01.06.2007 feststellte. Hierbei legte der Beklagte folgende Behinderungen zugrunde:
1. Diabetes mellitus GdB 30 2. Stumme Niere links GdB 25 3. erektile Dysfunktion GdB 20
Der Stellungnahme von Medizinaldirektor M. vom 06.11.2007 ist die Auffassung zu entnehmen, dass eine schwere
Einstellbarkeit des Diabetes mellitus nicht bewiesen sei. Die Verweise auf die Entscheidung des Sozialgerichts
Düsseldorf und auf die Empfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft seien nicht überzeugend, da diese in den
Anhaltspunkten keinen Niederschlag gefunden hätten. Ein diabetisches Fußsyndrom mit einer exakten
Befundbeschreibung und Beschreibung der Funktionsdefizite liege nicht vor. Gleiches gelte für die diabetische
Retinopathie. Allerdings müssten die erektile Dysfunktion und die stummen Niere berücksichtigt werden, welche beide
erst im Juni 2007 aktenkundig seien (Bl. 78 – 81 Gerichtsakte).
Auf den Hinweis der Prozessbevollmächtigten des Klägers, dass die erektile Dysfunktion bereits im Februar 2006
aufgetreten sei, hat der Beklagte am 01.02.2008 einen weiteren Bescheid erlassen, mit dem er ab dem 12.09.2006 ein
GdB von 40 und ab dem 01.06.2007 ein GdB von 50 festgestellt hat (Bl. 89 Gerichtsakte).
Der Kläger ist der Auffassung, dass ein GdB von 50 ab Antragstellung gerechtfertigt sei. Dies folge aus der neuen
Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSG), der zu entnehmen sei, dass bei der Bewertung des Diabetes
mellitus nicht nur auf die erreichte Stoffwechsellage, sondern auch auf den erforderlichen Therapieaufwand abgestellt
werden müsse. Der Stellungnahme von Dr. C. sei zu entnehmen, dass beim Kläger eine intensivere Insulintherapie
durchgeführt worden sei. Der Kläger müsse vier- bis sechsmal täglich Insulin spritzen und mindestens vier- bis
sechsmal täglich Blutzuckerselbstkontrollen durchführen. Bei diesem Therapieaufwand sei für den festgestellten
Diabetes mellitus allein ein GdB von 50 gerechtfertigt, wobei die Folgeerkrankungen zusätzlich berücksichtigt werden
müssten.
Der Kläger beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 09.10.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom
16.11.2006 in Gestalt der Bescheide vom 15.11.2007 und vom 01.02.2008 aufzuheben und den Beklagten zu
verurteilen, einen GdB von 50 ab dem 12.09.2006 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat keinen Erfolg. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Gesamtgrades der Behinderung (Gesamt-GdB) ab dem 12.09.2006
liegen nicht vor.
Auf Antrag stellen die zuständigen Behörden nach § 69 Abs. 5 SGB IX das Vorliegen einer Behinderung und den GdB
fest. Gemäß § 2 Abs. 1 S.1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen
Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden gemäß § 69 Abs. 1 S.4 SGB IX als Grad der Behinderung nach
Zehnergraden abgestuft festgestellt.
Zur Bewertung der einzelnen Gesundheitsstörungen, also des jeweiligen Einzel-GdB, und des Gesamt-GdB waren bis
zum 31.12.2008 die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht zu Grunde zu legen. Ab dem 01.01.2009 sind die Anhaltspunkte durch die im Wesentlichen
inhaltsgleichen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" abgelöst worden, bei denen es sich um die Anlage zu dem §
2 Versorgungsmedizinverordnung vom 10.12.2008 handelt. Die Versorgungsmedizinverordnung ist auf der Grundlage
von § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassen worden. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind
daher für das Gericht grundsätzlich bindend (vgl. dazu: BSG, Urteil v. 23.04.2009, B 9 SB 3/08 R; SG Dortmund,
Urteil v. 27.01.2009, S 18 SB 389/06; Christians in: GK-SGB IX, April 2009, § 69 Rn. 10; Dau, jurisPR-SozR 4/2009
Anm. 4).
Für die Bildung des Gesamt-GdB sind beim Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen nach § 69 Abs. 3 SGB
IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich die Anwendung jeglicher Rechenmethoden verbietet. Vielmehr ist zu
prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen aus den einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz
verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der
Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung
auszugehen, die zu dem höchsten Einzel-GdB führt. In einem weiteren Schritt ist dann im Hinblick auf die weiteren
Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Dabei
dürfen die einzelnen Werte allerdings nicht addiert werden. Leichte Gesundheitsstörungen, die einen GdB von nur 10
bedingen, führten grundsätzlich nicht zu einer Zunahme der Gesamtbeeinträchtigung. Selbst bei leichten
Funktionsstörungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des
Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.01.2008, L 13 SB
79/04, Rn.27; vgl. auch: Straßfeld, SGb 2003, 613 (616).
1. Die Kammer ist hinsichtlich des Diabetes mellitus von einem Einzel-GdB von 30 ausgegangen. Die
Versorgungsmedizinischen Grundsätze (S.73 f.) sehen bei einem Diabetes mellitus folgende Grade der Behinderung
vor:
mit Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikamente) ...0 mit Medikamenten eingestellt, die die
Hypoglykämieneigung nicht erhöhen ...10 mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung erhöhen ...20
Unter Insulintherapie, auch in Kombination mit anderen blutzuckersenkenden Medikamenten, je nach Stabilität der
Stoffwechsellage (stabil oder mäßig schwankend) ...30-40 Unter Insulintherapie instabile Stoffwechsellage
einschließlich gelegentlicher schwerer Hypoglykämien ...50 Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind
zusätzlich zu bewerten. Schwere Hypoglykämien sind Unterzuckerungen, die eine ärztliche Hilfe erfordern.
Das BSG hat in seinen Entscheidungen vom 24.04.2008 (B 9/9a SB 10/06 R) und 11.12.2008 (B 9/9a SB 4/07 R) zu
den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht, die zwar grundsätzlich als antizipierte Sachverständigengutachten normähnliche Geltung
hatten, festgestellt, dass diese insoweit der Korrektur bedurften, als sie entgegen § 69 Abs. 1 S.4 SGB IX nicht den
mit einem Diabetes verbundenen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigenden Therapieaufwand
berücksichtigten. Dieser Therapieaufwand könne je nach Umfang dazu führen, dass der allein anhand der
Einstellungsqualität des Diabetes beurteilte GdB auf den nächst höheren Zehnergrad festzustellen sei.
In seiner Leitentscheidung vom 23.04.2009 (B 9 SB 3/08 R) hat sich das BSG auch mit der Vereinbarkeit der
Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit § 69 Abs. 1 S.4 SGB IX befasst und zutreffend festgestellt, dass diese
wegen der Nichtberücksichtigung des im Einzelfall aufzuwendenden Therapieaufwandes nicht mit höherrangigem
Recht zu vereinbaren sind:
"Obgleich es sich bei der VersMedV um eine Rechtsverordnung und damit eine untergesetzliche Rechtsnorm handelt,
bindet sie in diesem speziellen Fall die Rechtsanwender nicht, denn sie verstößt gegen § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX.
Der medizinisch notwendige Aufwand für die Therapie eine Dauererkrankung wie des Diabetes mellitus kann je nach
Art und notwendigen Zeitaufwand "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" haben. In diesem
Fall ist er gesetzlich zwingend zu berücksichtigen. Da es sich bei der VersMedV um eine untergesetzliche
Rechtsnorm handelt, ist das BSG nicht nur befugt, inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen – hier § 69
Abs. 1 Satz 4 SGB IX – festzustellen. Das Gericht ist anders als bei formellen Gesetzes (s Art. 100 Abs. 1 GG) auch
berechtigt, die Rechtswirkungen dieses Verstoßes gegen das höherrangiges Recht festzustellen und den Einzelfall
unmittelbar danach zu entscheiden."
Dieser Auffassung hat sich die Kammer angeschlossen und vorliegend geprüft, welcher Einzel-GdB auch unter
Berücksichtigung des Therapieaufwandes wegen des Diabetes mellitus angemessen ist.
Bei der Beurteilung des Therapieaufwandes darf nach der Überzeugung der Kammer nicht ausschließlich auf die Zahl
der täglich notwendigen Injektionen abgestellt werden. Durch die Zahl der täglichen Insulininjektionen kann nämlich
nicht mit hinreichender Genauigkeit auf da Ausmaß der durch den Diabetes verursachten Teilhabebeeinträchtigungen
geschlossen werden (so auch: BSG, Urteil v. 24.04.2008, B 9/9a SB 10/06 R; vgl. auch: Bayerisches LSG, Urteil v.
30.04.2009, L 15 SB 87/08; SG Aachen, Urteil v. 04.08.2008, S 25 (22) SB 78/07). Bei im Umgang mit den
Insulininjektionen geübten Diabetikern dauern das Blutzuckermessen und die Injektionen im Übrigen jeweils lediglich
zwei bis drei Minuten (vgl. Bayerisches LSG, Urteil v. 30.04.2009 Rn. 34).
Das BSG stellt in seiner Entscheidung vom 24.04.2008 (B 9/9a SB 10/06 R, Rn. 40) zutreffend fest, neben der Zahl
der Injektionen auch das Ergebnis der therapeutischen Maßnahmen, insbesondere die erreichte Stoffwechsellage, zu
betrachten ist:
"So wird der GdB relativ niedrig anzusetzen sein, wenn mit geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene
Stoffwechsellage erreicht wird. Mit (in beeinträchtigender Weise) wachsendem Therapieaufwand und / oder
abnehmendem Therapieerfolg (instabiler Stoffwechsellage) wird der GdB höher einzuschätzen sein. Dabei sind jeweils
- im Vergleich zu anderen Behinderungen – die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in
Betracht zu ziehen."
Es kommt für die Beurteilung des Diabetes also insbesondere auch auf die Einstellung des Diabetes und darauf an,
was der Behinderte unternimmt, um die jeweilige Einstellungsqualität zu erzielen. Hierbei hat u.a. eine Rolle zu
spielen, ob der Behinderte eine bestimmte Einstellungslage durch die Befolgung einer strikten Diät, durch das Treiben
von Sport, durch körperliche Arbeit bzw. durch andere Bewegung sowie die Kombination von Insulin und anderen
Medikamenten (vgl. Standl / Mehnert, Das große TRIAS-Handbuch für Diabetiker, 8. A. Stuttgart 2006, S.52 ff.;
Andreae u.a., Medizinwissen von A-Z, Stuttgart 2008, S.235) erreicht oder ob eine gute Einstellung bereits allein
durch das Spritzen von Insulin erreicht werden kann. Bei der Beurteilung der Einstellungsqualität des Diabetes ist der
Zuckerhämoglobinwert (sog. HbA1c-Wert) entscheidend. Bei einem Wert unter 6 % ist davon auszugehen, dass kein
Diabetes vorliegt oder dass der Patient "hervorragend" eingestellt ist. Bei einer Einstellung von 6 bis 7 % ist von einer
"guten bis ausreichenden", bei Werten zwischen 7 und 8 % ist von einer "eher mäßigen", bei 8 – 10 % ist von einer
"schlechten" und bei über 10 % von einer "sehr schlechten" Einstellung des Diabetes auszugehen (vgl. Standl /
Mehnert, a.a.O., S.49).
Neben der Einstellungsqualität und dem Therapieaufwand für den Diabetes mellitus selbst führen gesundheitliche
Störungen an anderen Organen, die durch diesen hervorgerufen wurden, nicht zu einer Erhöhung des Einzel-GdB
wegen Diabetes (BSG, Urteil v. 11.12.2008, B 9/9a SB 4/07 R). Diese Gesundheitsstörungen sind vielmehr gesondert
zu beurteilen.
Der Kläger leidet vorliegend unter einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus. Hypoglykämien sind nicht bekannt.
Die aktenkundigen HbA1c-Werte sprechen dafür, dass der Diabetes des Klägers gut bis ausreichend eingestellt ist.
Dem Befundbericht von Herrn M. vom 06.09.2006 ist zu entnehmen, dass die HbA1c-Werte beim Kläger zwischen 6,0
und 7,0 % liegen. Dies spricht für eine gute bis ausreichende Einstellung des Diabetes. Herr M. ging von einem
"HaA1c-Wert im Normbereich" aus. Die Befundberichte von Dr. C. enthielten hierzu keine abweichenden Angaben.
Das Gericht konnte sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugen, dass der Kläger seine gute
bis ausreichende Diabetes-Einstellung durch einen Therapieaufwand erreicht, der es rechtfertigt den Einzel-GdB aus
diesem Grunde von 30 auf 40 anzuheben.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 22.09.2009 hat der Kläger angegeben, dass eine Insulintherapie in Form
der Einnahme von zwei unterschiedlichen Insulinen erfolge und dass er ungefähr sechsmal täglich Insulin spritze. Bei
Blutzuckerschwankungen spritze er zusätzliches Insulin oder esse etwas.
Eine durchgehend strenge Diät wird vom Kläger nicht betrieben. Zuhause versuche der Kläger "nach seinen
Möglichkeiten" eine Diät einzuhalten und trinke auch kein Bier mehr. Wenn er bei Freunden zum Essen eingeladen
sei, reguliere er den Blutzuckerwert durch die zusätzliche Einnahme von Insulin.
Das Gericht konnte sich auch nicht davon überzeugen, dass sich der Kläger gezielt zur Senkung seines
Blutzuckerwertes bewegt. Der Kläger gab an, keinen Sport mehr machen zu können, weil er sich dazu gesundheitlich
nicht mehr in der Lage sehe. Er gehe allerdings zwei- bis dreimal in der Woche spazieren. Es ist für das Gericht
durchaus nachvollziehbar, dass sich der Kläger wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden nicht mehr viel bewegt.
Auf der anderen Seite ist allerdings festzustellen, dass der Diabetes des Klägers gleichwohl gut bis ausreichend
eingestellt ist. Dies spricht dafür, dass der Kläger mit einem relativ geringen Therapieaufwand eine ausgeglichene
Stoffwechsellage erzielen kann.
Der Umstand, dass der Kläger ungefähr sechsmal täglich seine Blutzuckerwerte misst und entsprechend Insulin
spritzt, reicht nicht aus, um vorliegend eine Anhebung des GdB von 30 auf 40 bei einer guten bis ausreichenden
Stoffwechsellage zu rechtfertigen.
2. Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (S.63) ist beim Verlust oder Ausfall einer Niere bei Gesundheit
der anderen Niere ein GdB von 25 angemessen. Ab Juni 2007 hat der Beklagte dementsprechend einen GdB von 25
anerkannt.
3. Wegen der Erektionsstörungen nach erfolgloser Behandlung mit Viagra ist nach den Versorgungsmedizinischen
Grundsätzen (S.68) ein Einzel-GdB von 20 vorgesehen. Ein entsprechender Einzel-GdB ist ab Antragstellung
festzustellen.
4. Die Augenprobleme des Klägers rechtfertigen hingegen keinen GdB. Nach den Versorungsmedizinischen
Grundsätzen (S.29) ist bei Gesundheitsstörungen der Augen auf die korrigierte Sehschärfe und Ausfälle des
Gesichtsfeldes und des Blickfeldes abzustellen. Der festgestellte Visus auf beiden Augen von 0,8 bedingt nach den
versorgungsmedizinischen Grundsätzen keinen GdB.
5. Eine Polyneuropathie, die einen GdB von mehr als 10 rechtfertigen könnte, ist beim Kläger nicht ersichtlich. Bei der
Polyneuropathie ergeben sich die Funktionsbeeinträchtigungen ausweislich der Versorgungsmedizinischen
Grundsätze (S.28) auf Grund motorischer Ausfälle (mit Muskelatrophien), sensiblen Störungen oder Komplikationen
von beiden. Der GdB motorischer Ausfälle ist in Analogie zu den peripheren Nervenschäden einzuschätzen.
Vorliegend ist dem Befundbericht von Dr. C. (Bl. 24 Gerichtsakte) lediglich zu entnehmen, dass das
Vibrationsempfinden des Klägers in den Füßen beeinträchtigt sei. Eine solche Beeinträchtigung rechtfertigt lediglich
einen GdB von 10.
6. Die Gesamtwürdigung der vorliegenden Behinderungen kommt zu dem Ergebnis, dass ein Gesamt-GdB von 40 ab
Antragstellung, also ab dem 12.09.2006, und von 50 ab Juni 2007 festzustellen ist. Exakt solche Feststellungen hat
der Beklagte mit seinem Bescheid vom 01.02.2008 getroffen. Die Klage konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.