Urteil des SozG Kassel vom 21.09.2009

SozG Kassel: universität, stadt, rahmenfrist, rücknahme, hauptsache, versicherungspflicht, zukunft, hochschule, nebensache, erfüllung

Sozialgericht Kassel
Urteil vom 21.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 3 AL 364/06
Hessisches Landessozialgericht L 6 AL 170/09
1. Der Bescheid vom 17.8.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.9.2006 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen
Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 21. August 2006.
Die 1977 geborene Klägerin stand seit 21. Mai 2002 in einem Versicherungspflichtverhältnis bei der
Ergotherapiepraxis U.D. und AU. J. mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von mindestens 20 Behandlungseinheiten pro
Woche. Am 4. November 2004 schlossen die Beteiligten einen Änderungsvertrag der Gestalt, dass die regelmäßige
Arbeitszeit mindestens zehn Behandlungseinheiten und höchstens 20 Behandlungseinheiten pro Woche betrage.
Diese Änderungsvereinbarung geht darauf zurück, dass die Klägerin seit Oktober 2004 ein Studium am Fachbereich
Sozialwesen bei der Universität A-Stadt aufnahm. Durch Bescheinigungen vom 4. November 2005 und 26. September
2006 teilte die Universität A-Stadt der Klägerin mit, dass sie für das Wintersemester 2005/2006, das
Sommersemester 2006, das Wintersemester 2006/2007 und das Sommersemester 2007 die Voraussetzungen für die
Durchführung eines Teilzeitstudiums gemäß § 3 der Hessischen Immatrikulationsverordnung vom 29. Dezember 2003
erfülle und ihr gestatte, ihr Studium als Teilzeitstudium durchzuführen, da sie ein sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis im Umfang von mindestens 14 Stunden und höchstens 28 Stunden regelmäßiger
wöchentlicher Arbeitszeit ausübe.
Nachdem das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 30. Juni 2006 gemäß arbeitsgerichtlichen Vergleichs vom 25.
August 2006 zum Az.: 6 Ca 201/06 aufgelöst wurde, meldete die Klägerin sich am 1. Juni 2006 arbeitslos und
beantragte Arbeitslosengeld.
Durch Bescheid vom 29. Juni 2006 bewilligte die Beklagte unter Anrechnung einer Sperrzeit Arbeitslosengeld ab 22.
August 2006 vorläufig in Höhe von 14,86 EUR täglich nach Lohnsteuerklasse I allgemeiner Leistungssatz.
Durch Bescheid vom 17. August 2006 nahm die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 1. Juni 2006
zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt, da sie innerhalb der
Rahmenfrist von zwei Jahren vor dem 1. Juni 2006 nicht mindestens zwölf Monate in einem
Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe. Personen, die während der Dauer ihres Studiums als ordentliche
Studierende einer Hochschule eine Beschäftigung ausübten, seien versicherungsfrei. Bei Studenten, die nicht mehr
als 20 Stunden in der Woche arbeiteten, sei davon auszugehen, dass deren Zeit und Arbeitskraft überwiegend durch
das Studium in Anspruch genommen werde. Während des Studiums ausgeübte Beschäftigungen, die diese
Zeitgrenze nicht überschritten, seien somit versicherungsfrei. Die Rücknahme der Bewilligungsentscheidung erfolge
nur für die Zukunft. Es lägen keine besonderen Gesichtspunkte dafür vor, die eine Weiterzahlung der zu Unrecht
bewilligten Leistung rechtfertigen könnten.
Gegen den Rücknahmebescheid richtet sich der am 8. September 2006 erhobene Widerspruch. Zur Begründung trug
die Klägerin vor, es träfe nicht zu, dass sie nicht mindestens zwölf Monate vor der Arbeitslosmeldung in einem
Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe. Das Arbeitsverhältnis in der Ergotherapie-Praxis bestehe seit dem
Jahr 2002.
Durch Widerspruchsbescheid vom 26. September 2006 half die Beklagte dem Widerspruch insoweit ab, als eine
Rücknahme nur für die Zeit ab 21. August 2006 erfolgte. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur
Begründung führte die Beklagte aus, die Klägerin sei neben ihrem Studium an einer Hochschule mit wöchentlich 20
Stunden beschäftigt gewesen. Die Beschäftigung habe somit nicht der Versicherungspflicht zur
Arbeitslosenversicherung unterlegen, da die Arbeitszeit nicht mehr als 20 Stunden betragen habe. Die Klägerin habe
zwar Beiträge zur Arbeitsförderung entrichtet; es komme aber nicht darauf an, ob Beiträge entrichtet wurden, sondern
darauf, ob die Beschäftigung versicherungspflichtig war. Da sie innerhalb der Rahmenfrist keine zwölf Monate in
einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe, habe sie die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die
Voraussetzungen für die Rücknahme des bewilligenden Bescheides mit Wirkung für die Zukunft lägen vor.
Gegen den zurückweisenden Widerspruch richtet sich die am 19. Oktober 2006 zum Sozialgericht Kassel erhobene
Klage. Zur Begründung trägt die Klägerin vor, dass sie die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von
Arbeitslosengeld erfülle, da sie seit dem Jahre 2002 in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe. Im
Übrigen bestehe ein innerer und auch prägender Zusammenhang zwischen der Tätigkeit als Ergotherapeutin und dem
Studienfach "Sozialwesen".
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 17.8.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.9.2006
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte beruft sich zur Begründung ihres Antrags auf die während des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens
gemachten Ausführungen. Ergänzend trägt sie vor, dass mit Aufnahme des Studiums im Oktober 2004 das
Beschäftigungsverhältnis als Ergotherapeutin nicht mehr versicherungspflichtig gewesen sei, weil dieses nicht mehr
als 20 Wochenstunden umfasst habe. Auch liege vorliegend kein berufsintegriertes Studium im Sinne der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor. Da die Beschäftigung aufgrund des Stundenumfangs gegenüber dem
Studium nach Zweck und Dauer untergeordnet gewesen sei, sei die Beschäftigung als Ergotherapeutin
versicherungsfrei. Das Erreichen oder Überschreiten der 20-Stunden-Grenze sei zwar nicht alleiniges Kriterium für das
Vorliegen von Versicherungsfreiheit; dies gelte allerdings nur in Fällen, in denen das bereits vor Beginn des Studiums
ausgeübte Beschäftigungsverhältnis vom Umfang her unverändert fortgeführt werde. Vorliegend sei durch die
Vertragsänderung vom 4. November 2004 die Arbeitszeit mit Studienbeginn der Gestalt abgeändert worden, als die
regelmäßige Arbeitszeit auf 10 bis 20 Behandlungseinheiten pro Woche neu festgesetzt worden ist. In einem solchen
Fall bestünde nur dann Versicherungspflicht, wenn die wöchentliche Arbeitszeit durchgehend über 20 Stunden liege,
was vorliegend indessen nicht der Fall gewesen sei. Der Umstand, dass die Universität A-Stadt ein Teilzeitstudium
anerkannt habe, könne zu keiner anderen Betrachtungsweise führen, weil die Universität A-Stadt nicht über die
Versicherungspflicht der ausgeübten Beschäftigung befinden könne.
Das Gericht hat am 14. Februar 2007 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt. Wegen der
weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird Bezug genommen auf den
Inhalt der Gerichtsakte; weiterhin wird Bezug genommen auf den Inhalt der Archivakte des Sozialgerichts Kassel zum
Az.: S 7 AL 339/06 sowie der Leistungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 17. August 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2006 ist
rechtswidrig. Die Klägerin wird hierdurch in ihren Rechten verletzt. Die Beklagte hat zu Unrecht die Bewilligung von
Arbeitslosengeld mit Wirkung vom 21.August 2006 zurückgenommen.
Nach § 45 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen
rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist,
auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit
Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der bewilligende Bescheid vom 29. Juni 2006 nicht rechtswidrig gewesen.
Die Klägerin hat die leistungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld erfüllt.
Nach § 118 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB III) haben Anspruch auf Arbeitslosengeld bei
Arbeitslosigkeit Arbeitnehmer, die die Anwartschaftszeit erfüllt haben.
Die Anwartschaftszeit nach § 123 Abs.1 Satz 1 SGB III hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens fünf Monate in
einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. Nach § 124 Abs. 1 SGB III beträgt die Rahmenfrist zwei Jahre
und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung einer sonstigen Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld. In
der vom 1. Juni 2004 bis 31. Mai 2006 laufenden Rahmenfrist stand die Klägerin in einem
Versicherungspflichtverhältnis. Nach § 24 Abs. 1 SGB III stehen Personen in einem Versicherungspflichtverhältnis,
die als Beschäftigte oder aus sonstigen Gründen versicherungspflichtig sind. Nach § 27 Abs. 4 Nr. 2 SGB III sind
versicherungsfrei Personen, die während der Dauer ihres Studiums als ordentlich Studierende einer Hochschule oder
der fachlichen Ausbildung dienenden Schule eine Beschäftigung ausüben.
Zwar übte die Klägerin unstreitig vor der Arbeitslosmeldung am 1. Juni 2006, also während ihres Studiums, das im
Oktober 2004 begann, eine Beschäftigung aus, die in mehr als geringfügigem Umfang im Sinne von § 8 Abs. 1
Sozialgesetzbuch 4. Buch (SGB IV) verrichtet wurde. Diese war indessen zur Überzeugung der Kammer nicht
versicherungsfrei. Versicherungsfreiheit im Sinne des so genannten "Werkstudentenprivilegs" liegt nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dann vor, wenn und solange die Beschäftigung neben dem Studium, d.h.
nach Zweck und Dauer untergeordnet, ausgeübt wird; mithin das Studium die Hauptsache und die Beschäftigung die
Nebensache ist (vgl. BSG v. 10.12.1998, B 12 RK 22/97 R, SozR 3-2500 § 6, Nr. 16). Hierbei soll nach der
Rechtsprechung des BSG eine Erwerbstätigkeit, die während des Semesters ausgeübt wird und durchschnittlich 20
Wochenstunden überschreitet, den Studenten in der Regel so stark beanspruchen, dass die Beschäftigung als
Arbeitnehmer sein Erscheinungsbild prägt (BSG v. 11.11.2003, B 12 KR 24/03 R, SozR 4-2500, § 6 Nr.3). Indessen
stellt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein Erreichen oder Überschreiten der 20 Stunden-Grenze
nicht die Voraussetzung für die Versicherungs- und Beitragspflicht dar (vgl. BSG v. 10.12.1998, a.a.O., Rz. 27). Dies
stünde mit dem Zweck des Werkstudentenprivilegs und damit dem Schutzzweck der Norm auch im Widerspruch. Das
Werkstudentenprivileg bezweckt einen (ständigen) Wechsel des Versicherungsgrundes während des Studiums und
daran anknüpfende unterschiedliche Melde- und Beitragspflichten sowie wechselnde Zuständigkeiten etc. möglichst
zu verhindern. Durch den Tatbestand der Versicherungsfreiheit soll sichergestellt werden, dass eingeschriebene
Studenten, die neben ihrem Studium einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, in der
Krankenversicherung weiterhin als Studenten und nicht als Arbeitnehmer versichert sind. Daneben soll erreicht
werden, dass Studenten zur Finanzierung ihres Studiums aus finanziellen Erwägungen von Beiträgen entlastet werden
sollen (vgl. hierzu Eicher/Schlegel, SGB III, Kommentar, Stand November 2004, § 27, Rdz. 110 m.w.N.). Das
Werkstudentenprivileg soll somit eine übermäßige Bürokratisierung verhindern und dient als Institut dem Schutz und
nicht der Verhinderung der sozialen Sicherung von Studenten. Unter Berücksichtigung dieses Schutzzwecks der
Norm war vorliegend davon auszugehen, dass die Beschäftigung der Klägerin im Sinne des Werkstudentenprivilegs
als Hauptsache zu begreifen war. Hierbei war insbesondere zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Beschäftigung
als Ergotherapeutin bereits seit 2002 und damit lange vor Aufnahme des Studiums aufgenommen und ausgeübt hatte.
Auch wenn die Beschäftigung zu Beginn des Studiums in zeitlichem Umfang reduziert wurde, ändert dies zur
Überzeugung der Kammer nichts daran, dass die Klägerin auch nach Aufnahme des Studiums versicherungspflichtige
Arbeitnehmerin geblieben ist und ihre wirtschaftliche Absicherung durch die Ausübung der Beschäftigung
gewährleistete. Dieser Umstand wird durch die Bescheinigungen der Universität A-Stadt bestätigt, dass die Klägerin
ein Teilzeitstudium ausübe. Nach § 3 Abs. 1 der Verordnung über das Verfahren der Immatrikulation und die
Verarbeitung personenbezogener Daten an den Hochschulen des Landes Hessen (Hess. Immatrikulationsverordnung)
vom 29.12.2003 in der bis zum 30. September 2007 geltenden Fassung (GVBl. I, S. 513, 516) kann auf Antrag in
Studiengängen, die mit einer Hochschulprüfung abschließen, ganz oder teilweise auch in der Form des
Teilzeitstudiums nach § 65 des Hessischen Hochschulgesetzes studiert werden. Abs. 2 der Vorschrift bestimmt,
dass ein Teilzeitstudium voraussetzt, dass auf Grund von Berufstätigkeit das Studium nicht als Vollzeitstudium
betrieben werden kann. Die Berufstätigkeit wird im Regelfall durch ein sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis im Umfang von mindestens 14 Stunden und höchstens 28 Stunden regelmäßiger
wöchentlicher Arbeitszeit nachgewiesen.
Es ist zwar zutreffend, dass die Universität A-Stadt, worauf die Beklagte hinweist, keine Entscheidung darüber zu
treffen hat, ob eine Beschäftigung versicherungspflichtig ist oder nicht. Indessen dokumentiert die Bescheinigung der
Universität A-Stadt, dass das Studium wegen der Ausübung einer Beschäftigung nur in Teilzeit, also als Nebensache,
ausgeübt werden kann. Mithin wird der Klägerin bescheinigt, dass sie ihr Studium nicht in dem für ein Vollzeitstudium
üblichen Umfang ausüben muss, sondern auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit befugt ist, mit einem geringeren
zeitlichen Aufwand zu studieren, womit auch die Vermutungsregelung von § 120 Abs. 2 SGB III widerlegt wird. Dieser
Umstand darf bei der Auslegung und der Frage nach dem Schutzzweck der Norm nicht unbeachtet bleiben. Zur
Überzeugung des Gerichts wird durch die Ausübung des Teilzeitstudiums dokumentiert, dass die Beschäftigung und
nicht das Studium die Hauptsache im Sinne des Werkstudentenprivilegs darstellt (LSG Berlin-Brandenburg v.
11.6.2008, L 9 KR 1041/05 zitiert nach juris).
Im Ergebnis lag somit vor Arbeitslosmeldung der Klägerin am 1. Juni 2006 innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist
eine versicherungspflichtige Beschäftigung vor, die zur Erfüllung der Anwartschaftszeit beitrug. Somit war die
Beklagte nicht berechtigt, die Bewilligung von Arbeitslosengeld zurückzunehmen, da die leistungsrechtlichen
Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld im Sinne von § 117 SGB III ab 1. Juli 2006 insgesamt
vorlagen.
Der Klage war aus diesem Grunde stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Zulässigkeit der Berufung folgt aus § 143 SGG.