Urteil des SozG Karlsruhe vom 27.10.2015

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SG Karlsruhe Urteil vom 27.10.2015, S 6 VG 4648/13
Soziales Entschädigungsrecht - Gewaltopfer - tätlicher Angriff - möglicher
sexueller Missbrauch in der Kindheit - Belastbarkeit von Erinnerungen nach
langjähriger psychotherapeutischer Behandlung - Erfordernis eines
Glaubhaftigkeitsgutachtens verneint
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem
Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i.V.m. dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG).
1.
2 Die am XX.XX.1973 geborene Klägerin erstattete am 20.07.1995 Anzeige wegen
sexuellen Missbrauchs von Kindern. Dabei gab die Klägerin an, M. habe sie vor
sechzehn Jahren sexuell missbraucht. Sie sei seit zehn Jahren regelmäßig in
psychotherapeutischer Behandlung. Bereits im Alter von sechs bis sieben Jahren
habe sie psychotherapeutische Gespräche geführt. Durch die Psychotherapie in
den letzten Jahren sei letztlich herausgekommen, ihre ganze seelische
Verfassung basiere zum größten Teil darauf, im Alter von fünf Jahren von dem
Tierarzt M. sexuell missbraucht worden zu sein. Im Alter von etwa vier Jahren
seien ihre Eltern nach S. verzogen, da sie dort das Vereinsheim des Hockey- und
Tennisclubs (HTC) gepachtet hätten. M. sei Gast im Vereinsheim des HTC
gewesen. Dort sei es auch zu dem Übergriff gekommen. Sie mache die Anzeige
erst nach sechzehn Jahren, da sie erst mit zehn oder elf Jahren die ersten
Vermutungen gehegt habe und eigentlich erst seit eineinhalb Jahren sicher wisse,
sexuell missbraucht worden zu sein. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren
am 13.09.1995 wegen Strafverfolgungsverjährung ein.
3 In der Zeit vom 17.07.1996 bis 30.10.1996 befand sich die Klägerin in stationärer
psychotherapeutischer Behandlung in der K-Klinik (vgl. Entlassbericht vom
08.11.1996). Dort diagnostizierten die Ärzte eine Reifungskrise bei V. a. Borderline-
Persönlichkeitsstörung mit hysterischen Anteilen sowie eine
Somatisierungsstörung. In dem Entlassbericht berichten die Ärzte, die Mutter sei
bei Geburt der Tochter 19 Jahre alt gewesen, bei ungewollter Schwangerschaft sei
ihr zur Abtreibung geraten worden. Da die Mutter selbst eine Ausbildung habe
machen wollen, sei das Kind trotz heftiger Gegenwehr tagsüber durch eine
Pflegefamilie betreut worden. 1976 habe der Vater einen Suizidversuch
unternommen und sei von der dreijährigen Tochter gefunden worden. Schon als
Kind hätten sich multiple körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen und
Kopfschmerzen entwickelt. Ihre Mutter habe sich häufig mit der Betreuung der
Tochter überfordert gefühlt. 1984 hätten sich die Eltern getrennt und zwei Jahre
später scheiden lassen, als die Patientin dreizehn Jahre alt gewesen sei. Ab
diesem Zeitpunkt hätten die psychogenen Anfälle begonnen. Mit acht Jahren sei
sie erstmals psychotherapeutisch behandelt worden, mit neunzehn Jahren sei ein
sechsmonatiger stationärer Therapieaufenthalt, ein Jahr später ein achtwöchiger
erfolgt. Von 1993 bis 1994 habe sie sich in einer Einrichtung betreuten Wohnens
befunden und sei dann in eine eigene Wohnung mit ihrem Freund verzogen.
Auffällig sei, dass sie mehrmals erwähne, sexuell missbraucht worden zu sein.
4 Vom 27.01.1998 bis 24.04.1998 befand sich die Klägerin in stationärer
Behandlung in der M.-Klinik. Dort diagnostizierten die Ärzte eine emotional instabile
Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus mit histrionischen und aggressiven
Zügen. In dem Entlassbericht wird beschrieben, die Ehe der Eltern sei von
häufigen Streitereien und Handgreiflichkeiten geprägt gewesen, das Familienleben
wegen des Gaststättenbetriebs sehr chaotisch. Die Klägerin habe als Mädchen
immer das Gefühl gehabt, zu kurz zu kommen. Die Klägerin sei für die Mutter ein
offensichtlich ungewolltes Kind gewesen. Im Alter von zwei Jahren habe die
Klägerin den Nachbarn tot im Garten gefunden. Die Klägerin gab an, im Alter von
fünf Jahren sei sie von einem ihr gut vertrauten Mann, einem Tierarzt, der ihr eine
Katze geschenkt habe, im elterlichen Gaststättenbetrieb sexuell (oral) missbraucht
worden. Da der Mann ihr gedroht habe, wenn sie über dieses Erlebnis anderen
erzähle, werde seine Katze ihm das berichten, habe sie in ihrer Verzweiflung
versucht, die Katze zu ertränken, was aber misslungen sei. Schon früh seien
Bauchschmerzen und Kopfschmerzen bei der Klägerin aufgetreten. Als die
Klägerin elf Jahre alt gewesen sei, hätten sich die Eltern getrennt, zwei Jahre
später sei die Scheidung erfolgt. Anschließend erfolgten erstmals psychogene
Ohnmachtsanfälle. Alpträume mit Händen, die aus der Wand kämen und Schatten,
die sie verfolgten, hätten sie die ganze Kindheit und Jugend über verfolgt.
5 Im Juni 1997 beantragte die Klägerin bei der Staatsanwaltschaft S. die
Ermittlungen wegen des sexuellen Missbrauchs unter Hinweis auf § 78b StGB
wieder aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft lehnte die Wiederaufnahme ab, da
die Verjährungsvorschrift des § 78b StGB in Kraft getreten sei, als die angezeigte
Tat bereits verjährt gewesen sei.
6 Am 02.03.2006 fertigte die Klägerin einen Eigenbericht (Lebenslauf). Sie sei mit
fünf Jahren in der Gaststätte auf der Kegelbahn von einem Gast sexuell
missbraucht worden, welcher ihr eine Katze geschenkt habe und das als
Gegenleistung erwartet hätte. Sie hätte versucht, die Katze in der Badewanne zu
ertränken. Vermutlich sei das nicht das einzige Erlebnis dieser Art gewesen. Sie
hätte oft Bauchschmerzen gehabt und habe wieder angefangen, in das Bett
einzunässen. 1992 sei sie für ein halbes Jahr in eine psychotherapeutische Klinik
in S. gekommen. Dort sei der Missbrauch langsam ans Tageslicht gekommen,
aber wieder runtergedrückt worden. In dieser Zeit sei es auch zur Trennung des
damaligen Freundes gekommen.
7 Die Fachärztin für psychotherapeutische Medizin Dr. L. teilte mit, die Klägerin
befinde sich seit dem 19.12.2002 in ambulanter psychotherapeutischer
Behandlung mit den Diagnosen: Chronifizierte, komplexe posttraumatische
Belastungsstörung mit dissoziativen Krampfanfällen, dissoziativer Fugue,
Agoraphobie mit Panikstörung, rezidivierende depressive Störung, Asthma
bronchiale (ärztliche Bescheinigung vom 03.07.2006). Die psychische
Symptomatik sei auf eine schwere sexuelle Traumatisierung im Alter von fünf
Jahren und wiederholt Gewalterfahrungen seit früher Kindheit im familiären Umfeld
zurückzuführen.
8 Im Zeitraum 22.07.2008 bis zum 02.09.2008 befand sich die Klägerin in der Klinik
H. in der psychosomatischen Abteilung in Behandlung. In dem ärztlichen
Entlassbericht vom 12.09.2008 berichten die Ärzte u.a. folgendes (Biographische
Anamnese): Der Vater sei „Quartalssäufer“ gewesen. Als die Klägerin drei Jahre alt
gewesen sei, habe sich der Vater versucht das Leben zu nehmen. Die Klägerin
berichte, sie habe große Angst wegen des aufbrausenden Verhaltens des Vaters
in Konfliktsituationen gehabt. Die Mutter habe gemeint, sie sei hysterisch und sie
solle sich nicht so anstellen. Sie habe bis zum 18. Lebensjahr anhaltende
Flashbacks nach einer Vergewaltigung im fünften Lebensjahr gehabt. Weitere
belastende Lebensereignisse: Der zweite Freund sei Alkoholiker gewesen,
Trennung nach drei Jahren, danach Alpträume, Panikzustände und zunehmend
Ganzkörperschmerzen. Im Jahr 200 habe sich der Onkel das Leben genommen.
2004 sei der Großvater verstorben. Im Jahr 2004 sei die Klägerin von einer
Nachbarin tyrannisiert worden. Aus diesem Grund sei ein Umzug erfolgt.
9 Mit Bescheid vom 25.03.2009 stellte das Landratsamt B. einen Grad der
Behinderung (GdB) von 50 seit 17.09.2008 bei der Klägerin fest, da sie an einer
Persönlichkeitsstörung, funktionellen Organbeschwerden, Fibromyalgie-Syndrom,
Bronchialasthma, Allergie und chronischer Nebenhöhlenentzündung leide.
Grundlage der Entscheidung war ein nervenärztliches Gutachten vom 07.11.2006
der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie E.. In ihrem Gutachten teilt die
Gutachterin mit, es entstehe der Eindruck, die Klägerin wisse aufgrund ihrer
jahrelangen Psychotherapeuten-Erfahrung natürlich genau, welche Argumente sie
bei Untersuchungen vorbringen müsse.
2.
10 Am 13.11.2000 stellte die Klägerin erstmals beim Landratsamt (LRA) einen Antrag
auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Mit Bescheid vom
05.08.2002 lehnte das Versorgungsamt den Antrag ab, da ein tätlicher Angriff nicht
nachgewiesen sei.
11 Am 21.05.2010 stellte die Klägerin beim LRA erneut einen Antrag auf Gewährung
von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Das LRA lehnte auch diesen Antrag
ab (Bescheid vom 09.06.2011). Mit dem Antrag habe die Klägerin keine neuen
Gesichtspunkte oder rechtserheblichen Tatsachen vorgebracht, die nicht schon
bei Erteilung des inzwischen rechtsverbindlich geworden Bescheides vom
05.08.2002 bekannt gewesen seien.
3.
12 Am 13.06.2013 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt unter Hinweis auf §
15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung
(KOVVfG) erneut die Gewährung einer Versorgung. Danach könnten
Versorgungsleistungen beansprucht werden, auch wenn kein Tatzeuge
vorhanden sei. Sie gab an, als Kind im Degerloch zweimal sexuell missbraucht
worden zu sein. Ein Tierarzt habe sich auf der Kegelbahn zum Oralverkehr
gezwungen als Gegenleistung für ein geschenktes Kätzchen. Er habe gesagt,
wenn sie etwas sage, höre es die Katze und sage es ihm. Daher habe sie die
Katze vermutlich ertränken wollen. Ein zweiter Missbrauch sei in einer
Schrebergartensiedlung in der Nähe vom Elternhaus erfolgt. Sie sei von einem
Mann mit Hund angesprochen und gefragt worden, ob sie sehen möchte, wo sein
Hund schlafe. Sie sei mit ihm gegangen und wisse nur noch, in einem
Gartenhäuschen etwas getrunken zu haben und sich dann an nichts mehr
erinnern zu können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit seien KO-Tropfen darin
gewesen und sie sei betäubt worden. Vermutlich sei es zu einem Ritus
gekommen, denn sie habe immer Erinnerungen an drei schwarzen
Kapuzenmenschen. Sie habe weitere einschneidende Erlebnisse in ihrer Kindheit
erfahren. Die sexuellen Übergriffe seien jedoch die schlimmsten gewesen. Ihr
ganzer Alltag richte sich nach dem Trauma aus. In der Küche hätte sie keine
Messer/Scheren mit schwarzen Griffen. Sie könne an manchen Tagen nicht zum
Friseur, weil sie Panik vor der Schere habe. Sie könne nicht im Erdgeschoss
wohnen. Durch die orale Vergewaltigung sei eine elektronische Zahnbürste
stressfreier. Sie könne keine Bananen normal essen. Zahnarztbesuche seien
blanker Horror und hätten früher nicht selten mit einem dissoziativen Krampfanfall
geendet. Sie könne nicht arbeiten gehen und auch nicht alleine Bus oder S-Bahn
fahren.
13 Mit Bescheid vom 18.07.2013 lehnte das LRA den Antrag auf Erteilung eines
Rücknahmebescheids nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X)
ab. Der Antrag stütze sich auf dasselbe Vorbringen, welches bereits Gegenstand
der Entscheidung vom 05.08.2002 gewesen sei. Die Ausführungen zum § 15
KOVVfG führten zu keiner Änderung der Rechtsauffassung.
14 Dr. L.-K. teilte im Rahmen einer ärztlichen Bescheinigung vom 07.08.2013 ihre
aktuellen Diagnosen mit. Die Klägerin leide an einer komplexen posttraumatischen
Belastungsstörung mit dissoziativen Krampfanfällen, dissoziativer Fugue,
dissoziativen Lähmungen und Sensibilitätsstörungen von Extremitäten sowie
Sprachverlust und außerdem rezidivierend depressiven Störungen, somatoformen
Schmerzstörungen, Fibromyalgie-Syndrom, Asthma bronchiale, Lipödem und
Zustand nach Schub einer rheumatoiden Arthritis. Die zeitweise gestellte
Borderline-Diagnose habe bei Testung in der Borderline Spezialsprechstunde der
psychiatrischen Uniklinik Tübingen am 29.05.2015 nicht vollständig erhärtet
werden können. Im Vordergrund der Symptomatik stehe eine
Traumafolgenstörung, zurückzuführen auf Traumatisierungen in Kindheit und
Jugend und durch Vergewaltigung und weitere sexuelle Übergriffe,
Ungeborgenheit in der elterlichen Gastwirtschaft und Erleben von körperlichen
Gewalt.
15 Den gegen den Bescheid vom 18.07.2013 erhobenen Widerspruch wies der
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.11.2013 zurück.
16 Mit der 23.12.2013 zum Sozialgericht Karlsruhe erhobenen Klage verfolgt die
Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung trägt sie vor, sie sei nach dem
Maßstab des § 15 KOVVfG Opfer eines tätlichen Angriffs geworden. Ihre Angaben
würden durch Dr. L.-K. gestützt. Der Vortrag, ein Tierarzt habe sie zu Oralverkehr
gezwungen, sei glaubhaft, da sie sich detailliert daran erinnere. Der Versuch des
Ertränkens der Katze und die Wut auf das Tier ließen auf einen schlimmen Vorfall
schließen. Der zweite vorgetragene tägliche Angriff sei ebenfalls glaubhaft, da sich
die Klägerin genauer an den Ort des Geschehens erinnere.
17 Die Klägerin beantragt,
18 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 18.07.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 25.11.2015 zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem
Opferentschädigungsgesetz ab 13.11.2000 zu erbringen.
19 Der Beklagte beantragt,
20 die Klage abzuweisen.
21 Zur Begründung trägt er vor, § 15 KOVVfG ermögliche eine
Beweislasterleichterung, keine Beweislastumkehr. Der sexuelle Missbrauch durch
M. sei nicht nachgewiesen. Ein vernünftiger Zweifel an den Tatgeschehnissen, wie
vom Gesetz gefordert, könne somit nicht ausgeschlossen werden. Die
Zeugenbefragung von M. habe keine relevanten Gesichtspunkte ergeben, ebenso
wenig wie die Befragung der Eltern. Die Zeugenaussagen der Eltern hätten nur die
schwierigen Sozialisationsbedingungen der Klägerin im Umfeld einer Gaststätte
hervorgehoben, unter denen sie aufgewachsen sei.
22 Das Gericht hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich
angehört. Die Eltern der Klägerin sowie M. hörte das Gericht als Zeugen persönlich
an.
23 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Landratsamts sowie den
der Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
24 Die zulässige Klage ist unbegründet.
25 Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung. Der Beklagte hat
daher ihren hierauf gerichteten Überprüfungsantrag zu Recht abgelehnt. Der
Bescheid des Beklagten vom 18.07.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 25.11.2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin
nicht in ihren Rechten.
1.
26 Die Klägerin begehrt mit der hier statthaften kombinierten Anfechtungs- und
Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG die Aufhebung der ihren Antrag
ablehnenden Entscheidung sowie die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung
gesundheitlicher körperlicher und seelischer Schädigungen aufgrund eines
vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs (vgl. zur Unzulässigkeit einer
kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage auf isolierte Feststellung, Opfer
eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden zu sein, BSG, U.v.
16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - juris und LSG Baden-Württemberg, U.v. 27.8.2015 – L
6 VG 5227/14 – juris).
2.
27 Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht
unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der
sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht
erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt,
auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -SGB X).
28 Nach diesem Maßstab hat der Beklagte den Überprüfungsantrag der Klägerin in
rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgelehnt: Der Beklagte hat nämlich
weder das Recht unrichtig angewandt, noch ist er von einem unrichtigen
Sachverhalt ausgegangen.
29 Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines
vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere
Person und durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung
erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag
Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG). In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen
dem Inkrafttreten des GG (23.05.1949) und dem Inkrafttreten des OEG
(16.05.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß §
10 S. 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 S 1 OEG erfüllt sein (BSG, U.v. 17.4.2013 – B 9 V
1/12 R – BSGE 113, 205). Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in
der Zeit vom 23.05.1949 bis 15.05.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag
Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und
bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt haben.
30 Als tätlicher Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist grundsätzlich ein in
Feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper
eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die
Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten -
vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt.
Der tätliche Angriff zeichnet sich durch eine körperliche Gewaltanwendung
(Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen
anderen ein. In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 173
StGB versteht das Bundessozialgericht den Begriff des tätlichen Angriffs aus
Gründen sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung
von Sinn und Zweck des OEG weiter. Der sexuelle Missbrauch von Kindern, durch
den der Tatbestand des § 176 StGB erfüllt wird, indem der Täter sexuelle
Handlungen an einem Kind vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
ist stets ein Angriff nach § 1 OEG (ständige Rechtsprechung, vgl. BSGE 77, 11;
LSG Baden-Württemberg, U.v. 21.4.2015 - L 6 VG 2096/13 - juris).
31 Nach § 30 Abs. 16 BVG wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit
Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze
aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die
Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1
maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach §
1 Abs. 3 BVG maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der
Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und
das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln. Von dieser
Ermächtigung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Gebrauch
gemacht und die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1
und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) am
10.12.2008, in Kraft getreten am 01.01.2009, erlassen. Alle Einzelheiten werden in
der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV
geregelt. Danach wird als Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht jede
Gesundheitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang mit einer
Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist
(VG, Teil A, Nr. 1 a) und ist Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze die
Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer
besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat
(VG, Teil C, Nr. 1 b Satz 1).
3.
32 Grundsätzlich müssen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 OEG voll
bewiesen sein. Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen
Zusammenhangs geklärt („voll bewiesen“) sein müssen, gehören der schädigende
Vorgang, die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende
Gesundheitsstörung (VG, Teil C, Nr. 2 a). Der schädigende Vorgang ist das
Ereignis, das zu einer Gesundheitsschädigung führt (VG, Teil C, Nr. 2 b Satz 1
Halbsatz 1). Die gesundheitliche Schädigung ist die primäre Beeinträchtigung der
Gesundheit durch den schädigenden Vorgang (VG, Teil C, Nr. 2 c Halbsatz 1).
33 Ein solcher Nachweis eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs ist
vorliegend nicht erbracht. Unmittelbarer Zeuge des geschilderten sexuellen
Missbrauchs auf der Kegelbahn war nur der vermeintliche Täter selbst. Dieser hat
im Rahmen der Befragung jedoch den Vorfall bestritten. Zeugen für den
behaupteten zweiten sexuellen Übergriffs in einem Schrebergartenhäuschen
existieren nicht.
4.
34 Nach § 6 Abs. 3 OEG ist allerdings auch im Anwendungsbereich des OEG das
KOVVfG (mit Ausnahme der §§ 3 bis 5) anzuwenden, insbesondere auch die für
Kriegsopfer geschaffene spezielle Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Danach
sind die Angaben des Antragsstellers, die sich auf die mit der Schädigung im
Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht
vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers
oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde
zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
a.
35 Glaubhaftmachung im Sinne des § 15 KOVVfG bedeutet das Dartun
überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, der Vorgang hat
sich so zugetragen, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können
(LSG Baden-Württemberg, U.v. 21.4.2015 - L 6 VG 2096/13 - juris mit Hinweis auf
BSG, B.v. 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - juris; BSG, U.v. 21.9.1977 - 10 RV 15/77 -
juris).
36 Dieser Beweisstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie
bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, mehr für als gegen
die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus,
d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden
Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil
nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit
spricht; von mehreren ernstlichen in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten
muss den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen. Die bloße
Möglichkeit der Tatsache genügt jedoch nicht, die Beweisanforderungen zu
erfüllen. Ob das Gericht die Beweisanforderung als erfüllt ansieht, obliegt nach §
128 Abs. 1 Satz 1 SGG seiner freien richterlichen Beweiswürdigung (LSG Baden-
Württemberg, U.v. 21.4.2015 - L 6 VG 2096/13 - juris; BSG, U.v. 17.4.2013 - B 9 V
1/12 R - juris).
b.
37 Auch unter Anlegung diesen abgesenkten Beweismaßstabes hält es das
erkennende Gericht nicht für gut möglich, dass die persönlich angehörte Klägerin
in der Zeit von 1978 bis 1979 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe
geworden ist.
aa.
38 Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs durch M. hält die erkennende Kammer das
Tatgeschehen nach den Gesamtumständen, wie sie sich aus den Akten und dem
Vorbringen der Klägerin sowie der gehörten Zeugen ergeben, nicht für gut möglich.
39 Angesicht der detaillierten Schilderung des vermeintlichen sexuellen Missbrauchs
von M. durch die Klägerin seit Beginn des Verwaltungsverfahrens und im
gerichtlichen Verfahren ist es nicht nachvollziehbar, weshalb die Klägerin
angesichts ihrer vielfältigen stationären und ambulanten psychotherapeutischen
Gesprächen bzw. Behandlungen in der Zeit seit 1979 bis zu ihrer Erkenntnis im
Jahr 1994, sexuell missbraucht worden zu sein, niemals eine sexuelle oder
sonstige Gewalttätigkeit auch nur angedeutet hat.
40 Die ersten Schilderungen von Übergriffen erfolgten erst im Rahmen einer
mehrjährigen Psychotherapie und sind deshalb mit Vorsicht zu betrachten, weil die
Aussage der Klägerin damit erst zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem sie sich
wegen der streitgegenständlichen Gesundheitsstörungen bereits in Therapie
befand. Insoweit ist nicht auszuschließen, dass etwa im Zusammenhang mit den
therapeutischen Bemühungen Gedächtnisinhalte erzeugt oder verändert worden
sind (vgl. insoweit auch LSG Baden-Württemberg, U.v. 26.2.2015 - L 6 VG 1832/12
- juris). Die Klägerin führte erstmals im Alter von sechs bis sieben Jahren
psychotherapeutische Gespräche. Seit etwa dem elften Lebensjahr befindet sie
sich in psychotherapeutischer Behandlung. Die Klägerin hat im Rahmen der
Anzeigenerstattung im Jahre 1995 angegeben, erst mit zehn oder elf Jahren habe
sie die ersten Vermutungen gehegt und seit eineinhalb Jahren wisse sie sicher,
von M. sexuell missbraucht worden zu sein. Davor, nämlich nach dem
Klinikaufenthalt in S. mit ca. 17 Jahren, hat die Klägerin allerdings vermehrt Fragen
zu den Gästen an ihre Eltern gerichtet. Ob es sich demnach um ihre eigene
Erinnerung handelt ist für die Kammer fraglich. Darüber hinaus hat die Klägerin im
Verlauf ihres Lebens trotz der immer weiter zurückliegenden Ereignissen neue
Episoden, wie etwa den Vorfall im Schrebergartenhaus oder den Namen des
vermeintlichen Täters, geschildert. Nach ihrer eigenen Aussage, hat sich alles
nach und nach wie ein Puzzle zusammengesetzt. Als besonders problematisch
sind jedoch solch vermeintlich wiederentdeckte Aussagen u. a. dann zu
betrachten, wenn mit oder ohne therapeutische Unterstützung explizite
Bemühungen vorgenommen wurden, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu
erinnern, wenn Erinnerungen erst im Laufe wiederholter Erinnerungsbemühungen
entstanden sind, wenn im Laufe der Zeit immer mehr Erlebnisse berichtet werden
oder wenn die berichteten Erlebnisse bizarre und extreme Erfahrungen beinhalten
(SG Braunschweig, U.v. 10.12.2008 – S 38 VG 40/04 – juris, m.w.N.). Das Gericht
konnte sich daher nicht davon überzeugen, dass die Erinnerungen der Klägerin
nicht in den Therapien erzeugt oder verändert worden sind. Bereits im Rahmen der
nervenärztlichen Begutachtung 2006 beschreibt die Fachärztin für Neurologie und
Psychiatrie E., es entstehe der Eindruck, die Klägerin wisse aufgrund ihrer
jahrelangen Psychotherapeuten-Erfahrung genau, welche Argumente sie bei
Untersuchungen vorbringen müsse.
41 Auch die Aussagen der gehörten Zeugen konnten die erkennende Kammer nicht
von der guten Möglichkeit des Tatgeschehens überzeugen. Die Eltern der Klägerin
haben in ihren Aussagen die Erzählungen der Klägerin zwar im Wesentlichen
wiederholt. (Kleinere) Widersprüche oder Abweichungen zum Vortrag der Klägerin,
welche bei Schilderungen über Vorgänge nach mehreren Jahrzehnten zu erwarten
sind, liegen nicht vor. Aber auch weiterführende Aussagen konnten von den
Zeugen im Rahmen ihrer Befragungen nicht getroffen werden. Dies zeigt sich
insbesondere im Zusammenhang mit der von der Klägerin berichteten
geschenkten Katze des vermeintlichen Täters: Nach Aussagen der Klägerin habe
sie von M. als eine Art Gegenleistung eine Katze geschenkt bekommen. Die Eltern
der Klägerin erklärten zwar übereinstimmend, sie gehen davon aus, M. habe ihrer
Tochter die Katze geschenkt. Eine echte Erinnerung an die Schenkung hatten
beide jedoch nicht, was in Anbetracht der Jahre zurückliegenden Vorgänge
zunächst nicht ungewöhnlich ist. Allerdings konnte sich keiner von Beiden daran
erinnern, was mit der Katze - insbesondere nach dem von der Mutter der Klägerin
geschilderten Vorfällen in der Badewanne - geschehen ist. Zur Überzeugung der
Kammer konnten die Eltern folglich im Wesentlichen lediglich Erinnerungen,
welche sie über die Jahre wiederholt von der Klägerin erzählt bekommen haben,
wiedergeben.
42 Nach alledem ist die erkennende Kammer nicht zu der Auffassung gelangt, die von
der Klägerin geschilderte Vorfälle sind am relativ wahrscheinlichsten. Zwar ist die
Klägerin selbst von dem von ihr geschilderten Tatgeschehen auf der Kegelbahn
überzeugt. Die Klägerin hat allerdings im Laufe ihres Lebens eine Vielzahl von
Schicksalsschlägen erleiden müssen. Sie ist trotz heftiger Gegenwehr zeitweise
durch eine Pflegefamilie betreut worden. Die Ehe der Eltern ist von häufigen
Streitereien und Handgreiflichkeiten geprägt gewesen. Im Alter von ca. elf Jahren
trennten sich die Eltern und ließen sich zwei Jahre später scheiden. Als Kind hat
die Klägerin nach dem Entlassbericht der M.-Klinik aus dem Jahr 1998 immer das
Gefühl gehabt zu kurz zu kommen. Die ersten psychogenen Ohnmachtsanfälle
erfolgten nach der Scheidung der Eltern (so auch Entlassbericht der K.-Klinik vom
08.11.1996). Zudem fand die Klägerin den Nachbar im Alter von zwei Jahren tot im
Garten. 1976 unternahm der Vater der Klägerin einen Suizidversuch und wurde
von der damals Dreijährigen gefunden. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass
der geschilderte Missbrauch für die Klägerin lediglich eine Erklärung für die
Ursache ihrer gesundheitlichen (insbesondere psychischen) Leiden darstellt,
wenngleich deren Ursache möglicherweise auch auf die Vielzahl der genannten
Schicksalsschläge zurückzuführen ist.
43 Zur Überzeugung der erkennenden Kammer spricht daher nach der
Gesamtwürdigung aller Umstände nicht besonders viel für die von der Klägerin
behaupteten Vorgänge.
bb.
44 Selbst wenn eine psychische Gesundheitsstörung gesichert festgestellt werden
könnte, so kann diese nicht überwiegend wahrscheinlich auf die vorgetragenen
Schädigungen zurückgeführt werden. Insoweit ist nämlich zu betrachten, das bei
der Klägerin die oben dargestellte erhebliche familiäre Belastung besteht. Diese
könnte bei der Ausprägung der psychischen Erkrankung eine maßgebende Rolle
gespielt haben, was die Kammer letztlich aber dahingestellt lassen kann.
cc.
45 Hinsichtlich eines etwaigen Missbrauchs in einem Schrebergartenhaus ist § 15
KOVVfG bereits nicht anwendbar.
46 Die Beweiserleichterung erfordert jedoch zumindest, dass der Antragsteller
Angaben aus eigenem Wissen, jedenfalls aber überhaupt Angaben machen kann
(vgl. BSG, U.v. 28.6.2000 - B 9 VG 3/99 R - juris).
47 Nach § 15 KOVVfG lässt darf die Verwaltungsbehörde bzw. Gerichte der
Sozialgerichtsbarkeit Tatsachen, die lediglich glaubhaft oder überwiegend
wahrscheinlich sind, in seiner Entscheidung grundsätzlich nur dann zugrunde
legen, wenn zugleich der Antragsteller die strafrechtliche Verantwortung dafür
übernimmt, seine Angaben - zumindest subjektiv - entsprechen den Tatsachen
(a.a.O.). Die Klägerin hat angeben, sie könne sich nur teilweise an den Übergriff
erinnern. Sie wisse lediglich noch, sie sei mit einem Mann mit einem Hund
mitgegangen zu einem Schrebergartenhäuschen. Sie habe dort etwas getrunken.
Dann sei ein Blackout erfolgt und sie wisse nur noch, sie sei von ihren Eltern
gefunden worden und mit nach Hause genommen worden sei. Ein tätlicher Angriff
müsse vorgefallen sein, da sie Bilder aus ihrer Erinnerung male, die durch
jahrelange Therapien mittlerweile ans Licht gekommen seien. An einen
eigentlichen Übergriff kann sich die Klägern jedoch nicht erinnern. Auch die
angehörten Zeugen haben insoweit nichts zur Sachverhaltsaufklärung beitragen
können.
6.
48 Zu weiteren - über die Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen
hinausgehenden - medizinischen Ermittlungen besteht ebenfalls kein Anlass. Ein
Rückschluss von einer psychiatrischen Erkrankung auf die zugrundeliegende Tat
ist nicht möglich, sondern zirkelschlüssig (vgl. (Bay. LSG, U.v. 30.4.2015 – L 15 VG
24/09 – juris, m.w.N.). Auch geben die psychischen Probleme der Klägerin nicht
einmal einen (brauchbaren) Hinweis auf die Möglichkeit der Faktizität des geltend
gemachten Geschehens.
49 Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachten von Amts wegen war nicht
erforderlich. Die Kammer konnte nach Anhörung der Klägerin entscheiden. Denn
die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder
jugendlicher Personen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist
daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Eine aussagepsychologische
Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt nur in besonderen
Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die
Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt (LSG Baden-Württemberg, U.v. 21.4.2015 - L
6 VG 2096/13 - juris, m.w.N.). Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens ist
nur geboten, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche
Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter
normalerweise nicht hat (vgl. LSG Baden-Württemberg, a.a.O., m.w.N.). Das ist
vorliegend nicht der Fall. Weder weist die Aussageperson solche Besonderheiten
auf, noch ist der Sachverhalt besonders gelagert, sondern im OEG eine durchaus
typische Fallgestaltung. Der Beitrag von aussagepsychologischen
Glaubhaftigkeitsgutachten zur Aufklärung ist gerade in Fällen zweifelhaft, in denen
in der Vergangenheit mit therapeutischer Unterstützung explizit Bemühungen
unternommen worden sind, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu erinnern oder
in denen die Erinnerungen erst im Laufe wiederholter Erinnerungsbemühungen
entstanden sind. Zu berücksichtigen ist, auch Personen, die einer
Gedächtnistäuschung unterliegen, können von der Richtigkeit ihrer Erinnerung
überzeugt sein (vgl. LSG Baden-Württemberg, a.a.O.). Dies ist bei der Klägerin zur
Überzeugung der Kammer auch aufgrund des persönlichen Eindrucks der Fall.
50 Nach alledem ist der Nachweis für das Vorliegen eines Angriffs im Sinn des § 1
Abs. 1 Satz 1 OEG, nicht erbracht. Auf die gesundheitlichen Verhältnisse der
Klägerin kommt es somit ebenso wie auf Kausalitätsfragen nicht an. Gleiches gilt
für die Frage, ob ein Versagungsgrund gemäß § 2 Abs. 2 OEG gegeben ist.
51 Nach alledem war die Klage abzuweisen.
7.
52 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.