Urteil des SozG Karlsruhe vom 11.08.2016

entziehung, datum, rücknahme, behinderung

SG Karlsruhe Urteil vom 11.8.2016, S 3 SB 2328/15
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren; Schwerbehindertenrecht; Entziehung von
Merkzeichen
Leitsätze
Möchte die Versorgungsverwaltung ein Merkzeichen entziehen, muss sie die Entziehung zu einem bestimmten
Zeitpunkt ausdrücklich aussprechen und den betroffenen Bescheid hinreichend genau bezeichnen. Allein die
Feststellung, die Voraussetzungen des Merkzeichens lägen nicht mehr vor, genügt den Anforderungen des § 48
Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht.
Tenor
Der Bescheid vom 10. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist der Entzug des Merkzeichens „G“ streitig.
2 Bei der 1939 geborenen Klägerin wurde - in Ausführung einer Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe
vom 19. November 1998 (S 10 SB 3446/96) - mit Bescheid 8. Januar 1999 ein GdB von 80 anerkannt. Mit
gesondertem Bescheid vom 24. März 1999 stellte der Beklagte das gesundheitliche Merkmal „G“ fest.
3 Am 15. Juli 2014 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Feststellung eines höheren GdB und des
Merkzeichens „B“. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen und deren versorgungsärztlicher Verwertung
erließ der Beklagte nach Anhörung der Klägerin den Bescheid vom 10. April 2015. Hierin hob er den
Bescheid vom 8. Januar 1999 auf und stellte fest, der GdB betrage weiterhin 80, die Voraussetzungen für
die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals „G“ lägen nicht mehr vor und das geltend gemachte
gesundheitliche Merkmal „B“ könne nicht festgestellt werden. Den Widerspruch vom 17. April 2015 wies der
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 2015 zurück. Die Lungenerkrankung, die zur Gewährung des
Merkzeichens G mit Bescheid vom 24. März 1999 geführt habe, habe sich soweit gebessert, dass sie allein
keinen GdB von 50 mehr ergebe. Die orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen begründeten das
Merkzeichen nicht.
4 Mit ihrer am 24. Juli 2015 erhobenen Klage trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, sie sei wegen einer
Kniegelenksarthrose mit Deformität der Beine in der Gehfähigkeit eingeschränkt und auf einen Rollator
angewiesen.
5 Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid vom 10. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 aufzuheben.
7 Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
9 Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtsfehlerfrei.
10 Dem Gericht haben die Unterlagen des Beklagten vorgelegen. Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes
wird auf deren Inhalt sowie auf die Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
11 Die - nicht ausdrücklich auf die Entziehung des Merkzeichens „G“ beschränkte - Anfechtungsklage ist
zulässig und in vollem Umfang begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die
Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid vom 8. Januar 1999 aufzuheben
(s. 1.). Soweit die angefochtenen Bescheid dahingehend verstanden werden können, dass auch das mit
Bescheid vom 24. März 1999 zuerkannte Merkzeichen „G“ entzogen wurde, ist die behördliche
Entscheidung jedenfalls formell rechtswidrig (s. 2).
12 1. Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 8. Januar 1999 ist § 48 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB X).
13 a) Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft
aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des
Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Dabei gelten die allgemeinen
Verfahrens- und Beweislastregeln wie für die Erstfeststellung (vgl. BSG SozR 5870 § 2 Nr. 44).
14 b) Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen nicht vor. Eine wesentliche Änderung in den der Bewilligung
vom 8. Januar 1999 zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten. Denn der Beklagte
bewertet die Gesundheitsstörungen der Klägerin weiterhin mit einem Gesamt-GdB von 80. Die dem
gleichbleibenden Gesamt-GdB zugrundeliegenden einzelnen Teil-GdB haben sich zwar geändert. Dies
berechtigt den Beklagten aber nicht zu einer Aufhebung des Bescheides vom 8. Januar 1999. Denn dieser
Bescheid stellte nicht die einzelnen Teil-GdB oder gar die diesen zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen
fest, sondern nur den Gesamt-GdB. Das Schwerbehindertenrecht kennt nur einen Gesamtzustand der
Behinderung. Dieser kann auf den Auswirkungen mehrerer zugleich vorliegender
Funktionsbeeinträchtigungen beruhen. Ein GdB wird nur für den Gesamtzustand der Behinderung
festgestellt, nicht für einzelne Funktionsbeeinträchtigungen. Soweit die Versorgungsverwaltung hierfür nach
den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (nunmehr Verordnung zur Durchführung des § 1
Absätze 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetzes - Versorgungsmedizin-
Verordnung - vom 10. Dezember 2008) einzelne Grade der Behinderung anzugeben hat, handelt es sich
lediglich um Bewertungsfaktoren für die Einschätzung des (Gesamt-)GdB (vgl. Bundessozialgericht, Urteil
vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 -, juris Rn. 15).
15 Das Gericht geht auch nicht von einer versehentlichen Aufhebung des Bescheides vom 8. Januar 1999 oder
einer Falschbezeichnung anstelle des Bescheides vom 24. März 1999 aus. Bereits in der Anhörung der
Klägerin hat der Beklagte nur den Bescheid vom 8. Januar 1999 genannt. Im Widerspruchsbescheid oder im
Klageverfahren hat er ebenfalls nichts zu einer versehentlichen Aufhebung ausgeführt. Eine
Falschbezeichnung wäre auch nicht unbeachtlich, weil der Beklagte gehalten ist, den Bescheid eindeutig zu
formulieren. Andernfalls ist die Klägerin berechtigt, den zu Ihren Ungunsten missverständlichen Bescheid
beseitigen zu lassen.
16 2. Die Voraussetzungen des § 48 SGB X für eine Aufhebung des Bescheides vom 24. März 1999 liegen
ebenfalls nicht vor.
17 a) Es ist bereits fraglich, ob den angefochtenen Bescheiden hinreichend deutlich entnommen werden kann,
dass der Bescheid vom 24. März 1999 aufgehoben werden soll. Ein Bescheid mit diesem Datum wird
lediglich in der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 erwähnt. („Mit Bescheid vom
24.03.1999 wurde Ihnen das Merkzeichen G wegen der Lungenerkrankung zugesprochen.“). Weder im
Zusammenhang mit diesem Bescheid noch im Zusammenhang mit dem Merkzeichen „G“ wird in den
angefochtenen Bescheiden eine Aufhebung oder Rücknahme verfügt. Die Verfügung einer Aufhebung
bezieht sich allein auf den Bescheid vom 8. Januar 1999. Es wird mehrfach lediglich festgestellt, dass die
Voraussetzungen für das Merkzeichen nicht mehr vorliegen. Ein Wille des Beklagten, den Bescheid vom 24.
März 1999 oder die Zuerkennung des Merkzeichens aufzuheben, kommt damit nicht hinreichend deutlich
zum Ausdruck. Insbesondere kann nicht allein aus dem Umstand, dass der Beklagte die Voraussetzungen
des Merkzeichens für nicht mehr gegeben hält, auf die Aufhebung oder Rücknahme des bewilligenden
Bescheides schließen. Denn diese ist nicht allein von der Änderung der tatsächlichen Verhältnisse abhängig,
sondern auch von der Erfüllung weiterer Voraussetzungen wie etwa die Einhaltung der Fristen nach § 48
Abs. 4 SGB X. Damit sind durchaus Fälle denkbar, dass trotz wesentlicher Änderung eine Aufhebung nicht
möglich ist. Nach Auffassung der Kammer hebt damit der Bescheid vom 10. April 2015 den Bescheid vom 24.
März 1999 bereits gar nicht auf, so dass dieser weiterhin gilt.
18 b) Sind die angegriffenen Bescheide als Aufhebung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X auszulegen, sind
sie jedenfalls rechtswidrig. Die Aufhebung bzw. Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes muss
ausdrücklich und unmissverständlich erfolgen, es muss eine für den Empfänger klare Regelung getroffen
werden. Dies dient einer Klarstellungs- und Warnfunktion des Adressaten, dem dadurch deutlich gemacht
werden soll, dass in seine Rechte eingegriffen wird (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 17.
Dezember 2015 - L 6 SB 4878/13 -, juris Rn. 28). Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gebieten prinzipiell, in
der Aufhebungsentscheidung den Verwaltungsakt genau zu benennen, der aufgehoben werden soll, und
auch eindeutig zu sagen, in welchem Umfang er aufgehoben wird (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16.
März 2010 - B 2 U 2/09 R -, juris Rn. 22). Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Bescheide nicht,
da sie weder den Bescheid vom 24. März 1999 erwähnen noch überhaupt eine Aufhebung des Merkzeichens
„G“ verfügen. Soweit das BSG im zitierten Rechtsstreit, in dem eine als vorläufige Entschädigung gewährte
Rente ab einem bestimmten Datum „entzogen“ wurde, eine Aufhebung aus den Umständen des Einzelfalls
für noch hinreichend erkennbar erachtet hat, liegt der Sachverhalt im Fall der Klägerin entscheidend anders.
Denn vorliegend fehlt es nicht nur an der genauen Bezeichnung des aufzuhebenden Bescheides, sondern
bereits am Ausspruch der Entziehung, der - wie oben dargelegt - nicht konkludent daraus geschlossen
werden, dass der Beklagte in den Bescheiden mitgeteilt hat, die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“
lägen nicht mehr vor. Überdies wäre eine solche konkludente Aufhebung auch unvollständig, weil kein
Datum genannt ist, ab dem das Merkzeichen nicht mehr gelten soll.
19 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.