Urteil des SozG Karlsruhe vom 29.07.2015

arbeitsentgelt, versicherungspflicht, sicherheit, nachforderung

SG Karlsruhe Urteil vom 29.7.2015, S 17 R 440/14
Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen unter Berücksichtigung der
für den Versicherten maßgeblichen Jahresarbeitsentgeltgrenze
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen
für den Zeitraum vom 01.11.2008 bis 31.12.2011 im Streit.
2 Die Klägerin schloss am 10.09.2008 mit dem Beigeladenen zu 1 ein
Anstellungsverhältnis mit Beginn zum 01.11.2008. Demnach erhält der
Beigeladene zu 1. eine einmalige Anpassungsprämie in Höhe von 750,- EUR (§ 4
des Arbeitsvertrages [ArbV]). Die Vergütung betrug nach § 5 ArbV 3.664,29 EUR
im Monat. In § 5 ArbV heißt es weiter: „Des weiteren kann über ein jährlich
abzuschließende Zielvereinbarung eine Zielprämie von 3.646,08 EUR hinzu
verdient werden“. Nach § 6 ArbV erhält der Arbeitnehmer einen
Arbeitgeberzuschuss zu den vermögenswirksamen Leistungen in Höhe von 26,59
EUR monatlich. § 10 ArbV lautet: „Für Geschäftsreisen hat der Arbeitnehmer
Anspruch auf Erstattung der Reisekosten nach den jeweils gültigen betrieblichen
bzw. steuerrechtlichen Richtlinien. Übernachtungskosten werden nach Aufwand
vergütet. Sonstige Zusatzkosten auf Geschäftsreisen werden gegen Beleg
erstattet. Zum Nachweis der gefahrenen Kilometer sowie zur Abrechnung der
Tagesspesen sind die Abrechnungsformulare des Arbeitgebers zu verwenden“.
3 Mit Bescheid vom 03.06.2013 stellte die Beklagte nach einer Betriebsprüfung für
den Prüfungszeitraum 01.01.2008 bis 31.08.2012 eine Nachforderung von
insgesamt 24.159,97 EURo fest. Im Rahmen der Betriebsprüfung sei die
Versicherungspflicht bzw. Versicherungsfreiheit des Beigeladene zu 1. in der
gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu beurteilen gewesen. Am
01.11.2008 sei das Beschäftigungsverhältnis des Beigeladenen zu 1. im Rahmen
eines Betriebsübergangs gem. § 613 BGB auf die Klägerin übergegangen.
Aufgrund des Arbeitgeberwechsels sei zu diesem Zeitpunkt eine neue Beurteilung
der Krankenversicherungspflicht vorzunehmen gewesen. Bereits zum Zeitpunkt
der Aufnahme des Beschäftigungsverhältnisses unterschreite das zu erwartende
regelmäßige Arbeitsentgelt nebst Sonderzahlungen die
Jahresarbeitsentgeltgrenze (JAEG). Für den Zeitraum vom 01.11.2008 bis
31.12.2011 seien daher Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung
nachzuerheben.
4 Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 21.06.2013 wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 03.06.2013 als unbegründet zurück.
5 Mit der hiergegen am 07.02.2014 zum Sozialgericht Karlsruhe erhobenen Klage
verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung trägt sie im
Wesentlichen vor, bereits in der Zeit vom 08.11.2010 bis 11.11.2010 habe die
Beklagte eine Betriebsprüfung bei der Klägerin durchgeführt. Diese Prüfung habe
den Zeitraum 01.12.2005 bis 31.12.2009 umfasst. Insoweit berufe sie sich auf
Vertrauensschutz. Zudem werde die JAEG überschritten: Die vereinbarte
Zielvorgabe sei ebenso zu berücksichtigen wie der jährliche Reisekostenzuschuss
in Höhe von 1.800,00 EURo.
6 Die Kläger beantragt,
7
den Bescheid der Beklagten vom 03.06.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07.01.2014 aufzuheben.
8 Die Beklagte beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10 Vertrauensschutz liege nicht vor. Anlässlich der vorangegangenen
Betriebsprüfung sei beanstandet worden, mehrere geringfügige Beschäftigte
hätten die Geringfügigkeitsgrenzen überschritten und unterlägen daher der
Versicherungsfrist. Beanstandungen hinsichtlich des nun betroffenen
Beigeladenen zu 1. hätten sich nicht ergeben. Da das Dienstverhältnis bei der
Klägerin am 01.11.2008 begonnen habe, sei ab diesem Zeitpunkt die
Krankenversicherungspflicht des Beigeladenen zu 1. zu prüfen gewesen. Das
regelmäßige Jahresarbeitsentgelt aus der zu beurteilenden Beschäftigung
übersteige die maßgebliche JAEG nicht. Die jährlich geschlossenen
Zielvereinbarungen seien dabei ebenso wenig mit heranzuziehen gewesen wie die
gezahlten Reisekosten.
11 Die Beigeladene zu 4. hat sich mit Schreiben vom 21.04.2015, die Beklagte sowie
die Beigeladenen zu 2. und 3. haben sich mit Schreiben vom 29.04.2015 und der
Beigeladene zu 1. hat sich mit Schreiben vom 08.05.2015 mit einer Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
12 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die dem
Gericht vorliegende Akte der Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
13 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht die
Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 1. in der gesetzlichen Kranken- und
Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.01.2008 bis 31.12.2011 festgestellt. Die
Kammer konnte hierüber aufgrund des zuvor von den Beteiligten jeweils erklärten
Einverständnisses ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) entscheiden.
1.
14 Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in der hier
anzuwendenden, ab 01.04.2007 geltenden Fassung, sind versicherungsfrei,
Arbeiter und Angestellte, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die JAEG nach
den Abs. 6 oder 7 übersteigt und in drei aufeinanderfolgenden Kalenderjahren
überstiegen hat; dies gilt nicht für Seeleute; Zuschläge, die mit Rücksicht auf den
Familienstand gezahlt werden, bleiben unberücksichtigt. Nach § 6 Abs. 9 Satz 1
SGB V a.F. bleiben Arbeiter und Angestellte, die nicht die Voraussetzungen nach
Abs. 1 Nr. 1 erfüllen und die am 02.02.2007 wegen Überschreitens der JAEG bei
einem privaten Krankenversicherungsunternehmen in einer substitutiven
Krankenversicherung versichert waren oder die vor diesem Tag die Mitgliedschaft
bei ihrer Krankenkassen gekündigt hatten, um in ein privates
Krankenversicherungsunternehmen zu wechseln, solange sie keinen anderen
Tatbestand der Versicherungspflicht erfüllen. Die JAEG nach Abs. 1 Nr. 1 beträgt
im Jahr 2003 45.900,-- EUR (§ 6 Abs. 6 Satz 1 SGB V a. F.). Sie ändert sich zum 1.
Januar eines jeden Jahres in dem Verhältnis, in dem die Bruttolöhne und Gehälter
je Arbeitnehmer (§ 68 Abs. 2 Satz 1 des Sechsten Buches) im vergangenen
Kalenderjahr zu den entsprechenden Bruttolöhnen und Gehältern im
vorvergangenen Kalenderjahr stehen. Die veränderten Beiträge werden nur für das
Kalenderjahr, für das die JAEG bestimmt wird, auf das nächsthöhere Vielfache von
450 aufgerundet (§ 6 Abs. 6 Sätze 2 und 3 SGB V a. F.). Nach § 6 Abs. 6 Satz 4
SGB V a. F. setzt die Bundesregierung die JAEG in der Rechtsverordnung nach §
160 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) fest.
2.
15 Unabhängig davon, ob das Entgelt des Beigeladenen zu 1. in den Jahren 2005 bis
2007 die jeweilige JAEG überstieg, übersteigt das zu erwartende Entgelt die JAEG
für das Jahr 2008 nach vorausschauenden Betrachtung nicht.
a.
16 Der Begriff des Arbeitsentgelts ist legal definiert in § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Zu
berücksichtigen sind danach alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer
Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht,
unter welcher Bezeichnung sie geleistet werden, ob sie unmittelbar aus der
Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Für die Feststellung
der Versicherungspflicht gilt im Übrigen das Entstehungsprinzip und nicht das
Zuflussprinzip. Ob ein bestimmter Arbeitnehmer in seiner Beschäftigung der
Versicherung unterliegt, soll bereits bei Aufnahme der Beschäftigung und auch
danach zu jeder Zeit mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können
(Felix, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 2. Auflage 2012, § 6 SGB V, Rn. 15). §
6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V stellt auf das regelmäßige Jahresarbeitsentgelt ab. Es
handelt sich hierbei um diejenigen Einnahmen aus einer Beschäftigung, auf die der
Betroffene einen Anspruch hat und die ihm mit hinreichender Sicherheit zufließen
werden (Felix, a.a.O., Rn. 16).
b.
17 Im Jahr 2008 betrug die JAEG 48.150,-- EUR.
c.
18 Wann das regelmäßig Arbeitsentgelt das JAEG übersteigt, beurteilt sich nicht
danach, ob am 31.12. des Jahres tatsächlich ein Arbeitsentgelt jenseits der
maßgeblichen Grenze gezogen bzw. beansprucht wurde. Entscheidend ist
vielmehr, ob die aktuelle Entlohnung - hochgerechnet auf einen Zeitraum von 12
Monaten - die maßgebliche Grenze überschreitet (LSG Baden-Württemberg, U.v.
13.8.2010 - L 4 R 3332/08 - juris; Felix, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 6
SGB V, Rn. 18). Letztlich wird also für das Jahr ein monatlicher Durchschnitt
ermittelt (Felix, a.a.O.).
19 Maßgeblich ist das Bruttoarbeitsentgelt zuzüglich des Arbeitgeberanteils an den
vermögenswirksamen Leistungen (Just, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 6 Rn. 6).
20 Demnach beträgt das regelmäßig monatliche Arbeitsentgelt des Beigeladenen zu
1. im November 2008 insgesamt 3.690,88 EUR (3.664,29 EUR Arbeitsentgelt
zuzüglich 26,59 EUR Arbeitgeberzuschuss zu den vermögenswirksamen
Leistungen). Hochgerechnet auf zwölf Monate ergibt dies einen Betrag in Höhe
von 44.290,56 EUR.
d.
21 Entgegen der Auffassung der Klägerin sind Zielprämien nicht zu berücksichtigen.
Zunächst sind Prämien nicht allein aufgrund des tatsächlichen Zuflusses zu
berücksichtigen, da das Entstehungsprinzip gilt (s.o.). Des Weiteren hatte der
Kläger zum Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrages weder einen
Anspruch auf eine Zielprämie, noch war der tatsächliche Zufluss einer Zielprämie
mit hinreichender Sicherheit gewährleistet. Der Erhalt einer Prämie hängt hier zum
einen davon ab, ob die Beteiligten eine Zielvereinbarung vereinbaren und zum
anderen ob die Vorgabe tatsächlich erreicht wird. Ein Anspruch auf eine Zielprämie
besteht nach dem Arbeitsvertrag jedenfalls nicht. Das macht bereits der Wortlaut
der Vereinbarung deutlich. Es „kann“ eine Zielprämie hinzuverdient werden.
22 Auch kann nicht auf die vor dem 01.11.2008 erzielten Einkünfte und Provisionen
des Beigeladenen zu 1. beim vorherigen Arbeitgeber abgestellt werden. Bei einem
Unternehmenswechsel ist stets auf das jeweilige konkrete Unternehmen
abzustellen, bei dem der jeweilige Arbeitnehmer aktuell beschäftigt ist, da die
Konditionen und Umstände beim ehemaligen Arbeitgeber naturgemäß immer
andere waren (vgl. SG Düsseldorf, U.v. 31.05.2011 - S 52 R 1683/10 - juris).
23 Folglich ergibt sich aufs Jahr gerechnet ein regelmäßiges Arbeitsentgelt in Höhe
von 44.290,56 EUR. Selbst unter Hinzurechnung der Anpassungsprämie in Höhe
von 750,-- EUR gemäß § 4 des Arbeitsvertrages bleibt der Gesamtbetrag hinter der
JAEG zurück.
e.
24 Reisekostenzuschüsse sind ebenfalls nicht zu berücksichtigen.
25 Zwar besteht nach § 10 des Arbeitsvertrages ein Anspruch auf Erstattung der
Reisekosten nach dem jeweils gültigen betrieblichen bzw. steuerrechtlichen
Richtlinien. Übernachtungskosten würden nach Aufwand vergütet. Sonstige
Zusatzkosten auf Geschäftsreisen gegen Beleg erstattet.
26 Allerdings handelt es sich bei der gezahlten Fahrtkostenerstattung nicht um
Bezüge, die mit hinreichender Sicherheit erwartet werden können. Sie werden nur
bei tatsächlichem Anfall geleistet. Folglich handelt es sich bei den
Reisekostenzuschüssen nicht um Arbeitsentgelt i.S.d. § 14 SGB IV. Nur
Aufwandspauschalen (z.B. pauschalierte Reisekosten für Fahrten mit dem Kfz des
Arbeitnehmers), die nicht nach einem individuellen festgestellten Bedarf bemessen
sind und nicht anhand von Einzelbelegen des Arbeitnehmers tatsächlich
nachvollzogen werden können, sind Arbeitsentgelt (Werner, in: Schlegel/Voelzke,
jurisPK-SGB IV, 2. Aufl. 2011, § 14 SGB IV, Rn. 59). Vorliegend sind nach dem
Arbeitsvertrag jedoch keine Pauschalen vereinbart. Vielmehr sind zum Nachweis
der gefahrenen Kilometer die Abrechnungsformulare der Klägerin zu verwenden.
3.
27 Der Klägerin steht auch kein Vertrauensschutz zur Seite.
28 Die Prüfbehörden sind bei Arbeitgeberprüfungen nach § 28 p SGB IV selbst in
kleinen Betrieben zu einer vollständigen Überprüfung der versicherungsrechtlichen
Verhältnisse aller Versicherten nicht verpflichtet. Betriebsprüfungen haben
unmittelbar im Interesse der Versicherungsträger und unmittelbar im Interesse der
Versicherten den Zweck, die Beitragsentrichtung zu all den einzelnen Zweigen der
Sozialversicherung zu sichern. Sie sollen einerseits Beitragsausfälle zu verhindern
helfen, andererseits die Versicherungsträger in der Rentenversicherung davor
bewahren, dass aus der Annahme von Beiträgen für nicht versicherungspflichtige
Personen Leistungsansprüche entstehen. Eine über diese Kontrollfunktion
hinausgehende Bedeutung kommt den Betriebsprüfungen nicht zu. Sie
bezwecken insbesondere nicht, den Arbeitgeber als Beitragsschuldner zu
schützen oder ihm „Entlastung“ zu erteilen. Auch den Prüfberichten und
Bescheiden kommt keine andere Bedeutung zu (vgl. BSG, U.v. 14.7.2004 - B 12
KR 1/04 R - juris).
29 Die Beklagte hatte bereits in der Zeit vom 08.11.2010 bis 11.11.2010 eine
Betriebsprüfung über den Betriebszeitraum 01.12.2005 bis 31.12.2009
durchgeführt und eine Nachforderung in Höhe von 1.275,20 EUR geltend gemacht
(Bescheid vom 01.12.2010). In der Betriebsprüfung wird beanstandet, mehrere
geringfügige Beschäftigte hätten die Geringfügigkeitsgrenzen überschritten und
unterlägen daher der Versicherungspflicht. Beanstandungen hinsichtlich des nun
betroffenen Beigeladenen zu 1. haben sich jedoch nicht ergeben. Aus dem
Beitragsbescheid vom 01.12.2010 geht insbesondere eine Überprüfung der
Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 1. in der Kranken- und
Pflegeversicherung nicht hervor.
4.
30 Auch die Bestandsschutzregel des § 6 Abs. 9 SGB V a.F. kommt der Klägerin nicht
zugute.
31 Der Beigeladene zu 1. war am 02.02.2007 nicht „wegen Überschreitens der JAEG“
versicherungsfrei und blieb darauf in der PKV versichert. Auch insoweit sind
Prämien nicht zu berücksichtigen gewesen.
5.
32 Der Beklagte ist daher zu Recht von der Versicherungspflicht ab 01.11.2008 und
der damit ab diesem Zeitpunkt verbundenen Beitragspflicht ausgegangen.
6.
33 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG und § 154 VwGO. Den
Beigeladenen sind keine Kosten aufzuerlegen, da sie keine Anträge gestellt haben
(§ 154 Abs. 3 VwGO).