Urteil des SozG Karlsruhe vom 13.01.2016

freizügigkeit der arbeitnehmer, brd, hauptsache, eugh

SG Karlsruhe Beschluß vom 13.1.2016, S 17 AS 4258/15 ER
Einstweiliger Rechtsschutz - Grundsicherung für Arbeitssuchende -
Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitssuche -
Unionsbürger - Anwendung auch bei Nichtvorliegen eines materiellen
Aufenthaltsrechts - kein Anspruch gegen Sozialhilfeträger.
Tenor
I. Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
1 Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die
Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
2 Der 1995 geborene Antragsteller ist lettischer Staatsangehöriger. Am 24.09.2015
schloss er einen Arbeitsvertrag mit der Zeitarbeitsgesellschaft L-GmbH über eine
Beschäftigung als Hilfsarbeiter bei der S-GmbH & Co.KG in der Niederlassung
Thüringen. Das Arbeitsverhältnis endete am 14.10.2015 durch Kündigung des
Antragstellers (Kündigungsschreiben vom 13.10.2015).
3 Der Antragsteller beantragte am 17.12.2015 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts bei dem Antragsgegner.
4 Mit Bescheid vom 17.12.2015 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Der
Antragsteller habe keinen Anspruch auf Leistungen, da er ein Aufenthaltsrecht in
der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitssuche habe.
5 Am 23.12.2015 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Karlsruhe die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung trägt er vor, er sei
dringend auf Leistungen angewiesen, da ihm keine finanziellen Mittel zur
Verfügung stünden. Er legte seinem Antrag einen Auszug des
Praktikumsvertrages mit der B. für die Zeit vom 11.01.2016 bis 31.01.2016 sowie
ein Schreiben seines Rechtsanwaltes an den Antragsgegner bei, mit welcher der
Rechtsanwalt mitteilte, die Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis mit der L-GmbH
sei nicht wirksam bzw. auf unlauterem Wege entstanden (Schreiben vom
11.12.2015).
6 Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
7 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher
Höhe zu bewilligen.
8 Der Antragsgegner beantragt,
9 den Antrag abzulehnen.
10 Zur Begründung wiederholt und vertieft er die im Ablehnungsbescheid vom
17.12.2015 angeführte Begründung.
11 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakte des
Antragsgegners sowie den der Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
12 Der Antrag ist zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).
1.
13 Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist als ein solcher auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) statthaft, da in der - noch zu erhebenden - Hauptsache eine kombinierte
Anfechtungs- und Leistungssache gem. § 54 Abs. 4 SGG vorliegt (vgl. Keller, in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn. 24).
14 Soweit der Antragsteller (bislang) keinen Widerspruch gegen den
Ablehnungsbescheid vom 17.12.2015 erhoben hat, steht dies der Zulässigkeit des
Antrags nicht entgegen. Der Ablehnungsbescheid vom 17.12.2015 ist zum
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht bestandskräftig (vgl. Keller, in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b, Rn. 26d).
2.
15 Der Antrag ist unbegründet. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch
glaubhaft gemacht. Nach der gebotenen summarischen Prüfung hat er keinen
Anspruch auf Leistungen gegen den Antragsgegner, da er nach § 7 Abs. 1 Satz 2
Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschossen ist (dazu a.). Darüber hinaus hat er
auch keinen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger, da er nicht glaubhaft gemacht
hat, Leistungsberechtigt nach § 19 SGB XII zu sein (dazu b.).
16 Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine
einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, durch eine Veränderung
des bestehenden Zustandes könnte die Verwirklichung eines Rechts des
Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden. Einstweilige
Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein
Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).
Dies ist der Fall, wenn es dem Antragsteller nach einer Interessenabwägung unter
Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die
Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller, in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b, Rn. 28). Die Erfolgsaussicht
des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der
erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen
(§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei
begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich
die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer
summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren
(BVerfG, B.v. 2.5.2005 - 1 BvR 569/05 - BVerfGE 5, 237, 242). Allerdings sind die
an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu
stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung
vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit
Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG, 25.7.1996 - 1 BvR
638/96 - NJW 1997, 479). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in
Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden
Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des
grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz u.U. nicht nur
summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders
folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter
Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen.
Dabei ist das Rechtsschutzbedürfnis als prozessuale Voraussetzung in jeder Lage
des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. LSG Baden-Württemberg, B.v.
29.6.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B – juris, Rn. 26 m.w.N.).
a.
17 Der Antragsteller hat nach summarischer Prüfung - unabhängig vom Vorliegen der
Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II - wegen des
Leistungsausschlusses für arbeitssuchende Unionsbürger aus § 7 Abs. 1 Satz 2
Nr. 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.
18 Ausgenommen von der Leistungsberechtigung sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland
Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3
des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für
die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr. 1), Ausländerinnen und Ausländer,
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre
Familienangehörigen (Nr. 2) und Leistungsberechtigte nach § 1 des AsylbLG (Nr.
3).
aa.
19 Der 1995 geborene Antragsteller, der lettischer Staatsangehöriger ist, ist nach § 7
Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Er hält
sich nach den der Kammer vorliegenden Unterlagen mindestens seit 24.09.2015
(Datum des Arbeitsvertrages bei der L-GmbH) in der Bundesrepublik Deutschland
(BRD) auf. Mangels gegenteiliger Angaben - der Antragsteller hat sich trotz
Aufforderung des Gerichts hierzu nicht geäußert - geht das Gericht davon aus, der
Antragsteller hielt sich zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Sozialgericht am
23.12.2015 mehr als drei Monate in der BRD auf. Folglich greift die Regelung des §
7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ein.
bb.
20 Der Antragsteller hat in der Bundesrepublik Deutschland kein materielles
Aufenthaltsrecht.
(1)
21 Die Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU
liegen nicht vor, da sich der Antragsteller - mangels Ausübung einer
Erwerbstätigkeit bzw. Berufsausbildung - nicht als Arbeitnehmer oder
Auszubildender in der BRD aufhält. Die Kammer konnte sich auch nicht davon
überzeugen, der Antragsteller habe seine Arbeitsstelle bei der L-GmbH unfreiwillig
verloren (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG). Die Unterschrift auf der (Eigen-
)Kündigung vom 13.10.2015 ist offensichtlich identisch mit der Unterschrift des
Antragstellers.
(2)
22 Auch die Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU in der ab dem
09.12.2014 geltenden Fassung liegen nicht vor. Danach sind unionsrechtlich
freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu
sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, sie
suchen weiterhin Arbeit und haben begründete Aussicht, eingestellt zu werden.
Anhaltspunkte für eine künftige Einstellung des Antragstellers, der kein Deutsch
spricht liegen nicht vor. Ein zukünftiges dreiwöchiges Praktikum, welches nach
seinem Wortlaut gerade kein Arbeitsverhältnis begründen soll (§ 9
Praktikumsvertrag), ändert daran nichts. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu
Art 39 EG fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt
- mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen völlig
untergeordneten und unwesentlichen Umfang darstellt - unter die Vorschriften über
die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl. u.a. EuGH, U.v. 3.6.1986 – 139/85 – juris;
EuGH, U.v. 23.3.1982 - C-53/81, Celex-Nr. 61981CJ0053 - juris; EuGH, U.v.
18.7.2007 - C-213/05, Celex-Nr. 62005CJ0213 - juris). Das künftige dreiwöchige
Berufspraktikum stellt jedoch gerade ein solch kurzfristiges und für den Arbeitgeber
unbedeutendes Beschäftigungsverhältnis ohne erkennbaren wirtschaftlichen Wert
dar (vgl. dazu auch LSG Berlin-Brandenburg, B.v. 30.6.2015 – L 20 AS 1297/15 B
ER, L 20 AS 1299/15 B ER PKH – juris, Rn. 13).
(3)
23 Das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 2
FreizügG/EU, § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU und § 4a
FreizügG/EU sind vom Antragsteller weder behauptet noch glaubhaft gemacht.
(4)
24 Nachdem ein Aufenthaltsrecht aus dem Aufenthaltsgesetz ebenfalls nicht
ersichtlich ist verbleibt im Falle des Antragstellers nur das (formelle)
Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU, wonach Unionsbürger für den
Aufenthalt keines Aufenthaltstitels bedürfen. Damit verfügt der Antragsteller zwar
nicht über ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz
2 SGB II, so dass der Leistungsausschluss nach seinem Wortlaut nicht einschlägig
wäre. Er ist jedoch gleichwohl von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat es planwidrig
unterlassen, auch diejenigen ausdrücklich von den Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II auszuschließen, die über keine materielle
Freizügigkeitsberechtigung oder kein Aufenthaltsrecht in Deutschland verfügen.
Der Antragsteller ist nach der Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung,
ihrem systematischen Zusammenhang und der teleologischen Bedeutung der
benannten Vorschrift "Erst-Recht" von diesen Leistungen ausgeschlossen, wenn
ihm wie aufgezeigt keine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem
FreizügG/EU oder ein anderes Aufenthaltsrecht zur Seite steht (BSG, U.v.
3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – dazu Terminbericht Nr. 54/15, juris). Der
Leistungsausschluss ist nach den Entscheidungen des EuGH in den Sachen
"Dano" und "Alimanovic" auch europarechtskonform (BSG, a.a.O.). Über dies kann
sich der Antragsteller auch nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA
(Europäisches Fürsorgeabkommen) wegen des von der Bundesregierung am
19.12.2011 erklärte Vorbehalts nach Art. 16 Abs. b EFA berufen (BSG, a.a.O.).
b.
25 Der Antragstellung hat nach summarischer Prüfung auch keinen Anspruch gegen
den Sozialhilfeträger.
26 Im Rahmen seiner jüngsten Rechtsprechung hat das BSG den beigeladenen
Sozialhilfeträger zur Leistungserbringung in dem Fall verurteilt, in welchem
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
SGB II nicht gewährt werden dürfen, aber ein verfestigter Aufenthalt vorliegt (BSG,
U.v. 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – dazu Terminbericht Nr. 54/15, juris). Das BSG
stützt den Anspruch auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, wonach Sozialhilfe geleistet
werden kann, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Nach Ansicht des BSG
führt die "gesundheitlich" bestehende Erwerbsfähigkeit nicht nach § 21 SGB XII zu
einem Ausschluss von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII, da nach
dem SGB II ausgeschlossene Personen bei Hilfebedürftigkeit dem System des
SGB XII zugewiesen seien (BSG, a.a.O.).
27 Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller jedoch bereits nicht glaubhaft gemacht,
seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln,
insbesondere aus seinem Einkommen und Vermögen, bestreiten zu können (vgl. §
19 Abs. 1 SGB XII). Er lebt seit mindestens September 2015 in der BRD. Mit
Ausnahme einer etwa dreiwöchigen Erwerbstätigkeit dürfte der Antragsteller keine
Einnahmen in der BRD erzielt haben. Er verfügt nach seinen Angaben im
Leistungsantrag an den Antragsgegner jedoch über ein Handy sowie ein Girokonto
und ist Krankenversichert. Folglich liegen dem Gericht keine ausreichenden
Angaben über die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Antragstellers
vor. Ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen scheidet daher im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes aus. Die Beiladung des zuständigen
Sozialhilfeträgers im einstweiligen Rechtsschutzverfahren war daher nicht
notwendig i.S.d. § 75 Abs. 2 SGG.
3.
28 Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193
SGG.