Urteil des SozG Karlsruhe vom 23.02.2016

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SG Karlsruhe Urteil vom 23.2.2016, S 17 AS 2853/15
Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II; sonstige Hilfe zur Erlangung eine
geeigneten Platzes im Arbeitsleben; "HöSchBo"; "Impuls".
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.05.2015 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 06.08.2015 verurteilt, seine Bescheide vom
28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014 zu ändern und dem Kläger für
die Zeit vom 01.01.2014 bis 28.02.2014 sowie für den Zeitraum 03.03.2014 bis
02.06.2014 einen Mehrbedarf für behinderte Menschen in Höhe von 35 % der
Regelleistung zu bewilligen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Der Beklagte hat dem Kläger zwei Drittel dessen außergerichtliche Kosten zu
erstatten.
Tatbestand
1 Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) unter Berücksichtigung eines
Mehrbedarfs für behinderte Menschen.
2 Der am ...1966 geborene Kläger hat die italienische Staatsangehörigkeit, bei ihm
ist ein GdB von 50 anerkannt. Der Beklagte bewilligte dem Kläger für die Zeit vom
01.12.2013 bis 30.11.2014 Leistungen nach dem SGB II (Bescheide vom
28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014). Am 30.10.2013 schloss der
Kläger mit dem Beklagten eine Eingliederungsvereinbarung. Danach bot der
Beklagte dem Kläger die Teilnahme an dem Projekt „HöSchBo“ nach § 16 Abs. 1
SGB II i.V.m. § 45 SGB III in der Zeit vom 30.10.2013 bis 31.03.2014 an. In der
Folge schloss der Kläger am 05.11.2013 eine Vereinbarung mit der I. über die
Teilnahme am Projekt „HöSchBo“. Der Kläger vereinbarte am 29.04.2014 mit dem
Beklagten eine weitere Eingliederungsvereinbarung. Danach bot der Beklagte dem
Kläger die Teilnahme an der Maßnahme „Impuls“ nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. §
45 SGB III in der Zeit vom 03.03.2014 bis 02.06.2014 beim Träger G. an.
3 Am 09.02.2015 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Überprüfung für den
Leistungszeitraum Oktober 2013 bis März 2014 („HöSchBo“/Alicante) und
03.03.2014 bis 02.06.2016 („Impuls“). Da er in dieser Zeit an zwei
Wiedereingliederungsmaßnahmen teilgenommen habe, habe er Anspruch auf
Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II. Der Beklagte lehnte den Antrag auf
Überprüfung der Bescheide vom 18.04.2013, 29.10.2013 und 30.04.2014 ab
(Bescheid vom 21.05.2015).
4 Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 06.08.2015 als unbegründet zurück.
5 Mit der am 03.09.2015 zum Sozialgericht Karlsruhe erhobenen Klage verfolgt der
Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, er
begehre die Gewährung eines Mehrbedarfs für behinderte Menschen für die Dauer
der getroffenen Eingliederungsvereinbarungen. Er erfülle die Voraussetzungen,
weswegen ihm ein Zuschlag in Höhe von 35 % der Regelleistung zu gewähren sei.
6 Der Kläger beantragt,
7
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.05.2015 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 06.08.2015 zu verurteilen, ihm für die Zeit von
Oktober 2013 bis Februar 2014 sowie für den Zeitraum 03.03.2014 bis
02.06.2014 einen Mehrbedarf für behinderte Menschen in Höhe von 35 % der
Regelleistung zu bewilligen.
8 Der Beklagte beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10 Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im angefochtenen
Widerspruchsbescheid. Ergänzend trägt er vor, allein ein Grad der Behinderung
sei nicht ausreichend. Leistungen nach den in § 21 Abs. 4 SGB II genannten
Paragrafen des SGB IX bzw. SGB XII würden nicht bezogen. Die Förderung im
Rahmen des Projekts „HöSchBo“ erfolge über EU-Mittel.
11 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Verwaltungsakte sowie die Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
12 Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Kläger hat Anspruch auf
Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II für die Zeit vom 01.01.2014 bis 28.02.2014
sowie für den Zeitraum 03.03.2014 bis 02.06.2014.
1.
13 Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist, soweit sich
im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig
angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als
unrichtig erweist, und somit deshalb u.a. Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht
worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Ist ein Verwaltungsakt mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen
nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzes - vorliegend des
SGB II - längstens für einen Zeitraum von einem Jahr vor der Rücknahme erbracht
(§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Dabei wird der
Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der
Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei
der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen
sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§§ 44 Abs. 4 Sätze 2 und 3 SGB X).
14 Die bei dem Kläger im Jahre 2013 und 2014 gewährten Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts waren zu niedrig bemessen, weil dem Kläger ein Anspruch
auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II zusteht. Die Voraussetzungen des § 44
Abs. 1 Satz 1 SGB X sind damit im vorliegenden Fall erfüllt. Der Beklagte hat bei
Erlass der Bescheide vom 28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014
das Recht unrichtig angewandt.
2.
15 Dies ergibt sich aus Folgendem:
16 Nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II wird bei erwerbsfähigen behinderten
Leistungsberechtigten, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33
SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im
Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB XII
erbracht werden, ein Mehrbedarf von 35 % des nach § 20 SGB II maßgebenden
Regelbedarfs anerkannt.
a.
17 Der Kläger gehört zum Kreis der erwerbfähigen behinderten
Leistungsberechtigten. Bei ihm ist ein GdB von 50 festgestellt.
b.
18 Die Maßnahmen „HöSchBo“ sowie „Impuls“ können jedenfalls den „sonstigen
Hilfen“ im Sinne des § 21 Abs. 4 SGB II zugeordnet werden, die innerhalb dieser
Mehrbedarfsregelung gleichwertig neben den Leistungen nach § 33 SGB IX
aufgeführt werden. Ein Kausalitätserfordernis in dem Sinne, eine nach § 21 Abs. 4
SGB II den Mehrbedarf auslösende Maßnahme läge nur vor, wenn diese selbst
nach ihrer abstrakten Ausgestaltung speziell auf die Bedürfnisse von behinderten
Menschen zugeschnitten sei, ist nicht zugrunde zu legen (BSG, U.v. 5.8.2015 - B 4
AS 9/15 R - juris).
19 Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung löst zunächst nur die
tatsächliche Durchführung der Maßnahme den Anspruch aus. Ferner wird die
Teilnahme an einer regelförmigen Maßnahme vorausgesetzt, die sich innerhalb
eines organisatorischen Rahmens vollzieht, die eine Bezeichnung als Maßnahme
rechtfertigt. In Abgrenzung hierzu genügen lediglich kurze Gespräche nicht den
geforderten Qualitäten. Daneben ist unerheblich, ob die Leistung durch den
Grundsicherungsträger durch Verwaltungsakt bewilligt worden ist; ausreichend ist
vielmehr, wenn die Leistungsgewährung auf Veranlassung des
Grundsicherungsträgers oder eines anderen Sozialleistungsträgers erfolgt (vgl.
etwa BSG, U.v. 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - juris; LSG Nordrhein-Westfalen, B.v.
26.8.2015 - L 12 AS 2395/14 - juris). Nach dem Inhalt der
Eingliederungsvereinbarungen ist davon auszugehen und ausreichend, dass die
Teilnahme des Klägers an den Kursen der Projekte „HöSchBo“ und „Impuls“ auf
Veranlassung des Beklagten erfolgte.
20 Der Kläger hat an beiden Maßnahmen teilgenommen. Überdies handelt es sich
sowohl bei „HöSchBo“ (dazu aa.) als auch bei „Impuls“ (dazu bb.) um regelförmige
besondere Maßnahmen. Für die Bestimmung ist allein auf den Inhalt und
Schwerpunkt abzustellen. Es kommt allein darauf an, ob der Vorgang von
vornherein nach Inhalt und Dauer als einheitliche Maßnahme ausgewiesen ist und
entsprechend seiner Ausgestaltung, insbesondere auch hinsichtlich seines
zeitlichen Umfangs, geeignet ist, den Mehrbedarf in seiner von Gesetzgeber
historisch angenommenen Zielrichtung, der Sicherung der Teilhabe am
Arbeitsleben, ausgerichtet ist (BSG, U.v. 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - juris; LSG
Nordrhein-Westfalen, B.v. 26.8.2015 - L 12 AS 2395/14 - juris).
aa.
21 Nach diesem Maßstab handelt es sich bei dem Projekt „HöSchBo“ zur
Überzeugung der Kammer um eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten
Platzes im Arbeitsleben. Die Maßnahme dient ausschließlich der Vermittlung von
Kenntnissen und Fähigkeiten, die den Kläger in die Lage versetzen sollen, eine
Erwerbstätigkeit auszuüben.
22 Das Gericht stützt seine Überzeugung auf die im Gerichtsverfahren vorgelegte
Vereinbarung zwischen dem Projektträger I. und dem Kläger. Aus der Unterlage ist
die Zielsetzung und der Inhalt des Auslandsaufenthaltes beschrieben. Bei dem
Projekt „HöSchBo“ geht es insbesondere darum, Menschen Mobilitätserfahrungen
zu ermöglichen, Begleiten beim Erkennen und/oder Umsetzen individueller
beruflicher Ziele, berufspraktische Erfahrungen zu sammeln und fachpraktische
Fähigkeiten auszubauen, persönliche Fähigkeiten weiterzuentwickeln und
fremdsprachliche Kompetenzen zu erwerben. Das Projekt organisiert sich in einer
Vorlaufmaßnahme, einem Auslandsaufenthalt und einem Nachlauf. Die
wöchentliche Arbeitszeit während des Auslandsaufenthaltes betrug 39 Stunden.
23 Ferner stützt die erkennende Kammer ihre Überzeugung auf die Ausführungen
des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung. Demnach nahm er im
Rahmen der Vorbereitungsphase, während des Auslandsaufenthalts sowie im
Nachlauf bis etwa Ende Februar täglich an Veranstaltungen teil. Im März fanden
lediglich noch einzelne Termine statt.
bb.
24 Daneben stellt auch die Maßnahme „Impuls“ eine sonstige Hilfe zur Erlangung
eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben i.S.d. § 21 Abs. 4 SGB II.
25 Im Rahmen der Maßnahme „Impuls“ liegt keine weitestgehend freigestellte Wahl
von Kursen im Mittelpunkt. Vielmehr ist der zeitliche Umfang der Kurse festgelegt.
„Impuls“ wird nach der Beschreibung, welche im Internet von der G. veröffentlich
ist, als Vollzeit oder Teilzeitmaßnahme angeboten. Ziel ist die Heranführung an
den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und die Feststellung, Verringerung oder
Beseitigung von Vermittlungshemmnissen. Zudem soll ein regelmäßiger
Arbeitseinsatz unter realen Arbeitsbedingungen erfolgen. Die Dauer ist von
vornherein auf drei Monate angelegt. Inhaltlich gestaltet sich „Impuls“ durch
individuelle Projektbausteine für die Aktivierung und Heranführung an den
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt aus. Nach den Ausführungen des Klägers im
Termin zur mündlichen Verhandlung sind die Mitarbeiter sehr individuell auf ihn
und seine Bedürfnisse eingegangen. Nach seinem Dafürhalten handele es sich
um eine einheitliche Maßnahme. Er hat im Rahmen der Maßnahme, welche er in
Vollzeit besucht hat, verschiedene Tests durchlaufen, um seine Stärken
herauszuarbeiten. Überdies ist ihm ein Job-Coach zur Seite gestanden. Ein
weiterer Trainer hat mit ihm seine Bewerbungsunterlagen auf den neuesten Stand
gebracht. Letztlich ist ihm ein Praktikum entsprechend der herausgearbeiteten
Interessen und Fähigkeiten vermittelt worden.
26 Zur Überzeugung der Kammer ist die Maßnahme damit hinreichend von
vornherein strukturiert. Es werden etwa bestimmte aufeinander aufbauende
Lerninhalte, Coachings, Tests verfolgt. Damit erfüllt auch „Impuls“ die
Anforderungen, die an sonstige Hilfen im Sinne der Mehrbedarfsregelung des § 21
Abs. 4 SGB II zu stellen sind.
3.
27 Wie oben dargelegt werden die leistungsrechtlichen Folgen der Rücknahme und
der Neuentscheidung auf einen Zeitraum von einem Kalenderjahr vor der
Antragstellung begrenzt (Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 44
SGB X, Rn. 112).
28 Der Kläger hat am 09.02.2015 die Überprüfung beantragt. Insoweit konnte eine
Änderung der Bescheide vom 28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und
30.04.2014 rückwirkend frühestens ab 01.01.2014 erfolgen. Mithin besteht ein
Anspruch des Klägers hinsichtlich der Maßnahme „HöSchBo“ lediglich für die Zeit
vom 01.01.2014 bis - wie beantragt - zum 28.02.2014. Für die Teilnahme an der
Maßnahme „Impuls“ im Zeitraum 03.03.2014 bis 02.06.2014 besteht der Anspruch
auf Mehrbedarf für die gesamte Dauer der Maßnahme.
4.
29 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.