Urteil des SozG Karlsruhe vom 21.07.2016

rechtsschutz, verordnung, hauptsache, wohnung

SG Karlsruhe Beschluß vom 21.7.2016, S 17 AS 2115/16
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung -
Einkommensschwankungen - Berechnung monatliches Durchschnittseinkommen - Prognose -
Berücksichtigung von Änderungen der Einkommensverhältnisse
Leitsätze
Bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens nach § 2 Abs. 3 Satu 1 AlG-II-VO für die vorläufige
Bewilligung von Leistungen ist das zu erwartende Einkommen im Wege einer Prognose zu ermitteln.
Wesentliche Veränderungen der zu erwartenden Einkommenssituation sind dabei zu berücksichtigen.
Tenor
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig
weitere Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 27.06.2016 bis zum 31.12.2016, längstens jedoch bis zur
Bestandskraft der Entscheidungen des Antragsgegners vom 12.05.2016 in der Fassung der Bescheide vom
30.06.2016, unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens für den Antragsteller zu 1) in Höhe von
676,34 EUR zu bewilligen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.
Gründe
I.
1 Die Antragsteller begehren höhere Leistungen nach dem SGB II.
2 Die Antragsteller beziehen ergänzende Leistungen nach dem SGB II von dem Antragsgegner. Der
Antragsteller zu 1) ist seit dem 01.04.2014 in der Gastronomie in B. im Tennisclub tätig. Die Antragstellerin
zu 3) ist die minderjährige Tochter der Antragsteller zu 1) und 2).
3 Mit Bescheiden vom 12.05.2016 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen nach dem SGB
II für die Zeit vom 01.12.2015 bis 31.08.2016. Dabei legte er ein Durchschnittseinkommen von monatlich
803,76 EUR bei dem Antragsteller zu 1) zugrunde. Dies errechnete sich aus den nachgewiesenen
durchschnittlichen Bruttoeinkünften von Oktober 2015 bis März 2016 (10/15: 934,47 EUR; 11/15: 931,46
EUR; 12/15:934,47 EUR; 01/16: 686,45 EUR; 02/16: 649,24 EUR; 03/16: 686,45 EUR). Ab dem 27.04.2016
berücksichtigte der Antragsgegner keinen Bedarf für die Antragstellerin zu 3).
4 Hiergegen erhoben die Antragsteller am 03.06.2016 Widerspruch. Zur Begründung trugen sie vor, die
Antragstellerin zu 3) verfüge auch über den 27.04.2016 hinaus über einen Aufenthaltstitel. Das Einkommen
des Antragstellers zu 1) betrage seit dem 01.01.2016 durchschnittlich ca. 685,-- EUR brutto. Die
Abrechnungen seien mehrfach vorgelegt.
5 Am 27.06.2016 haben die Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zum Sozialgericht
Karlsruhe gestellt. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, bei dem Antragsteller zu 1) habe sich
das monatliche Bruttoeinkommen zum 01.01.2016 reduziert. Er erhalte nur noch ein durchschnittliches
Bruttogehalt in Höhe von 685,-- EUR. Dies sei bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens zu
berücksichtigen. Die Differenz betrage (seit Mai 2016) monatlich 129,27 EUR. Die Antragstellerin zu 3) habe
im Frühjahr einen Reisepass bekommen. Der Aufenthaltstitel liege mittlerweile vor. Daher ergäbe sich ein
zusätzlicher monatlicher Bedarf in Höhe von 458,- EUR. Die von den Antragstellern bewohnte Wohnung
werde mit einem Elektroboiler mit Warmwasser versorgt. Die Heizung werde mit Gas betrieben. Es bestehe
ein zusätzlicher monatlicher Anspruch in Höhe von 18,64 EUR. Ferner bestünde ein höherer Anspruch auf
Kosten der Unterkunft und Heizung. Die Wohnung, bei der die Kaltmiete 550,-- EUR betrage, sei
angemessen, da die Antragstellerin zu 2) schwanger sei und im November entbinde. Die Differenz der
Kaltmiete betrage 75,- EUR.
6 Mit Bescheiden vom 30.06.2016 setzte der Antragsgegner die Leistungen der Antragsteller neu fest.
7 Die Antragsteller beantragen,
8
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen weitere Leistungen nach
dem SGB II in Höhe von 681,01 EUR monatlich zu bewilligen.
9 Der Antragsgegner beantragt,
10 den Antrag abzulehnen.
11 Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, mit Bescheiden vom 30.06.2016 seien die Leistungen
aufgrund der eingereichten Unterlagen für den Zeitraum ab April 2016 neu festgesetzt worden. Der
Antragsteller zu 1) habe schwankendes Einkommen, welches entsprechend § 2 Abs. 3 Alg II-Verordnung in
den Bescheiden vom 12.05.2016 zulässigerweise und richtig berechnet worden sei. Insoweit sei keine
Änderung in den Bescheiden vom 30.06.2016 veranlasst gewesen. Ab 21.04.2016 sei ein Wohnraumbedarf
für vier Personen und eine Kaltmiete in Höhe von 550,- EUR berücksichtigt worden. Der verlängerte
Aufenthaltstitel der Antragstellerin zu 3) sei am 02.06.2016 eingereicht worden.
12 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der dem
Gericht vorliegenden Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie den der Gerichtsakte Bezug genommen.
I.
13 Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist im Hinblick auf die Berücksichtigung des schwankenden
Einkommens des Antragstellers zu 1) begründet (dazu 2.a.). Im Übrigen teilweise unzulässig (dazu 1.) und
teilweise unbegründet (dazu 2.b.).
1.
14 Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf höheren monatlichen Bedarf für die Antragstellerin zu 3)
sowie eines höheren Zuschusses zu der Kaltmiete ist der Antrag bereits unzulässig. Es fehlt für den Antrag
im einstweiligen Rechtsschutz das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
15 Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine allgemeine Sachurteilsvoraussetzung, die bei jeder Rechtsverfolgung
oder Rechtsverteidigung gegeben sein muss. Der Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses bedeutet, dass nur
derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein
rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung hat. Ein
Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung fehlt u. a. in der Regel, wenn die gerichtliche Entscheidung
nutzlos ist, d. h. dem Rechtsschutzsuchenden offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile
bringt (Sächsisches LSG, B. v. 22.4.2013 - L 3 AS 1310712 B-PKH - juris).
16 So liegen die Dinge hier:
17 Mit Bescheiden vom 30.06.2016 ist der Antragsgegner den insoweit geltend gemachten Forderungen
nachgekommen. Die Antragstellerin zu 3 ist in der Bedarfsberechnung mitberücksichtigt. Ferner hat der
Antragsgegner die Kaltmiete nunmehr in voller Höhe berücksichtigt.
2.
18 Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung
treffen, wenn die Gefahr besteht, durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes könnte die
Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden. Einstweilige
Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der
einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).
Dies ist der Fall, wenn es dem Antragsteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der
Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller, in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b, Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des
Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen
Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken,
wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung
an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, B.v. 2.5.2005 - 1 BvR 569/05 - BVerfGE 5,
237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes
zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes
verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG,
25.7.1996 - 1 BvR 638/96 - NJW 1997, 479). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung
des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer
menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz
u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung
der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter-
und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers
vorzunehmen.
19 Nach diesem Maßstab haben die Antragsteller einen Anspruch auf vorläufige Bewilligung von höheren SGB-
Leistungen, da die ablehnende Entscheidung des Antragsgegners nach summarischer Prüfung teilweise
rechtswidrig ist.
a.
20 Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Alg II-Verordnung (i.V.m. § 13 SGB II) kann, wenn bei laufenden Einnahmen im
Bewilligungszeitraum zu erwarten ist, dass diese in unterschiedlicher Höhe zufließen, ein monatliches
Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt werden.
21 Dem Antragsteller zu 1) fließt Einkommen in unterschiedlicher Höhe zu, so dass die Bildung eines
Durchschnittseinkommens nach § 2 Abs. 3 Alg II-Verordnung grundsätzlich zulässig ist. Bei der Berechnung
des Durchschnittseinkommens ist jedoch von dem zu erwartenden Einkommen auszugehen (vgl. Pewestorf
Alg II-V/Adrian Pewestorf Alg II-V § 2 Rn.3). Die Behörde hat folglich eine Prognose anzustellen. Dabei ist es
grundsätzlich praktisch sinnvoll, die Einkünfte vergangener Zeiträume bei der Prognose mit zu
berücksichtigen. Jedoch sind wesentliche Veränderungen der zu erwartenden Einkommenssituation mit zu
berücksichtigen. In der Alg II-Verordnung findet sich keine Regelung, nach welcher stets sechs Monate bei
der Berechnung des Durchschnittseinkommens zugrunde zu legen sind. Dies erscheint auch wenig sinnvoll,
wenn sich - wie hier - Einkommen innerhalb der letzten sechs Monate wesentlich verändert hat.
22 So liegen die Dinge hier: Das Einkommen des Antragstellers zu 1) hat sich seit 01.01.2016 wesentlich
reduziert. Zwar liegen schriftliche Arbeitsverträge weder über die Einkünfte im Jahr 2015 noch über die
Einkünfte im Jahr 2016 vor. Die Antragsteller haben jedoch die Einkommensnachweise der (abgerechneten)
Monate Januar bis April 2016 vorgelegt. Diese bestätigen die Veränderung im Einkommen des Antragstellers.
Zudem hat der Antragsteller zu 1) im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung angegeben, ab
01.01.2016 aufgrund einer Stundenreduzierung nunmehr weniger Einkommen erzielen zu können. Daher
sind bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens lediglich die Einkommen ab Januar 2016 bei der
Bildung des Durchschnittseinkommens zugrunde zu legen.
23 Nach alledem beträgt das zu berücksichtigende Durchschnittseinkommen des Antragstellers zu 1) hier
676,34 EUR (01/16: 686,45 EUR; 02/16: 649,24 EUR; 03/16: 686,45 EUR; 04/16: 683,33 EUR).
b.
24 Im Übrigen ist der Antrag unbegründet. Die Antragsteller begehren noch höhere SGB II-Leistungen für
Stromkosten für die Warmwasseraufbereitung.
25 Die Haushaltsenergie ist grundsätzlich mit dem Regelbedarf abgedeckt. Bei Leistungsberechtigten wird ein
Mehrbedarf anerkannt, soweit Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtung erzeugt wird
(dezentrale Warmwassererzeugung) und deshalb keine Bedarfe für zentral bereitgestelltes Warmwasser
nach § 22 anerkannt werden (§ 21 Abs. 7 SGB II). Die Antragsteller haben nicht nachgewiesen, ob durch
eine dezentrale Warmwasserversorgung ein erhöhter Energieverbrauch besteht. Aus dem Mietvertrag ist
ein solcher Mehrbedarf nicht ersichtlich, ebenfalls nicht aus den Abschlagsinformationen der Stadtwerke
über Strom und Gas. Die Antragsteller sind im November 2015 in die derzeitige Wohnung umgezogen.
Weder bei persönlichen Vorsprachen, noch im Weiterbewilligungsantrag haben die Antragsteller Angaben zu
einem Mehrbedarf für die Erzeugung von Warmwasser geltend gemacht. Erstmals mit
Widerspruchsschreiben vom 03.06.2016 haben sie einen Mehrbedarf vorgetragen. Nachweise liegen nicht
vor. Insoweit ist ein Bedarf folglich nicht glaubhaft gemacht.
26 Nach alledem war wie tenoriert über die Sache zu entscheiden.
3.
27 Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG.
28 Der Antragsgegner hat die gesamten außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu tragen. Maßgeblich ist
dabei für das Gericht, dass die Antragsteller mit ihren Begehren in der Sache weit überwiegend (nämlich mit
Ausnahme des Mehrbedarfs für Warmwasseraufbereitung) erfolgreich gewesen sind. Wenngleich der
Eilantrag teilweise abgelehnt worden ist, ist die volle Kostentragung durch den Antragsgegner gleichwohl
billig, da er - trotz Kenntnis aller für die Änderung maßgeblichen Tatsachen am 03.06.2016 - erst am
30.06.2016 (und damit nach Antragstellung beim Sozialgericht) den Begehren der Antragsteller
nachgekommen ist.