Urteil des SozG Karlsruhe vom 19.08.2015

aufenthalt, sowjetunion, aussiedler, familie

SG Karlsruhe Urteil vom 19.8.2015, S 13 R 523/15
Berücksichtigung ausländischer Versicherungszeiten eines Spätaussiedlers
nach dem FRG in einem Vormerkungsbescheid
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Ermittlung von Entgeltpunkten für die vom Kläger
in der ehemaligen Sowjetunion zurückgelegten Versicherungszeiten streitig.
2 Der am ... in der ehemaligen Sowjetunion geborene Kläger reiste als
Spätaussiedler am 1. September 1998 nach Deutschland ein. Zwischen dem 1. bis
8. September 1998 befand er sich in einer Erstaufnahmestelle in Empfingen,
Baden-Württemberg. Das Arbeitsamt Nagold bewilligte dem Kläger mit Bescheid
vom 4. September 1998 für den Zeitraum 1. bis 8. September 1998 eine
Eingliederungshilfe in Höhe von 151,90 DM.
3 Im Rahmen des Verteilungsverfahrens wurde der Kläger mit seiner Familie dem
Bundesland Sachsen zugewiesen und musste daraufhin am 9. September 1998 in
die Landesaufnahmestelle Sachsen in Bärenstein umziehen. Von dort wurde die
Familie dann am 23. September 1998 in das Übergangswohnheim in Stützengrün,
Sachsen, verwiesen.
4 Am 23. Februar 1999 schloss der Kläger mit der Firma X in Höfen/Enz, Baden-
Württemberg ab dem 1. März 1999 einen Arbeitsvertrag ab. Ab dem 12. März 1999
bezog der Kläger mit seiner Familie eine Wohnung in X.
5 Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 2. Juni 2014 die Zeiten bis 31. Dezember
2007 verbindlich fest. Seinen ersten Aufenthalt in Deutschland habe der Kläger
dabei im Beitrittsgebiet begründet, daher seien die Entgeltpunkte nach dem
Beitrittsgebiet zu bemessen. Mit Schreiben vom 2. Juni 2014 übermittelte die
Beklagte ihm eine Rentenauskunft.
6 Zur Begründung des hiergegen erhobenen Widerspruchs trug der Kläger vor, er
habe seinen ersten gewöhnlichen Aufenthalt in Empfingen begründet.
7 Seinen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchbescheid vom 27. Januar
2015 als unbegründet zurück. Durch das kurzzeitige Verweilen in Empfingen sei
kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden.
8 Deswegen hat der Kläger am 17. Februar 2015 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe
erhoben. Er trägt vor, bereits der Aufenthalt in Empfingen sei zukunftsoffen
gewesen, er habe von Anfang an beabsichtigt, nach Baden-Württemberg zu
ziehen.
9 Der Kläger beantragt -sachdienlich gefasst-,
10 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 2. Juni 2014 in der Gestalt
des Widerspruchbescheid vom 27. Januar 2015 zu verpflichten, höhere
versicherte Entgelte für die in der Zeit von November 1974 bis August 1998 in der
Sowjetunion zurückgelegten Beitragszeiten zu berücksichtigen.
11 Die Beklagte beantragt unter Verweis auf ihren Vortrag im Widerspruchverfahren,
12 die Klage abzuweisen.
13 Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte
der Beklagten sowie die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
14 Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angefochtene Bescheid erweist sich
als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
15 1. Soweit der Beklagte die Rentenauskunft vom 2. Juni 2014 angefochten hat, ist
die Klage bereits unzulässig. Die Rentenauskunft stellt keinen Verwaltungsakt dar,
mit der Folge, dass eine Anfechtungsklage gem. § 54 SGG nicht zulässig ist.
16 Die Erteilung einer Rentenauskunft ist in § 109 SGB VI geregelt. Bei der
Rentenauskunft handelt es sich um eine Wissenserklärung und nicht um die
Regelung eines Einzelfalls i. S. d. § 31 SGB X, sie dient nur zur Information. Die
Rentenauskunft ist also kein Verwaltungsakt, der Bindungswirkungen für die
Auskunft erteilende Behörde und den Auskunftsadressaten entfaltet (vgl. BSGE
44, 114 = SozR 2200 § 886 Nr. 1, BSGE 49, 258 = SozR 2200 § 1251 Nr. 75).
Daher sind Rentenauskünfte (§ 109 Abs. 2 SGB VI), wie vorliegend, auch mit dem
Hinweis zu versehen, dass sie auf der Grundlage des geltenden Rechts und der
im Versicherungskonto gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten erstellt ist und
damit unter dem Vorbehalt künftiger Rechtsänderungen sowie der Richtigkeit und
Vollständigkeit der im Versicherungskonto gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten
steht. Beides verdeutlicht, dass der Rentenversicherungsträger jeweils allein über
(derzeitige) Tatsachen Auskunft gibt, also eine Wissensauskunft erteilt.
Gesetzesänderungen wie Änderungen in den persönlichen Verhältnissen können
- das wird durch Abs. 2 ausgesagt - noch zu Veränderungen in der Höhe der zu
erwartenden Rente führen. Damit kann sich der Versicherte nur im Grundsatz auf
die Richtigkeit der Renteninformation/Rentenauskunft verlassen. Eine Zusicherung
für den späteren Leistungsfall dergestalt, dass die ermittelte Leistungshöhe
(jedenfalls) erreicht werde, enthält weder die Renteninformation noch die
Rentenauskunft. Denn über die Leistung als solche - den Rentenanspruch im
engeren Sinne - wird erst im konkreten Leistungsfall verbindlich entschieden.
17 Folglich kann sich der Kläger nicht gegen die in der Rentenauskunft beschriebene
voraussichtliche Rentenhöhe im Rahmen einer Anfechtungsklage wenden.
18 2. Als Streitgegenstand verbleibt somit der Vormerkungsbescheid vom 2. Juni
2014 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 27. Januar 2015, mit dem die
Beklagte entschieden hat, dass für die Ermittlung der Entgeltpunkte die Vorschrift
des § 256 b maßgebend ist.
19 Das prozessuale Begehren des Klägers ist dahingehend auszulegen (§ 123
SGG), dass er neben der Anfechtungsklage gegen die genannten Bescheide auch
eine Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) erhoben hat. Denn er begehrt
den Erlass eines Verwaltungsaktes bestimmten Inhalts, nicht aber eine Leistung
unmittelbar. Ein Leistungsverfahren (bzw Leistungsfeststellungsverfahren) ist auch
von der Beklagten nicht durchgeführt worden. Vielmehr hat diese im Rahmen
Beitragszeiten sowie dem maßgeblichen Verdienst durch einen
Vormerkungsbescheid im Sinne von § 149 Abs. 5 Satz 1 SGB VI festgestellt. Dazu
war sie berechtigt, da der Versicherungsträger nach dieser Vorschrift die im
Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger
als sechs Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid festzustellen hat, wenn das
Versicherungskonto geklärt ist oder der Versicherte innerhalb von sechs
Kalendermonaten nach Versendung des Versicherungsverlaufs seinem Inhalt
nicht widersprochen hat. Dieser Verpflichtung ist die Beklagte nachgekommen. Der
Vormerkungsbescheid ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Sein Sinn und
Zweck erschöpft sich nicht in der abstrakten Feststellung von Tatbeständen
rentenrechtlicher Zeiten ohne jegliche Beziehung zur späteren
Rentenwertfeststellung. Vielmehr trifft der Vormerkungsbescheid auf der
Grundlage des bei seinem Erlass geltenden Rechts Feststellungen über
Tatbestände einer rentenversicherungsrechtlich relevanten Vorleistung, die
grundsätzlich in den späteren Rentenbescheid und damit in den Rentenwert
eingehen (vgl hierzu nur BSGE 56, 165, 171 f; BSG SozR 1300 § 45 Nr 15). Im
Interesse der Versicherten wird hierdurch Klarheit über das Vorliegen oder
Nichtvorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Berücksichtigung
von Zeiten rentenversicherungsrechtlicher Relevanz geschaffen. Verbindlich
festgestellt wird nach alledem im Vormerkungsbescheid sowohl der
Rechtscharakter der rentenrechtlichen Zeit als auch deren zeitlicher Umfang und
damit, ob ein behaupteter Anrechnungstatbestand nach seinen tatsächlichen und
rechtlichen Voraussetzungen nach dem zum Zeitpunkt des Erlasses des
Vormerkungsbescheides geltenden materiellen Recht erfüllt ist, so dass die
Möglichkeit besteht, dass er rentenrechtlich relevant werden kann (BSG SozR 3-
2600 § 149 Nr 6; SozR 4-2600 § 149 Nr 1 mwN). Zugleich ist bei Tatbeständen
von Beitragszeiten wegen Beschäftigung oder Tätigkeit auch der daraus jeweils
erzielte oder kraft Gesetzes als fiktiv versichert geltende Verdienst festzustellen
(BSG, Urteil vom 23. September 2003 - B 4 RA 48/02 R = veröffentlicht in juris,
RdNr 15; aA wohl LSG Berlin, Urteil vom 29. Juli 2004 - L 8 RA 18/01 =
veröffentlicht in juris).
20 Der Kläger kann keine Berücksichtigung höherer versicherter Entgelte für die in der
Zeit vom November 1975 bis August 1998 in der Sowjetunion zurückgelegten
Beitragszeiten als die in Bescheid vom 2. Juni 2014 vorgemerkten beanspruchen.
Denn die Beklagte hat die Arbeitsentgelte des Klägers in Anwendung der
Vorschrift des § 256 b SGB VI zutreffend ermittelt.
21 Der Versicherte hat die hier streitigen Zeiten nicht in der Bundesrepublik
Deutschland zurückgelegt, sondern in der ehemaligen Sowjetunion. Die
Berücksichtigung ausländischer Versicherungszeiten ist beim Personenkreis des
Klägers, der als Spätaussiedler anerkannt ist (§ 1a FRG), im Fremdrentengesetz
geregelt. Für die Beitrags- und Beschäftigungszeiten gemäß §§ 15 und 16 sind
nach der Bestimmung des § 22 FRG Entgeltpunkte in Anwendung von § 256 b
Abs. 1 S. 1 SGB VI zu ermitteln.
22 Für in Deutschland zurückgelegte Beitragszeiten hängt die Zuordnung zu
Entgeltpunkten bzw. Entgeltpunkten (Ost) im Grundsatz davon ab, ob sie im
Beitrittsgebiet oder in den alten Bundesländern zurückgelegt worden sind (§ 254d
SGB VI). Soweit - wie vorliegend - im nichtdeutschen Herkunftsland zurückgelegte
Beitragszeiten in Anwendung des FRG ebenfalls mit Entgeltpunkten berücksichtigt
werden, findet Art. 6 § 4 Abs. 6 FANG Anwendung. Gem. Art. 6 § 4 Abs. 6 FANG
werden bei Berechtigten nach dem FRG, die a) ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf
Zahlung einer Rente nach dem FRG erwerben, b) nach dem 31. Dezember 1990
ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem
31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem FRG
erwerben oder c) nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt
aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das
Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts
einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem FRG haben, für nach dem
FRG anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c)
gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente
nach dem FRG nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren
Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die
Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten
nach Satz 1 Buchstabe a) und c), die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem
Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das
Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem FRG bei den ermittelten
Entgeltpunkten (Ost).
23 a) Orientiert an diesen gesetzlichen Vorgaben ist das Gericht davon überzeugt,
dass der Kläger seinen ersten gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet
begründet hat.
24 aa) Nach der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand seinen
gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen
lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend
verweilt.
25 Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 31.
Oktober 2012 – B 13 R 1/12 R –, BSGE 112, 116-126, SozR 4-1200 § 30 Nr 6,
SozR 4-5060 Art 6 § 4 Nr 2, Rn. 32) ist die Frage des Vorliegens eines
gewöhnlichen Aufenthaltes anhand einer dreistufigen Prüfung zu klären:
Ausgangspunkt ist ein "Aufenthalt"; es sind dann die mit dem Aufenthalt
verbundenen "Umstände" festzustellen; sie sind schließlich daraufhin zu würdigen,
ob sie "erkennen lassen", dass der Betreffende am Aufenthaltsort oder im
Aufenthaltsgebiet "nicht nur vorübergehend verweilt". Hierbei handelt es sich um
eine Prognoseentscheidung, auch wenn der gewöhnliche Aufenthalt, wie hier,
rückblickend zu ermitteln ist. Spätere Entwicklungen, die bei Beginn des
entscheidungserheblichen Zeitraums noch nicht erkennbar waren, können eine
Prognose weder bestimmen noch widerlegen. Im Rahmen der
Prognoseentscheidung sind alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen.
26 Nicht ausreichend ist der Umstand, dass der Versicherte mit seiner Einreise nach
Deutschland seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Herkunftsgebiet aufgegeben hat.
Die führt nicht unmittelbar dazu, dass er seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" an dem
Ort bzw. in dem Gebiet genommen hat, in dem er sich im Anschluss an die
Einreise aufgehalten hat. Die Annahme einer zwingenden Verknüpfung der
Aufgabe eines gewöhnlichen Aufenthalts mit der Begründung eines neuen
gewöhnlichen Aufenthalts lässt außer Acht, dass die Existenz eines Menschen
zwar stets einen "Aufenthalt", nicht aber zwangsläufig einen "gewöhnlichen
Aufenthalt" voraussetzt.
27 Abzugrenzen ist der gewöhnliche Aufenthalt von einem vorübergehenden
Verweilen, dem als zeitliches Element eine Beendigung von vornherein innewohnt.
(vgl BSG vom 19.11.1965 - 1 RA 154/62 - Juris RdNr 14; BSG vom 16.3.1978 -
BSGE 46, 84, 85 = SozR 2200 § 1320 Nr 1 S 2; BSG vom 3.4.2001 - SozR 3-1200
§ 30 Nr 21 S 46). Allerdings ist auch zur Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthalts ein längerer oder dauerhafter (unbegrenzter) Aufenthalt nicht
erforderlich. Es genügt, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet
"bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält (vgl BVerwG
vom 18.3.1999 - FEVS 49, 434, 436; BSG vom 27.1.1994 - SozR 3-2600 § 56 Nr 7
S 34; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17; Schlegel in jurisPK-SGB I,
Online-Ausgabe, § 30 RdNr 36, Stand Einzelkommentierung Oktober 2011;
Seewald in Kasseler Komm, § 30 SGB I RdNr 22, Stand Einzelkommentierung
September 2007). Eine Höchst- oder Mindestzeit gibt es nach der
höchstrichterlichen Rechtsprechung gerade nicht. Insbesondere kann die
steuerrechtliche Regelung § 9 S 2 AO, wonach als gewöhnlicher Aufenthalt stets
und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als
sechs Monaten Dauer anzusehen ist, nicht entsprechend angewendet werden.
28 Mithin hat der Prognosesteller alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu
berücksichtigen (vgl. BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 69 = SozR 7833 § 1 Nr 1
S 2); dies können subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche sein. Es
kann demnach entgegen der Ansicht des Klägers nicht allein auf den Willen des
Betroffenen ankommen, sich an einen anderen Ort zu begeben und dort einen
gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen (sogenannter Domizilwille); dies gilt
insbesondere dann, wenn er nicht mit den tatsächlichen (objektiven) Umständen
übereinstimmt (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr
65 S 183). Nicht zwingend für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist
daher, ob der Betroffene sich an einem Ort oder in einem bestimmten Gebiet
freiwillig aufhält (vgl. BSG vom 29.5.1991 - SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8).
29 bb) Die zuvor beschriebene Prognoseentscheidung führt im vorliegenden Fall
dazu, dass der Kläger den ersten gewöhnlichen Aufenthalt im
Übergangswohnheim in Stützgrün im Bundesland Sachsen inne hatte. Der
Aufenthalt war dauerhaft, denn er war zukunftsoffen.
30 Die Zuweisung des Klägers an das zum Beitrittsgebiet gehörende Bundesland
Sachsen ist durch das Gesetz über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes
für Aussiedler und Übersiedler erfolgt. Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist die
Schaffung einer ausreichenden Lebensgrundlage von Aussiedlern, aber auch die
Vermeidung einer Überlastung von Gemeinden durch eine angemessene
Verteilung. Aussiedlern, die bei ihrer Ankunft nicht über ausreichend Wohnraum
verfügen, kann ein vorläufiger Wohnort zugewiesen werden.
31 Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesland Sachsen steht es
zunächst nicht entgegen, dass die Zuweisung dorthin durch administrativen
Zwang auf Grundlage des zitierten Gesetzes erfolgt ist. Dieser Vorgang ist nicht mit
einer Haft oder Internierung vergleichbar, da sich die Aussiedler zum Zweck der
Wohnungs- und Arbeitssuche, privaten Besuchen und ähnlichem frei im
Bundesgebiet bewegen können. Das administrative Handeln ist nur deswegen
notwendig geworden, weil zunächst der frei gewählte Bezug einer Wohnung nicht
aus eigener Kraft möglich war. Dies ist ein allgemeines Risiko der privaten
Lebensverhältnisse und des Marktes. Das Übergangswohnheim war der zunächst
einzig freu zugängliche Wohnraum und stellt damit den Schwerpunkt der
Lebensverhältnisse des Zugewiesenen dar. Solange es ihm selbst nicht gelungen
ist selbstständig einen Wohnraum zu finden, war er in jeder Hinsicht den
rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des zugewiesenen Wohnorts
unterworfen. Der Aufenthalt in Sachsen war zunächst auch zukunftsoffen, weil der
subjektive Wunsch, den zugewiesenen Wohnort wieder zu verlassen, sich bis zur
Übersiedlung nach Bad Wildbad in keinerlei objektiven Umständen
niedergeschlagen hat. Nicht maßgeblich ist dabei, dass der Kläger von Anfang an
beabsichtigt hat, nach Baden-Württemberg zurückzukehren, denn alleine der
subjektive Wille genügt diesbezüglich gerade nicht. Daher spielt es auch keine
Rolle, dass er bereits während des Aufenthaltes im Übergangswohnheim eine
Arbeitsstelle in Baden-Württemberg gesucht hat, vielmehr zeigt diese Tatsache,
dass sein Aufenthalt gerade zukunftsoffen war. Schließlich war bis zum Abschluss
des Arbeitsvertrages unklar, ob überhaupt und ab welchem Zeitpunkt er mit seiner
Familie nach Baden-Württemberg umziehen kann. Auch die im Rückblick nur ca.
fünf Monate andauernde Verweildauer im Übergangswohnheim steht der
Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes nicht entgegen, da wie zuvor
ausgeführt keine Mindestdauer erforderlich ist und nachträgliche Entwicklungen
bei der Prognoseentscheidung nicht berücksichtigt werden können. Bei Einzug in
das Übergangswohnheim war die Verweildauer nicht absehbar, und somit der
Aufenthalt zukunftsoffen.
32 Der Annahme eines dauerhaften Aufenthaltes im Beitrittsgebiet kann auch nicht
entgegen gehalten werden, dass sich der Kläger in einem Übergangswohnheim
aufgehalten hat, und schon deshalb der Aufenthalt vorübergehender Natur war.
Der Umstand, dass ein Übergangswohnheim nicht zu einem dauernden Verbleib
bestimmt ist, steht der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes nicht
entgegen, denn auch der Aufenthalt des Klägers in dem Übergangswohnheim war
zukunftsoffen in dem Sinne, dass der Zeitpunkt des Verlassens des
Übergangswohnheims ungewiss war (vgl. Landessozialgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. August 2011 – L 3 R 454/10 –, Rn. 35, juris)
33 Der 9-tägige Aufenthalt in Empfingen stellt demgegenüber keinen gewöhnlichen
Aufenthalt, sondern lediglich ein vorübergehendes Verweilen dar. Der Aufenthalt
war nämlich nicht zukunftsoffen, da bereits von Anfang an klar war, dass der
Kläger sich nur kurzfristig in der Erstaufnahmestelle aufhalten wird. Entgegen der
Auffassung des Klägers ist dabei nicht entscheidend, dass das Arbeitsamt Nagold
vom 4. bis zum 8. September Eingliederungshilfe gewährt hat. Denn bereits bei
Erlass des Bescheides war dieser auf die Dauer des Aufenthalts begrenzt, da
bereits klar war, dass der Kläger umziehen muss. Vielmehr stellt dies ein
gewichtiges Indiz für ein nur vorübergehendes Verweilen dar.
34 b) Die Regelung des Art 6 § 4 Abs. 6 S 1 Buchst b FANG verstößt nach der
höchstrichterlichen Rechtsprechung auch nicht gegen Verfassungsrecht.
Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG vor.
35 „Der Gesetzgeber wollte mit der (Übergangs-)Regelung des Art 6 § 4 Abs. 6 FANG
den durch die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze eingetretenen Änderungen
auch im Fremdrentenrecht Rechnung tragen. Dieses sollte so weiter entwickelt
werden, dass es am jeweiligen Aufenthaltsort - sei es in den alten Bundesländern
oder im Beitrittsgebiet - einen angemessenen Lebensstandard sichert. Wer als
Aussiedler im Beitrittsgebiet Aufnahme gefunden hatte, sollte Leistungen erhalten,
die dem Rentenniveau der dort lebenden Bürger entsprechen. Die
unterschiedliche Leistungshöhe in den neuen und alten Bundesländern machte
es jedoch nach Ansicht des Gesetzgebers erforderlich, den Anreiz für einen
Wohnortwechsel in die alten Bundesländer zu nehmen und für Aussiedler keine
günstigeren Regelungen zu treffen, als sie für Bundesbürger im Beitrittsgebiet
gelten (vgl Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen CDU/CSU und F.D.P
vom 23.4.1991 eines RÜG, BT-Drucks 12/405, 114 ). In
Umsetzung dieser Zielvorgabe hat der Gesetzgeber in Art 6 § 4 Abs 6 FANG
sachgerecht und damit keinesfalls willkürlich für die Höhe der "Renten nach dem
FRG" als Anknüpfungspunkte auf den gewöhnlichen Aufenthalt des FRG-
Berechtigten und die unterschiedlichen Lebens- und Einkommensverhältnisse in
den neuen und alten Bundesländern abgestellt. Dass er damit für den hier
maßgeblichen Zeitraum nicht allein auf die vom Willen des Betroffenen
(grundsätzlich) unabhängige behördliche Zuweisung abgestellt hat, ergibt sich aus
den Ausführungen zu 2 c cc). Wenn auch bei einer Verlegung des gewöhnlichen
Aufenthalts eines FRG-Berechtigten aus den neuen in die alten Bundesländer den
FRG-Zeiten EP (Ost) zugeordnet bleiben und nicht die Ermittlung von EP
vorgesehen ist, entspricht dies der Rechtslage für solche Rentenberechtigte mit
rentenrechtlichen Zeiten im Beitrittsgebiet, die in einem der alten Bundesländer
ansässig sind.“ (vgl. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 1/12 R –, BSGE
112, 116-126, SozR 4-1200 § 30 Nr 6, SozR 4-5060 Art 6 § 4 Nr 2, Rn. 49)
36 3. Im Ergebnis war die Klage daher abzuweisen, da sich die angefochtenen
Bescheide als rechtmäßig erweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.