Urteil des SozG Karlsruhe vom 14.12.2015

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SG Karlsruhe Urteil vom 14.12.2015, S 11 AS 1305/15
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Ersatzanspruch bei sozialwidrigem
Verhalten - Erlöschen eines Arbeitslosengeldanspruchs wegen Sperrzeit von
mindestens 21 Wochen - Prüfungsobliegenheit des Grundsicherungsträgers -
keine Bindungswirkung des bestandskräftigen Bescheids der Bundesagentur
für Arbeit
Leitsätze
1. Das Jobcenter hat die Tatbestandsvoraussetzungen eines Ersatzanspruchs bei
sozialwidrigem Verhalten eigenständig zu prüfen.
2. Ein Bescheid der Bundesagentur für Arbeit über das Erlöschen des Anspruchs auf
Arbeitslosengeld wegen des Eintritts von Sperrzeiten von mindestens 21 Wochen
entfaltet - auch wenn er bestandskräftig ist - keine Tatbestandswirkung im Rahmen
des Ersatzanspruchs bei sozialwidrigem Verhalten.
3. Alleine das Nichteinlegen von Rechtsbehelfen gegen zu Unrecht ergangene
Sperrzeitbescheide begründet nicht den Vorwurf sozialwidrigen Verhaltens.
Tenor
Der Bescheid vom 05.01.2015 in der Fassung des Bescheids
vom 17.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 19.03.2015 wird aufgehoben.
Der Beklagte erstattet dem Kläger seine außergerichtlichen
Kosten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist das Bestehen eines Ersatzanspruchs des Beklagten
(Bekl.) bezüglich der dem Kläger (Kl.) in dem Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum
23.09.2014 erbrachten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) i. H. v. insgesamt 2.085,28 EUR wegen
der grob fahrlässigen Herbeiführung der Voraussetzungen eines Anspruchs nach
dem SGB II durch den Kl. im Streit.
2 Der am XX.XX.XXXX geborene Kl. bezog ab dem 01.03.2014 Arbeitslosengeld
(Bescheid vom 10.03.2014). Die Bundesagentur für Arbeit hob die Bewilligung von
Arbeitslosengeld ab dem 22.07.2014 auf, weil der Anspruch auf Arbeitslosengeld
wegen des Eintritts von Sperrzeiten von insgesamt 21 Wochen erloschen sei
(Bescheid vom 11.08.2014).
3 Auf den Antrag vom 29.07.2014 bewilligte der Bekl. dem Kl. durch Bescheid vom
23.09.2014 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II
für den Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum 31.12.2014. Durch den
streitgegenständlichen Bescheid vom 05.01.2015 machte er gegenüber dem Kl.
einen Ersatzanspruch bezüglich der in dem Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum
31.10.2014 erbrachten Leistungen nach dem SGB II i. H. v. insgesamt 2.731,33
EUR geltend. Der Kl. habe zumindest grob fahrlässig seine Hilfebedürftigkeit
herbeigeführt. Aufgrund seines Verhaltens seien nach dem Sozialgesetzbuch
Drittes Buch (SGB III) Sperrzeiten für die Dauer von insgesamt 21 Wochen
eingetreten. Deshalb sei der Anspruch auf Arbeitslosengeld erloschen.
4 Deswegen erhob der Kl. mit E-Mail vom 04.02.2015 und Schreiben vom
09.03.2015 Widerspruch. Er berief sich auf Vertrauensschutz und den Verbrauch
der erhaltenen Leistungen. Er sei zur Erstattung nicht in der Lage. Durch Bescheid
vom 17.03.2015 half der Bekl. dem Widerspruch insofern ab, als er den
Erstattungsanspruch auf den Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum 23.09.2014
beschränkte. Wegen der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch den Kl. zum
24.09.2014 hätte sein Anspruch auf Arbeitslosengeld zu diesem Zeitpunkt
geendet. Seine Hilfebedürftigkeit habe jedoch bis zum 30.09.2014 angedauert. Der
Erstattungsbetrag reduzierte sich dementsprechend auf 2.085,28 EUR. Im Übrigen
wies der Bekl. den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 19.03.2015 aus
den bereits in dem Ausgangsbescheid genannten Erwägungen als unbegründet
zurück.
5 Am 20.04.2015 hat der Kl. Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zur
Klagebegründung führt er aus, die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs
lägen nicht vor. Er habe dem Bekl. von Beginn an über die von der Bundesagentur
für Arbeit festgestellten Sperrzeiten mit einer Dauer von insgesamt 21 Wochen
informiert. Auch habe er nicht grob fahrlässig gehandelt, da er mit seinem
Ansprechpartner bei der Bundesagentur für Arbeit besprochen hatte, sich intensiv
um eine versicherungspflichtige Beschäftigung in seinem erlernten Beruf zu
bemühen und sich deshalb nicht auf sonstige Beschäftigungen zu bewerben.
6 Der Kl. beantragt,
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den Bescheid vom 05.01.2015 in der Fassung des Bescheids vom 17.03.2015 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.03.2015 aufzuheben.
8 Der Bekl. beantragt,
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die Klage abzuweisen.
10 Er verteidigt den angefochtenen Bescheid und führt aus, die Bundesagentur für
Arbeit habe die jeweiligen Sperrzeiten durch bestandskräftige Bescheide
festgestellt. Deren Rechtmäßigkeit sei von ihm nicht zu prüfen.
11 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakte des Bekl., der
durch das Gericht beigezogenen Verwaltungsakte der Bundesagentur für Arbeit
sowie den der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
12 Die zulässige Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist begründet. Der Bescheid vom 05.01.2015 in der
Fassung des Bescheids vom 17.03.2015 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 19.03.2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kl. in
seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Zu Unrecht macht der Bekl. durch den
vorgenannten Bescheid gegenüber dem Kl. ein Ersatzanspruch bezüglich der im
Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum 23.09.2014 erbrachten Leistungen nach dem
SGB II i. H. v. insgesamt 2.085,28 EUR wegen der grob fahrlässigen
Herbeiführung der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem SGB II geltend.
13 1. Die Rechtsgrundlage für den von dem Bekl. geltend gemachten Ersatzanspruch
ergibt sich aus § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Demnach ist, wer nach Vollendung des
18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die
Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihr
oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt
hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Aus der
Entstehungsgeschichte des § 34 SGB II sowie seinem jetzigen systematischen
Kontext mit weiteren Regelungen des SGB II ergibt sich, dass nicht jedes
verwerfliche Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach
dem SGB II verursacht, zur Erstattungspflicht führt. Erfasst wird nur ein Verhalten
mit spezifischem Bezug, d. h. „innerem Zusammenhang“, zur Herbeiführung der
Hilfebedürftigkeit bzw. Leistungserbringung. Das Verhalten, welches einen
Anspruch nach dem SGB II herbeigeführt hat, muss demnach sozialwidrig sein
(Bundessozialgericht, Urteil vom 02.11.2012, B 4 AS 39/12 R, Rn. 16 - nach juris).
14 Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben macht der Bekl. zu Unrecht durch
Bescheid vom 05.01.2015 in der Fassung des Bescheids vom 17.03.2015 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.03.2015 einen Ersatzanspruch
bezüglich der im Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum 23.09.2014 erbrachten
Leistungen nach dem SGB II i. H. v. insgesamt 2.085,28 EUR geltend. Dem Kl. ist
kein sozialwidriges Verhalten, welches seine Hilfebedürftigkeit i. S. d. § 9 Abs. 1
SGB II herbeigeführt hat, vorzuwerfen. Die Bundesagentur für Arbeit hat zu
Unrecht das ihm bewilligte Arbeitslosengeld ab dem 22.07.2014 aufgehoben. Der
Anspruch des Kl. auf Arbeitslosengeld war nicht gemäß § 161 Abs. 1 Nr. 2 SGB III
erloschen. Die gegenüber dem Kl. von Seiten der Bundesagentur für Arbeit
festgestellten Sperrzeiten erreichen zwar eine Dauer von insgesamt 21 Wochen.
Diese Sperrzeiten sind jedoch teilweise zu Unrecht festgestellt.
15 a) Der Bekl. kann sich zunächst nicht auf die Bestandskraft der gegenüber dem Kl.
ergangenen Sperrzeitbescheide berufen. Aus § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II ergibt sich
eine eigenständige Obliegenheit des Bekl. zur Prüfung, ob dem
Leistungsempfänger ein sozialwidriges Verhalten vorzuwerfen ist. Eine Bindung an
die Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit - und damit das Fehlen einer
eigenständigen Kompetenz zur Prüfung - müsste gesetzlich ausdrücklich - etwa
wie in § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II - normiert sein.
16 b) Alleine das Nichteinlegen von Rechtsbehelfen gegen die teilweise zu Unrecht
festgestellten Sperrzeiten begründet nicht den Vorwurf sozialwidrigen Verhaltens.
Es besteht grundsätzlich keine Pflicht des Leistungsempfängers, sich gegen einen
zu Unrecht ergangenen Bescheid zur Wehr zu setzen (vgl. Bayerisches
Landessozialgericht, Urteil vom 21.03.2012, L 16 AS 616/10, Rn. 39 - nach juris).
17 c) Die Bescheide der Bundesagentur für Arbeit, durch welche sie jeweils
gegenüber dem Kl. den Eintritt von Sperrzeiten für die Dauer von zwei Wochen
(13.05.2014 - 26.05.2004, 28.05.2014 - 10.06.2014, 11.06.2014 - 24.06.2014,
01.07.2014 - 14.07.2014, 15.07.2014 - 28.07.2014, 29.07.2014 - 11.08.2014,
26.08.2004 - 08.09.20014, 12.08.2014 - 25.08.2014) wegen dem Nichtnachweis
von Eigenbemühungen zur Beendigung seiner Arbeitslosigkeit festgestellt hatte
(Bescheide vom 18.06.2014, vom 23.06.2014 und vom 11.08.2014), sind
rechtswidrig. Die Pflicht des Kl. zur Vornahme der entsprechenden
Eigenbemühungen hat sich aus der Eingliederungsvereinbarung vom 24.04.2014
ergeben. Demnach hatte der Kl. sich auf mindestens sechs
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse pro Woche zu bewerben.
Die Verpflichtung des Kl. zur Vornahme von Bewerbungen in dieser Häufigkeit ist
zur Überzeugung des Gerichts unzumutbar. Denn jedenfalls theoretisch sollte eine
Bewerbung erfolgsversprechend sein (Brand, in: Brand, SGB III, 7. Aufl. 2015, § 37
SGB III, Rn. 7). Bei einer derartigen Häufigkeit der von dem Kl. abverlangten
Bewerbungen, ist eine entsprechende Erfolgswahrscheinlichkeit zur Überzeugung
des Gerichts nicht mehr gegeben. Das Bewerben wird vielmehr zum Selbstzweck.
18 d) Zu Unrecht hat die Bundesagentur für Arbeit im Weiteren durch Bescheid vom
11.08.2015 gegenüber dem Kl. den Eintritt einer Sperrzeit für die Dauer von sechs
Wochen wegen dem Nichtbewerben auf den Vermittlungsvorschlag hinsichtlich
einer Tätigkeit bei der T. AG festgestellt. Die dem diesbezüglichen
Vermittlungsvorschlag beigefügte Rechtsfolgenbelehrung war unzureichend. Sie
hat dem Kl. nicht klar vor Augen geführt, mit welcher Dauer eine Sperrzeit bei
einem Nichtbewerben eintritt. Die Rechtsfolgenbelehrung verweist lediglich auf die
Höchstdauer der Sperrzeit von zwölf Wochen, die Dauer von drei Wochen bei
einem erstmaligen versicherungswidrigem Verhalten und von sechs Wochen bei
einem zweiten versicherungswidrigen Verhalten. Erforderlich wäre hingegen
gewesen, den Kl. explizit auf die Dauer der eintretenden Sperrzeit von sechs
Wochen bei einem Nichtbewerben auf den Vermittlungsvorschlag hinzuweisen.
19 Nach alledem war der Bescheid vom 05.01.2015 in der Fassung des Bescheids
vom 17.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.03.2015
aufzuheben.
20 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.