Urteil des SozG Karlsruhe vom 20.05.2016

änderung der verhältnisse, unfallfolgen, erlass, unfallversicherung

SG Karlsruhe Urteil vom 20.5.2016, S 1 U 3379/15
Gesetzliche Unfallversicherung - Herabsetzung der MdE - sozialrechtliches
Verwaltungsverfahren - wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse
- Aufhebung eines Verwaltungsakts - formelle Anforderungen an die Bezeichnung des
aufzuhebenden Verwaltungsakts
Leitsätze
Die Aufhebung eines Verwaltungsakts wegen nachträglich eingetretener wesentlicher Änderung der
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse erfordert aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit die
genaue Benennung des aufzuhebenden Verwaltungsakts auch nach seinem Datum in der
Aufhebungsentscheidung.
Tenor
Der Bescheid vom 20. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2015 wird
aufgehoben.
Die Beklagte erstattet dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Beklagte die Verletztenrente des Klägers zu Recht von
bislang 30 v.H. auf - noch - 20 v.H. herabgesetzt hat.
2 Bei dem ... geborenen Kläger hatte die Beklagte, gestützt auf die Gutachten des Orthopäden Dr. L. vom
06.08.2013 mit ergänzender Stellungnahme vom 22.10.2013 und des Neurologen Prof. Dr. A. vom
04.09.2013, ein Ereignis vom 24.09.2011 als Arbeitsunfall und als dessen Folge
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„Rechts: reizlose Narben im Bereich der Mitte des Schienbeines von ca. 13 cm und ca. 14 cm und ca. 6 cm
reizlose Narbe an der Seite des Schienbeines, Schwellneigung des Beines, deutliche Muskelminderung im
Bereich des Oberschenkels, Schädigung des Nervus peroneus mit Sensibilitätsminderungen am lateralen
Fußrand bis zum Unterschenkel ziehend mit Großzehenheberschwäche, Bewegungseinschränkung im
oberen Sprunggelenk und Kniegelenk, beginnende Kniegelenksarthrose sowie diskrete posttraumatische
Osteoporose nach operativ versorgtem offenen Schienbeinkopftrümmerbruch.
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Folgenlos ausgeheilter Rippenserienbruch (4. - 6. Rippe) rechts und Rippenbruch (2. Rippe) links.“
5 anerkannt und dem Kläger ab dem 05.03.2012 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung
der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. der Vollrente gewährt (Bescheid vom 15.04.2014). Dabei
berücksichtigte die Beklagte eine Teil-MdE von jeweils 20 v.H. sowohl für die Unfallfolgen auf orthopädisch-
chirurgischem als auch auf neurologischem Fachgebiet.
6 Im Dezember 2014 leitete sie von Amts wegen eine Nachprüfung zur Höhe der unfallbedingten MdE ein.
Hierzu ließ sie den Kläger durch den Orthopäden Dr. M. (Gutachten vom 07.01.2015) und erneut durch Prof.
Dr. A. (Gutachten vom 27.02.2015 untersuchen und begutachten. Während Prof. Dr. A. eine Änderung der
Unfallfolgen auf seinem Fachgebiet im Vergleich zur Vorbegutachtung verneinte, führte Dr. M.
zusammenfassend aus, die Beweglichkeit des rechten Kniegelenks habe von 0-0-120° auf jetzt 0-0-130°
zugenommen. Eine Muskelminderung des rechten Beines bestehe weiterhin. Die Gesamt-MdE bewertete Dr.
M. unter Einschluss des Gutachtens des Prof. Dr. A. mit 20 v.H.. Nach Anhörung des Klägers (Schreiben vom
27.04.2015) setzte die Beklagte die Verletztenrente mit Wirkung vom 01.06.2015 auf 20 v.H. herab mit der
Begründung, die dem Bescheid vom 15.04.2014 zugrundeliegenden Verhältnisse hätten sich aufgrund einer
Verbesserung der Kniegelenksbeweglichkeit wesentlich geändert. Dies rechtfertige die Minderung der
Gesamt-MdE auf - noch - 20 v.H. (Bescheid vom 20.05.2015, Widerspruchsbescheid vom 23.09.2015).
7 Deswegen hat der Kläger am 19.10.2015 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zu deren Begründung
trägt er im Wesentlichen vor, in den anerkannten Unfallfolgen sei seit dem Erlass des Bescheides vom
15.04.2014 keine wesentliche Besserung eingetreten, die eine Herabsetzung der unfallbedingten MdE
rechtfertigen könnte. Eine Verbesserung der Kniebeweglichkeit für die Beugung um 10° sei für ihn realistisch
nicht bemerkbar. Überdies habe er weiterhin Beschwerden beim Sitzen, Gehen, Laufen und Tragen. Dr. M.
habe in seinem Gutachten außerdem keine Teil-MdE für die verbliebenen Unfallfolgen auf orthopädisch-
chirurgischem Fachgebiet benannt. Eine Muskelminderung des rechten Oberschenkels bestehe weiterhin.
Zwar habe er durch Übungen an Geräten im Fitnessstudio einen gewissen Aufbau der Beinmuskulatur
erreichen können. Er belaste das rechte Bein insoweit trotz Schmerzen und unter Einsatz von
Schmerzmitteln nur deshalb, um einem weiteren Muskelabbau vorzubeugen.
8 Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 20. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. September 2015
aufzuheben.
10 Die Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Sie erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend. Ihr Bescheid sei sowohl in formeller Hinsicht als
auch materiell-rechtlich nicht zu beanstanden. Neben einer Verbesserung der Beweglichkeit des rechten
Kniegelenks habe sich auch das Bewegungsausmaß des unfallgeschädigten rechten oberen Sprunggelenks
verbessert.
13 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
14 Die Klage ist als reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes ) zulässig.
Denn bei einem Erfolg des Klagebegehrens lebte der frühere Bescheid - hier: derjenige vom 15.04.2014 -
wieder auf (vgl. BSG SozR 4-1500 § 77 Nr. 1, Rn. 13; BSG SozR 4-4200 § 7 Nr. 16, Rn. 10; BSG vom
13.02.2013 - B 2 U 25/11 R -, Rn. 10 und BSG SozR 4-7837 § 2 Nr. 24, Rn. 15). Mit der Aufhebung
der angefochtenen Bescheide wäre die Beschwer des Klägers mithin beseitigt und müsste die Beklagte die
Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. über den 31.05.2015 hinaus weiterzahlen.
15 Die Klage ist auch begründet. Denn die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger
in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG).
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1.
Nach § 48 Abs. 1 S. 1 des Sozialgesetzbuchs - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB
X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine
wesentliche Änderung eingetreten ist. Diese Vorschrift wird für den Bereich der gesetzlichen
Unfallversicherung durch § 73 Abs. 3 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII)
spezifisch ergänzt. Danach ist eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X hinsichtlich der
Feststellung der Höhe der MdE nur dann wesentlich, wenn sie mehr als 5 v.H. beträgt.
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2.
Orientiert an diesen Rechtsgrundlagen sind die angefochtenen Bescheide bereits formell rechtswidrig.
Denn nach dem Wortlaut des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist bei einer Änderung der tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnisse eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung dieser Verwaltungsakt mit Wirkung für
die Zukunft
aufzuheben
. Aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit ist dabei grundsätzlich
erforderlich, in der Aufhebungsentscheidung den aufzuhebenden Verwaltungsakt genau zu benennen und
den Umfang der Aufhebung zu bezeichnen (vgl. BSG SozR 4-2700 § 62 Nr. 1; Rn. 22 und BSG SozR 4-2700
§ 62 Nr. 2, Rn. 12; ferner LSG Niedersachsen-Bremen vom 01.11.2011 - L 9 AS 831/10 -, Rn. 40 ).
Um dem Bestimmtheitsgebot des § 33 SGB X zu genügen, muss der Sozialleistungsträger den
aufzuhebenden oder zurückzunehmenden Bescheid auch nach Datum bezeichnen (vgl. LSG Hamburg vom
20.10.2011 - L 5 AS 87/08 -, Rn. 35 und LSG Baden-Württemberg vom 20.06.2013 - L 6 VK 3112/10 -, Rn.
27 f. ).
18 Diesen formellen Anforderungen genügen die streitgegenständlichen Bescheide nicht. Denn eine Aufhebung
des Bescheides vom 15.04.2014 hat die Beklagte darin nicht verfügt. Vielmehr beschränkt sich der
Verfügungssatz auf die Mitteilung, dass bisher ein Anspruch auf eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer
MdE in Höhe von 30 v.H. bestand und diese Rente mit Wirkung vom 01.06.2015 nach einer MdE in Höhe von
20 v.H. geleistet wird. Darin liegt weder eine ausdrückliche noch stillschweigende Aufhebung des Bescheides
vom 15.04.2014. Den Bescheid vom 15.04.2014 hat die Beklagte erst in der Begründung des Bescheides
vom 20.05.2015 und dort zudem allein im Zusammenhang mit einer von ihr angenommenen wesentlichen
Änderung der Verhältnisse angeführt. Auch insoweit hat sie keine - wie erforderlich - Aufhebung des
Ausgangsbescheides verfügt. Schon dieser formelle Fehler führt deshalb zur Rechtswidrigkeit und damit der
Aufhebung der angefochtenen Bescheide.
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3.
Die angefochtenen Bescheide haben darüber hinaus auch materiell-rechtlich keinen Bestand. Denn
aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens ist seit dem Erlass des Bescheides vom 15.04.2014 keine
wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse - der hier allein in Betracht kommenden Alternative
des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X i.V.m. § 73 Abs. 3 SGB VII - eingetreten. Dies steht zur Überzeugung der
Kammer fest aufgrund der Gutachten des Prof. Dr. A. und des Dr. M., die die Kammer im Wege des
Urkundenbeweises verwertet:
20 Prof. Dr. A. hat als Folge des Arbeitsunfalls vom 24.09.2011 - weiterhin - eine Schädigung des Nervus
peroneus communis mit führender Störung des Nervus peroneus superficialis rechts, die zu einer
Großzehenheberparese rechts Kraftgrad 4/5 führt, eine anhaltende Sensibilitätsstörung im Bereich des
lateralen Unterschenkels und des Fußrückens rechts bis in die rechte Großzehe ziehend mit ausgeprägter
Allodynie, das heißt, einer gesteigerten Schmerzempfindlichkeit, und eine Minderinnervation bzw.
Minderbelastbarkeit des rechten Beines und einen dadurch bestehenden Muskelschwund am rechten
Oberschenkel (minus 11,5 cm) diagnostiziert. Zusammenfassend hat er eine gegenüber seinem
Vorgutachten vom 04.09.2013 eingetretene wesentliche Änderung der Unfallfolgen auf seinem Fachgebiet
ausdrücklich verneint. Zu Recht hat Prof. Dr. A. deshalb die (neurologische) Teil-MdE weiterhin mit 20 v.H.
bewertet.
21 Entgegen der Ansicht der Beklagten ist indes auch bzgl. der orthopädisch-chirurgischen Unfallfolgen keine
wesentliche Besserung, die eine Herabsetzung der Teil-MdE auf diesem Fachgebiet rechtfertigen könnte,
eingetreten. So erhob Dr. M. u.a. eine leicht gestörte Gangabwicklung mit angedeutetem Hinken rechts. Die
bereits im Gutachten des Dr. L. vom 06.08.2013 beschriebenen Narbenverhältnisse bestehen nach dem
Gutachten des Dr. M. unverändert fort. Die von ihm objektivierte Muskelminderung im Bereich des rechten
Oberschenkels mit bis zu 3 cm ist nur geringfügig geringer ausgeprägt als bei der Untersuchung und
Begutachtung des Klägers durch Dr. L. (minus 4 cm). Die von Dr. M. objektivierte Zunahme des
Bewegungsausmaßes des rechten oberen Sprunggelenks auf nunmehr 20-0-40° gegenüber 5-0-30° bei der
Untersuchung und Begutachtung durch Dr. L. wirkt sich auf die orthopädisch-chirurgische Teil-MdE nicht aus,
weil erst eine Bewegungseinschränkung dieses Gelenks auf 0-0-30° eine MdE um 10 v.H. rechtfertigte (vgl.
Schönberger/Mehrens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 678). Das bedeutet, dass
auch die Teil-MdE für das von Dr. L. im August 2013 erhobene Bewegungsausmaß am rechten oberen
Sprunggelenk weniger als 10 v.H. betrug. Die außerdem von Dr. M. erhobene Zunahme der Beugefähigkeit
des rechten Kniegelenks 120° auf nunmehr 130° stellt ebenfalls keine wesentliche funktionelle Besserung
dar, weil sowohl eine Beugefähigkeit von 120° als auch von 130° innerhalb der physiologischen Normbreite
liegt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 656). Überdies bedingt eine Bewegungseinschränkung
des Kniegelenks für die Streckung/Beugung auf 0-0-120° für sich lediglich eine unfallbedingte MdE um 10
v.H. (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 654). Vor diesem Hintergrund ist in Bezug auf die
orthopädisch-chirurgischen Unfallfolgen seit dem Erlass des Bescheides vom 15.04.2014 zwar eine Zunahme
der Bewegungsausmaße des rechten Knie- und oberen Sprunggelenks eingetreten. Diese ist jedoch nicht
wesentlich, weil sie ungeachtet des Umstands, dass die Beklagte bislang von einer Teil-MdE von 20 v.H.
ausgegangen ist, nicht mehr als 5 v.H. beträgt.
22 Die Beklagte war deshalb nicht berechtigt, die unfallbedingte MdE von bislang 30 v.H. auf nunmehr 20 v.H.
herabzusetzen.
23
4.
Aus eben diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig und war dem klägerischen
Begehren voll inhaltlich stattzugeben.
24 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 und 193 Abs. 1 SGG.