Urteil des SozG Karlsruhe vom 06.02.2007

SozG Karlsruhe: Arbeitslosengeld II, vollständige Ablehnung von Leistungen, Antragstellung für nachfolgende Bewilligungszeiträume durch Klageverfahren, Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft

SG Karlsruhe Beschluß vom 6.2.2007, S 5 AS 370/07 ER
Arbeitslosengeld II - vollständige Ablehnung von Leistungen - Antragstellung für nachfolgende Bewilligungszeiträume durch Klageverfahren -
Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft - Untersuchungsgrundsatz - Beweislastumkehr
Leitsätze
1. Hat eine Behörde eine Leistung nach dem SGB II vollständig abgelehnt, so liegt in dem anschließenden Klageverfahren eine Antragstellung im
Sinne des § 37 SGB II für nachfolgende Bewilligungszeiträume.
2. Mit der Definition einer „Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft“ nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II knüpft der Gesetzgeber an die von der
Rechtsprechung erarbeiteten Kriterien für eine „eheähnliche Gemeinschaft“ an; eine inhaltliche Neubestimmung des Begriffs hat der Gesetzgeber
nicht beabsichtigt.
3. Die Bedeutung des § 7 Abs. 3a SGB II erschöpft sich in einer Umkehr der Beweislast: Während bis zum 31.7.2006 die Beweislast für eine
eheähnliche Gemeinschaft bei der Behörde lag, gehen ab dem 1.8.2006 unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 3a SGB II verbleibende Zweifel zu
Lasten des Antragstellers.
Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 23.1.2007 bis zum 19.7.2007
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Im übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
1
Streitig ist die vorläufige Zahlung von Arbeitslosengeld II ab dem 19.1.2007.
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Mit Bescheiden vom 6.3.2006 und 17.7.2006 hatte die Antragsgegnerin den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II bis zum 30.6.2006 bewilligt.
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Am 19.7.2006 beantragten die Antragsteller die Fortzahlung der Leistungen.
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Die Antragsgegnerin bewilligte daraufhin mit Bescheid vom 30.8.2006 den Antragstellern zu 2) bis 4) für Juli 2006 Leistungen in Höhe von
insgesamt 297 EUR.
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Für die Zeit ab dem 1.8.2006 lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 31.10.2006 die beantragten Leistungen ab. Zur Begründung gab sie
an, die Antragsteller seien nicht hilfebedürftig. Denn der Lebensunterhalts der Antragsteller werde durch das Einkommen und das Vermögen von
Frau Hanne S. gedeckt. Frau S. gehöre als Partnerin des Antragstellers zu 1) zur Bedarfsgemeinschaft. Sie lebe mit dem Antragsteller zu 1) in
einem gemeinsamen Haushalt so zusammen, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen sei, Verantwortung
füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Dafür spreche, dass der Antragsteller zu 1) und Frau S. länger als ein Jahr zusammen lebten
und dass sie Kinder im gemeinsamen Haushalt versorgten.
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Hiergegen legten die Antragsteller am 1.12.2006 Widerspruch ein. Sie machten geltend, zwischen dem Antragsteller zu 1) und Frau S. bestehe
keine eheähnliche Gemeinschaft, sondern allenfalls eine Wirtschaft- und Wohngemeinschaft. Dies habe bereits das Sozialgericht mit Beschluss
vom 8.7.2006 (S 5 AS 2598/06 ER) festgestellt. Der Antragsteller zu 1) habe von Frau S. mit einem schriftlichen Vertrag Räumlichkeiten in dem
gemeinsam genutzten Haus gemietet und überweise die Miete auf ihr Konto. Über das Konto des jeweils anderen dürften der Antragsteller zu 1)
und Frau S. nicht verfügen. Frau S. betreue auch nicht die Kinder des Antragstellers zu 1), also die Antragsteller zu 2) bis 4); vielmehr sei der
Antragsteller zu 1) für deren Erziehung allein verantwortlich.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 19.12.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und bekräftigte zur Begründung ihre Auffassung, wonach
Frau S. gem. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II zur Bedarfsgemeinschaft gehöre. Sie lebe seit dem 1.7.2004, also länger als ein Jahr, mit dem Antragsteller
zu 1) zusammen. Zudem habe der Antragsteller zu 1) am 25.3.2006 in einem Formular angegeben, die Kinder würden im gemeinsamen
Haushalt versorgt. Angesichts dessen werde gem. § 7 Abs. 3a SGB II der Wille des Antragstellers zu 1) und Frau S.s vermutet, Verantwortung
füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Diese Vermutung werde durch die Feststellungen anlässlich einer Außenprüfung am
21.7.2006 erhärtet: Diese Außenprüfung habe ergeben, dass der Antragsteller zu 1) und Frau S. Küche, Bad, Schlafzimmer und Essecke
gemeinsam nutzten. Die zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Personen hätten einen monatlichen Bedarf in Höhe von 311 EUR (Antragsteller
zu 1) und Frau S.), 276 EUR (Antragsteller zu 2) und 3)) sowie 207 EUR (Antragsteller zu 4)), insgesamt 1.381 EUR. Dem stünden ein zu
berücksichtigendes Erwerbseinkommen von Frau S. in Höhe von 2.423,47 EUR sowie einer Maus Kindergeld in Höhe von 3 x 154 EUR = 462
EUR gegenüber. Vor diesem Hintergrund sei die Bedarfsgemeinschaft nicht hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II.
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Hiergegen haben die Antragsteller am 17.1.2007 Klage erhoben (S 5 AS 296/07). Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.
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Am 23.1.2007 haben die Antragsteller darüber hinaus einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Sie tragen ergänzend vor, sie nutzten
zwar - wie dies für eine Wohngemeinschaft typisch sei - Küche, Bad und Toilette gemeinsam mit Frau S., nicht hingegen das Schlafzimmer.
Vielmehr lebten sie in einem eigenständigen Wohnbereich im ausgebauten Dachboden. Unzutreffend sei auch die Darstellung der
Antragsgegnerin, Frau S. versorge die Antragsteller zu 2) bis 4). Nur bei einer unvorhergesehenen kurzfristigen Abwesenheit des Antragstellers
zu 1) passe sie auf die Kinder auf; üblicherweise übernehme allerdings die erwachsene Tochter des Antragstellers zu 1) diese Aufgabe. Es liege
somit keine eheähnliche Gemeinschaft zwischen dem Antragsteller zu 1) und Frau S. vor. Die Neuregelung zur Unterhaltspflicht in nichtehelichen
Bedarfsgemeinschaften sei zudem verfassungswidrig: Der in der Bedarfsgemeinschaft lebende nichteheliche Partner sei gegenüber den Kindern
seines Partners familienrechtlich nicht zum Unterhalt verpflichtet. Könnten die Kinder mithin vom nichtehelichen Partner kein Geld einfordern, sei
das Einkommen lediglich fiktiv. Gleichwohl erhielten sie nach der gesetzlichen Regelung Leistungen erst, wenn sie allein oder mit dem Elternteil
den Haushalt verließen. Dieser mittelbare Zwang zur Beendigung einer Partnerschaft widerspräche dem grundgesetzlich garantierten Recht auf
Persönlichkeitsentfaltung.
10 Die Antragsteller beantragen,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen für die Zeit vom 19.1. bis zum 19.7.2007 Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.
12 Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
14 Sie trägt ergänzend vor, es sei zwar richtig, dass es keine bürgerlich-rechtliche Unterhaltspflicht gebe, die § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II entspreche.
Gleichwohl handele es sich um geltendes Recht, an das sie, die Antragsgegnerin, als Teil der vollziehenden Gewalt gebunden sei. Die
gesetzliche Vermutung nach § 7 Abs. 3a SGB II, dass zwischen dem Antragsteller zu 1) und Frau S. eine eheähnliche Gemeinschaft bestehe,
werde durch verschiedene Indizien bestätigt: Im Zuge der Verhandlungen über das Sorgerecht für die Antragsteller zu 2) bis 4) sei Frau S. stets
als Partnerin in eheähnlicher Gemeinschaft angegeben worden. Auch im Protokoll der Sitzung des Amtsgerichts Calw vom 10.12.2004 habe der
Richter Frau S. als „Lebensgefährtin“ des Antragstellers zu 1) bezeichnet, ohne dass Frau S. dies beanstandet habe. Bei Besichtigung der
Wohnung habe der Antragsteller zu 1) zudem angegeben, er übernachte gelegentlich auch im Schlafzimmer von Frau S.. Für eine Einstehens-
und Verantwortungsgemeinschaft spreche zudem die Nutzung des Pkws von Frau S. durch den Antragsteller zu 1).
15 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Prozessakten S 5 AS 2598/06 ER, S 5 AS 4624/06
und S 5 AS 296/07 sowie die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
16 Der Antrag ist zulässig und überwiegend begründet. Die Antragsteller haben Anspruch auf vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II (dazu 1.). Allerdings können sie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine Nachzahlung für die
Vergangenheit beanspruchen, sondern nur Leistungen für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht (dazu 2.).
17 Eine einstweilige Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn ein Anordnungsanspruch
und ein Anordnungsgrund vorliegen und die Abwägung der betroffenen Interessen zugunsten des Antragstellers ausfällt (Krodel, NZS 2002, 234,
240). So verhält es sich hier.
18 1. Der erforderliche Anordnungsanspruch besteht, wenn nach summarischer Prüfung der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, Rdnr. 293). Die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruchs sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
19 Im vorliegenden Fall ist nach summarischer Prüfung ein Anspruch der Antragsteller auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II überwiegend wahrscheinlich.
20 a) Dem Anspruch ab dem 23.1.2007 steht nicht entgegen, dass die Antragsteller - soweit ersichtlich - bei der Antragsgegnerin seit dem 19.7.2006
keinen weiteren Fortzahlungsantrag gestellt haben.
21 Zwar werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. § 37 Abs. 1 SGB II nur auf Antrag erbracht. Nach Ablauf eines jeden
Bewilligungszeitraums ist ein erneuter Antrag erforderlich ( Mayer , NZS 2007, 17, 18).
22 Ausgehend vom Fortzahlungsantrag am 19.7.2006 endete der (fiktive) Bewilligungszeitraum gem. § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II im vorliegenden Fall
mit dem 19.1.2007.
23 Eines erneuten Antrags bei der Antragsgegnerin bedurfte es gleichwohl nicht. Denn wenn der Leistungsträger - wie hier - die Leistung
vollständig abgelehnt hat, liegt in dem anschließenden Klageverfahren (hier: S 5 AS 296/07) zugleich eine Antragstellung im Sinne des § 37 SGB
II für die nachfolgenden Bewilligungszeiträume ( Mayer , a. a. O., Seite 19).
24 b) Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, (2.)
erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (§ 7 Abs. 1 Satz 1
SGB II). Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben (§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB
II). Zur Bedarfsgemeinschaft gehören u. a. die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (§ 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II) und deren dem Haushalt angehörende
unverheiratete Kinder, wenn diese das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen die
Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beschaffen können (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II).
25 Nach summarischer Prüfung sind die Antragsteller hilfebedürftig. Hilfebedürftig ist u. a., wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend
aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche
Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II).
26 aa) Die monatliche Regelleistung für den Antragsteller zu 1) beträgt gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II 345 EUR, für den Antragsteller zu 2) gemäß
§ 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II 276 EUR, für den Antragsteller zu 3) gemäß § 28 Satz 3 Nr. 1 SGB II ebenfalls 276 EUR und für den Antragsteller zu 4)
gemäß § 28 S. 3 Nr. 1 SGB II 207 EUR, insgesamt 1.104 EUR. Dem steht zu berücksichtigendes Einkommen aus Kindergeld (3 x 154 EUR)
gegenüber. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller zu 1) gegenwärtig Einkommen aus seiner selbständigen Tätigkeit erzielt. Auszugehen
ist somit von einem ungedeckten Bedarf, dessen genaue Höhe die Antragsgegnerin - unter Berücksichtigung etwaigen Einkommens des
Antragstellers zu 1) aus seiner selbständigen Tätigkeit - noch festzustellen hat.
27 bb) Einstweilen nicht zu folgen vermag das Gericht der Auffassung der Antragsgegnerin, auch das Einkommen von Frau S. müsse bei der
Prüfung der Hilfebedürftigkeit Berücksichtigung finden:
28 (1) Allerdings sind bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und das Vermögen des Partners zu
berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Partner ist u. a. eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen
Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen
und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II in der seit dem 1.8.2006 geltenden Fassung des Gesetzes vom 20.7.2006, BGBl I Seite
1706).
29 Mit dieser Definition einer „Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft“ will der Gesetzgeber ersichtlich an die von der Rechtsprechung
erarbeiteten Kriterien für eine „eheähnliche Gemeinschaft“ anknüpfen; eine inhaltliche Neubestimmung des Begriffs hat der Gesetzgeber nicht
beabsichtigt (siehe BT-Drucks. 16/1410 Seite 19; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3.8.2006, L 9 AS 349/06 ER, Rdnr. 31 - nach
Juris; Steck / Kossens, NZS 2006, 462).
30 Nach bisheriger Rechtsprechung setzt eine eheähnliche Gemeinschaft - und damit auch eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft -
eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft voraus, die über eine bloße Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht. Sie muss sich
durch innere Bindungen auszeichnen, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner in den Not- und Wechselfällen des Lebens begründen (LSG
Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.1.2006, L 7 SO 5532/05 ER-B, Rdnr. 10 - nach Juris; Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rdnr.
27). Maßgebend ist eine Gesamtwürdigung der feststellbaren (äußeren) Tatsachen, die einen Rückschluss auf das Bestehen einer solchen
(inneren) Gemeinschaft zulassen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.6.2006, L 13 AS 1824/06 ER-B).
31 Gemessen hieran ist das Gericht vorläufig nicht davon überzeugt, der Antragsteller zu 1) lebe mit Frau S. in einer Verantwortungs- und
Einstehensgemeinschaft:
32 Eine Wohngemeinschaft reicht für sich genommen nicht aus, um eine solche Gemeinschaft zu begründen. Dies gilt selbst dann, wenn - wie hier -
die zusammen wohnenden Personen die Wohnung gemeinsam gesucht und bezogen haben (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom
12.1.2006, L 7 SO 5532/05 ER-B, Rdnr. 10 - nach Juris).
33 Bereits eine - ohnehin nicht genügende - Wirtschaftsgemeinschaft erscheint hier zweifelhaft. Denn der Antragsteller zu 1) hat mit Frau S. einen
schriftlichen Mietvertrag geschlossen und überweist die Miete von einem eigenen Konto auf das von Frau S.; es besteht offenbar kein Recht auf
wechselseitigen Kontenzugriff. Der Möglichkeit des Antragstellers zu 1), Frau S.s Fahrzeug zu nutzen, kommt keine wesentliche Bedeutung zu.
Zwar kann eine solche Befugnis grundsätzlich als Indiz für eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft dienen (vgl. Debus, SGb 2006, 82,
84). Im vorliegenden Fall darf der Antragsteller zu 1) den PKW aber nur mit jeweiliger Zustimmung von Frau S. fahren. Eine relevante
Verfügungsmöglichkeit über fremdes Eigentum stellt dies nicht dar.
34 Es liegen gegenwärtig auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frau S. die im gemeinsamen Haushalt lebenden Kinder des Antragstellers zu
1), die Antragsteller zu 2) - 4), in wesentlichem Umfang betreut. Zwischen dem Antragsteller zu 1) und Frau S. besteht wohl Einigkeit, dass für die
Erziehung grundsätzlich allein der Antragsteller zu 1) zuständig ist. Gelegentliche unterstützende Gefälligkeiten Frau S.s (etwa die - seltene -
Mitnahme der Kinder zur Schule, Hilfe bei Hausarbeiten oder das Zubereiten gemeinsamer Mahlzeiten) stellen dieses Ergebnis nicht in Frage.
35 Für das Gericht nachvollziehbar hat Frau S. zudem im Rahmen des Erörterungstermins vom 5.7.2006 (in der Sache S 5 AS 2598/06 ER) darauf
hingewiesen, dass sie wegen ihrer gesundheitlichen Situation und ihrer persönlichen Biografie großen Wert auf Eigenständigkeit lege und für sie
daher eine eheähnliche Gemeinschaft nicht in Betracht komme.
36 Nicht belegt ist der Vortrag der Antragsgegnerin, der Antragsteller zu 1) habe ihr im Rahmen des Hausbesuchs vom 21.7.2006 gesagt, er
übernachte gelegentlich im Schlafzimmer von Frau S.. Dies wird von den Antragstellern gerade bestritten.
37 Keinerlei Beweiswert kommt schließlich den Protokollen über die nichtöffentlichen Sitzungen des Amtsgerichts C. vom 1. und 10.12.2004 (6 F
449/04) zu, in denen Frau S. vom Richter H. und von Frau G. (Jugendamt C.) als „Lebensgefährtin“ des Antragstellers zu 1) bezeichnet wird.
Denn Richter H. und Frau G. haben diesen unjuristischen Begriff erkennbar ohne Bezug zu § 7 Abs. 3 SGB II (der damals ohnehin noch nicht in
Kraft war) benutzt; es bestand für sie kein Anlass, sich mit den Voraussetzungen einer eheähnlichen Gemeinschaft auseinander zu setzen. Im
übrigen wäre die Einschätzung dieser beiden Personen für das vorliegende Verfahren nicht bindend.
38 Vor diesem Hintergrund besteht nach Überzeugung des Gerichts keine Wirtschaftsgemeinschaft oder gar Lebensgemeinschaft zwischen dem
Antragsteller zu 1) und Frau S..
39 (2) § 7 Abs. 3a SGB II führt hier zu keinem anderen Ergebnis.
40 Nach dieser Vorschrift wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, unter bestimmten
Voraussetzungen vermutet (z. B. wenn die Partner länger als ein Jahr zusammenleben). Die Vermutung ist aber widerlegbar. § 7 Abs. 3a SGB II
entbindet Behörde und Gericht nicht von ihrer aus dem Untersuchungsgrundsatz (§ 20 SGB X; § 103 SGG) folgenden Verpflichtung, den
Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und die Frage einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft unter Würdigung aller Umstände zu
prüfen und zu entscheiden (BT-Drucks. 16/1416 Seite 19 f.).
41 Die Bedeutung des § 7 Abs. 3a SGB II erschöpft sich in einer Umkehr der Beweislast (BT-Drucks. 16/1416 Seite 19; Steck / Kossens, a. a. O.,
Seite 462 f.): Während bis zum 31.7.2006 die Beweislast für eine eheähnliche Gemeinschaft bei der Behörde lag (so z. B. LSG Baden-
Württemberg, Beschluss vom 12.1.2006, L 7 SO 5532/05 ER-B, Rdnr. 8 - nach Juris), gehen ab dem 1.8.2006 unter den Voraussetzungen des §
7 Abs. 3a SGB II verbleibende Zweifel zu Lasten des Antragstellers.
42 Nach Vernehmung von Frau S. im Erörterungstermin vom 5.7.2006 (im Verfahren S 5 AS 2598/06 ER) sowie Beiziehung der Akten des
Jugendamtes (im Verfahren S 5 AS 4624/06) ist der Sachverhalt weitgehend aufgeklärt. Das Gericht hat keine wesentlichen Zweifel mehr daran,
dass zwischen dem Antragsteller zu 1) und Frau S. keine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft besteht. Bei dieser Sachlage ist eine
Beweislastentscheidung ausgeschlossen, sodass es auf § 7 Abs. 3a SGB II hier nicht ankommt.
43 2. Für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht besteht darüber hinaus ein Anordnungsgrund.
44 Das vorläufige Rechtsschutzverfahren bezweckt, die Entscheidung bis zum Ausspruch in der Hauptsache offen zu halten und drohenden
Beeinträchtigungen des zu sichernden Hauptsacheanspruchs vorzubeugen (Krodel, NZS 2002, 180, 181). Darüber hinaus soll mit dem
Eilverfahren die Verletzung von Rechten des Antragstellers während des Interimszeitraums bis zur Hauptsacheentscheidung vermieden werden
(BVerfG, NJW 1989, 827). Angesichts dessen ist ein wesentlicher Nachteil im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG anzunehmen, wenn bei einem
Abwarten der Hauptsacheentscheidung eine erhebliche, d. h. über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Grundrechten oder sonstigen
Rechten droht oder die Gefahr des Verlustes des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Rechtes während des Interimszeitraums bis zur
Hauptsacheentscheidung besteht (Krodel, a.a.O., Seite 182; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl., V Rdnr.
38).
45 Gemessen hieran erscheint der Erlass einer einstweiligen Anordnung im vorliegenden Fall für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht nötig. Denn
die aktuelle Hilfebedürftigkeit ließe sich durch eine Nachzahlung von Arbeitslosengeld II nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr
beheben. Zudem bestände ohne vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II keine Pflichtversicherung in der gesetzlichen
Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung. Denn gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V und § 20 Abs. 1 Nr. 2a SGB XI setzt der
Versicherungsschutz den tatsächlichen Bezug von Arbeitslosengeld II voraus ( Baier in: Krauskopf, SozKV, § 5 SGB V Rdnr. 16b).
46 Kein Anordnungsgrund liegt allerdings vor, soweit die Antragsteller einstweilige Nachzahlung von Leistungen für die Zeit vom 19. bis zum
22.1.2007 (dem Tag vor Antragstellung bei Gericht) beantragt. Denn im vorläufigen Rechtsschutzverfahren sind Leistungen nach dem SGB II
grundsätzlich nicht für die Vergangenheit zu bewilligen ( Conradis in: LPK-SGB II, Anhang Verfahren, Rdnr. 121), sondern erst ab Antragstellung
bei Gericht ( Brühl/Conradis in: LPK-BSHG, 5. Aufl., Anhang III, Rdnr. 145 m. w. N.).
47 3. Für die Zukunft ist die einstweilige Regelung auf einen engen Zeitraum zu begrenzen. Es erscheint gerechtfertigt, insoweit auf den
regelmäßigen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II) abzustellen ( Conradis , a. a. O.).
48 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.