Urteil des SozG Hildesheim vom 04.09.2009

SozG Hildesheim: allein erziehende mutter, stromversorgung, notlage, darlehen, wiederherstellung, haushalt, hauptsache, miete, glaubhaftmachung, verschulden

Sozialgericht Hildesheim
Beschluss vom 04.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 43 AS 1610/09 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zur Begleichung ihrer
Schulden bei den Stadtwerken D. GmbH und zur Wiederherstellung der Stromversorgung ein Darlehen in Höhe von
504,20 Euro durch Überweisung der Darlehenssumme auf das Konto der Stadtwerke D. GmbH (Kundennummer
140528-33067; KtNr 34, BLZ 26250001) zu gewähren. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen
außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Übernahme von Stromschulden durch die
Gewährung eines Darlehens.
Die 1979 geborene Antragstellerin ist nach eigenen Angaben allein erziehende Mutter von zwei in ihrem Haushalt
lebenden drei- und neunjährigen Kindern. Sie bezieht seit mehreren Jahren laufende Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), zuletzt bewilligt unter Berücksichtigung des Einkommens der Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft (Kindergeld und Unterhaltszahlungen) in Höhe von 79,31 Euro je Monat; derzeit steht die
Entscheidung über den Folgeantrag der Antragstellerin vom 31. August 2009 aus.
Bereits im Jahr 2008 hatte die Antragstellerin Energiekostenrückstände. Die Beteiligten führten deswegen ein
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht (SG) Hildesheim (Az.: S 45 AS 92/08 ER), in dem
sich die Antragsgegnerin bereit erklärte, der Antragstellerin für die Begleichung eines Restbetrags an Schulden ein
Darlehen zu gewähren. Im Gegenzug versicherte die Antragstellerin, in Zukunft die monatlichen Abschlagszahlungen
pünktlich zu entrichten.
Seit Erhalt der Jahresendabrechnung der Stadtwerke D. GmbH (folgend: Stromversorgerin) vom 5. Februar 2009, nach
der die Antragstellerin wegen des zurückliegenden Stromverbrauchs einen Betrag in Höhe von 65,20 Euro
nachzuzahlen hatte, entrichtete sie in der Folgezeit weder den in Rechnung gestellten Betrag noch die monatlich
anfallenden Abschlagszahlungen in Höhe von 48,00 Euro.
Unter dem 23. Juli 2009 erhielt die Antragstellerin wegen der aufgelaufenen Rückstände in Höhe von 363,20 Euro
(inkl. Mahngebühren) erneut eine Mahnung der Stromversorgerin, mit der zugleich die Einstellung der Versorgung
angekündigte wurde.
Mit Datum vom 27. August 2009 teilte die Stromversorgerin der Antragstellerin mit, dass die Energieversorgung
wegen der weiterhin angewachsenen Rückstände in Höhe von 411,20 Euro in der Zeit vom 2. bis 4. September 2009
eingestellt werde. Das Schreiben der Stromversorgerin vom 27. August 2009 legte die Antragstellerin bei Abgabe des
Folgeantrags am 31. August 2009 der Antragsgegnerin vor.
Am 2. September 2009 wurde die Stromversorgung eingestellt. Mit am 3. September 2009 beim SG Hildesheim
eingegangenen Schreiben vom Vortag hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes gestellt, mit dem Ziel einer Übernahme der Stromschulden durch die Antragsgegnerin.
Die Antragstellerin trägt vor, dass sie ohne Strom weder Kochen noch Waschen könne, was insbesondere mit kleinen
Kindern nicht tragbarer sei; ohne funktionierenden Kühlschrank würden derzeit die Lebensmittel verderben. Zur
Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit hat sie einen Kontoauszug vom 31. August 2009 zur Gerichtsakte gereicht, der
nach dem Eingang der Leistungen nach dem SGB II für September 2009 in Höhe von 79,31 Euro einen Stand von
81,52 Euro ausweist.
Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin zur Begleichung ihrer Schulden bei der Stromversorgerin ein
Darlehen in Höhe von 504,20 Euro zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Sie sieht vor dem Hintergrund der seit Februar 2009 nicht entrichteten Abschlagszahlungen keinen unabweisbaren
Bedarf, der im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu decken wäre. Die Antragstellerin habe in der
zurückliegenden Zeit den in der Regelleistung und dem Sozialgeld enthaltenen Energiekostenanteil für Strom nicht
zweckentsprechend verwendet. Zudem sei sie im vorangegangenen gerichtlichen Eilverfahren darauf hingewiesen
worden, dass keine Schuldenübernahme seitens der Antragsgegnerin erfolgen mehr werde, wenn die monatlichen
Abschläge nicht regelmäßig und pünktlich entrichtet würden. Schließlich müsse die Antragstellerin vor der
Inanspruchnahme behördlicher Hilfe versuchen, eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Stromversorgerin
abzuschließen.
Das Gericht hat eine telefonische Auskunft des Sachbearbeiters der Stromversorgerin, Herrn E., eingeholt, der die
derzeitigen Rückstände der Antragstellerin mit 459,20 Euro und den für die Wiederherstellung der Stromversorgung
erforderlichen Betrag mit 504,20 Euro beziffert hat (inkl. einmalige Kosten in Höhe von 55,00 Euro).
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die zur Prozessakte gereichten Schriftsätze der
Beteiligten Bezug genommen. Die die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsvorgänge lagen dem Gericht wegen der
Eilbedürftigkeit der Sache bei Beschlussfassung nicht vor.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer
solchen Regelungsanordnung ist das Vorliegen eines die Eilbedürftigkeit der Entscheidung rechtfertigenden
Anordnungsgrundes sowie das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs aus dem materiellen Leistungsrecht. Sowohl
der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund müssen gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht werden.
Der Antrag ist auch vor Klageerhebung zulässig, § 86b Abs. 3 SGG.
1. Das einer gerichtlichen Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG zugängliche Streitverhältnis der Beteiligten ist
der noch nicht beschiedene Antrag der Antragstellerin auf Übernahme der Stromschulden vom 31. August 2009. Nach
dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten hat die Antragstellerin an diesem Tag mit ihrem Folgeantrag ebenfalls
das Schreiben der Stromversorgerin vom 27. August 2009 vorgelegt, was im wohlverstandenen Interesse der
Antragstellerin nur als Antrag auf Übernahme der Energiekostenrückstände auf Darlehensbasis auszulegen ist.
2. Nach den Maßgaben der Ausführungen zum Erlass einer einstweiligen Anordndung im Sinne des § 86b Abs. 2
SGG hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Anspruchsgrundlage für die Übernahme von Stromrückstände, die – wie hier – aufgrund der Nichtzahlung der
monatlichen Abschläge an den Energieversorger als Schulden zu qualifizieren sind, ist nach herrschender Meinung in
der sozialgerichtlichen Rechtsprechung § 22 Abs. 5 SGB II, da die Sperrung der Energiezufuhr eine vergleichbare
Notlage im Sinne von § 22 Abs. 5 S. 1 SGB 2 darstellt und grundsätzlich in einem solchen Fall von einer faktischen
Unbewohnbarkeit einer Wohnung auszugehen ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2009,
Az.: L 7 AS 546/09 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juli 2009, Az.: L 34 AS 1090/09 B ER; LSG
Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Dezember 2008, Az.: L 7 B 384/08 AS).
Nach § 22 Abs. 5 S. 1 SGB II können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Schulden
übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage
gerechtfertigt ist. Die Schulden sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst
Wohnungslosigkeit einzutreten droht (Satz 2). Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden (Satz 4). Bei
Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II hat eine Übernahme der Schulden im Regelfall zu
erfolgen, es sei denn, es liegt eine atypische Sachlage vor, die im Ermessenswege ein Abweichen vom Regelfall
rechtfertigen könnte (LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O.).
Die Voraussetzungen für eine Übernahme der Schulden der Antragstellerin bei ihrer Stromversorgerin gem. § 22 Abs.
5 S. 2 SGB II sind hier erfüllt; insbesondere ist eine Schuldenübernahme trotz des wiederholten Rückstands aus
eigenem Verschulden notwendig und gerechtfertigt.
Soweit ersichtlich, ist die Übernahme der Schulden zur Wiederherstellung der Stromversorgung notwendig.
Insbesondere ist die Antragstellerin nicht darauf zu verweisen, im Wege der Selbsthilfe eine
Ratenzahlungsvereinbarung mit ihrer Stromversorgerin abzuschließen. Das Gericht sieht keine Erfolgsaussichten für
ein solches Vorgehen, da die Antragstellerin seit Februar 2009 bereits die laufenden Abschläge nicht entrichtet. Ggf.
könnte sie erfolgreich einstweiligen Rechtsschutz vor dem zuständigen Amtsgericht erstreiten, nämlich dann, wenn
die Einstellung der Stromversorgung nach § 19 Abs. 2 Stromgrundversorgungsverordnung (StromGVV) unter
Berücksichtigung der im Haushalt lebenden Kinder gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen würde
(vgl. hierzu etwa Landgericht Hildesheim, Urteil vom 10. Oktober 2008, Az.: 7 S 155/08). Die übrigen
Voraussetzungen für eine Einstellung der Stromversorgung nach § 19 StromGVV liegen nach summarischer Prüfung
der Sach- und Rechtslage vor. Angesichts der mitunter restriktiven Rechtsprechung der Zivilgerichte und dem
alleinigen Verschulden der Antragstellerin an den entstandenen Rückständen (s. u.) erscheint aber auch dieses
Vorgehen nicht Erfolg versprechend. Schließlich kann das Gericht nach den vorliegenden Unterlagen nicht überprüfen,
ob die Antragstellerin womöglich über ausreichendes Barvermögen verfügt, mit dem sie die Schulden bei der
Stromversorgerin tilgen könnte; das Gericht hält dies jedoch bei der aus anderen Gerichtsverfahren bekannten
Antragstellerin für unwahrscheinlich.
Bei der Frage, ob eine Schuldenübernahme gem. § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II gerechtfertigt ist, ist von maßgeblicher
Bedeutung, wie es zu der geltend gemachten Notlage gekommen ist. Die Übernahme von Schulden ist in der Regel
gerechtfertigt, wenn der Hilfebedürftige nach den Gesamtumständen unverschuldet in Rückstand mit Zahlungen auf
unterkunftsbezogene Kosten (Miete, Gas- und Stromkosten o. ä.) geraten ist, die Notlage für die Existenz des
Leistungsberechtigten bedrohlich ist und die Schulden nicht aus eigener Kraft getilgt werden können. Nicht
gerechtfertigt ist die Übernahme von Schulden, wenn z. B. Miete oder Energiekostenabschläge im Vertrauen darauf
nicht gezahlt werden, dass der Leistungsträger die Miet- und/oder Energieschulden später übernehmen werde (BT-Drs.
13/2440, S. 19 zur Vorläuferregelung des § 15a des Bundessozialhilfegesetzes).
Dies zu Grunde gelegt, kann die Antragstellerin, wäre sie von der Einstellung der Stromversorgung allein betroffen, die
Übernahme der Stromschulden von der Antragsgegnerin nicht verlangen. Sie hat die Rückstände bei ihrer
Stromversorgerin dadurch verursacht, dass sie die monatlichen Abschläge nicht beglichen hat. Zudem hat sie die
Mahnungen ihrer Stromversorgerin sowie die Ankündigung und die Mitteilung der Stromeinstellung bis zuletzt ignoriert
und sich mit Eintreten der Notlage hilfesuchend sowohl an die Antragsgegnerin als auch an das Gericht gewandt.
Dieses Verhalten lässt den Schluss zu, dass sie die Stromeinstellung bewusst in Kauf genommen hat in der
Hoffnung, die Antragsgegnerin werde im Notfall ein entsprechendes Darlehen gewähren. Dadurch, dass die
Antragstellerin hierbei womöglich nicht an die Versorgung ihrer eigenen Kinder gedacht hat und im gerichtlichen
Eilverfahren gerade deren notwendige Versorgung zur Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund)
heranzieht, dürfte eine weitergehende Hilfestellung durch das zuständige Jugendamt, ggf. initiiert durch die
Antragsgegnerin, angezeigt sein. Zudem ist die Antragstellerin vermutlich mit ihren finanziellen Angelegenheiten
schlichtweg überfordert; sie hat auch insoweit erhöhten Beratungsbedarf.
Die Rechtfertigung der Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 5 S. 2 SGB II ergibt sich hier allein aus dem Umstand,
dass von der Stromeinstellung am 2. September 2009 auch das im Haushalt der Antragstellerin lebende dreijährige
Kind betroffen und dessen Versorgung akut gefährdet ist. Nach Auffassung des Gerichts ist keine andere
Entscheidung mit den grundrechtlichen Belangen des Kindes der Antragstellerin vereinbar (Ermessensreduzierung auf
Null), auch wenn ein missbräuchliches Verhalten seiner Mutter vorliegen sollte (vgl. zur Schuldenübernahme nach §
22 Abs. 5 S. 2 SGB II bei betroffenen minderjährigen Kindern: LSG Nordrhein-Westfalen, a. a. O.; SG Karlsruhe,
Beschluss vom 3. März 2008, Az.: S 14 AS 879/08 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Dezember
2007, Az.: L 28 B 2169/07 AS ER).
Im Hinblick auf die Kosten für die Wiederherstellung der Stromversorgung in Höhe von 55,00 Euro kann im Ergebnis
dahinstehen, ob eine Darlehensgewährung nach § 22 Abs. 5 SGB II erfolgen kann; diese Kosten dürften keine
Schulden im Sinne der Norm darstellen (vgl. etwa SG Berlin, Beschluss vom 15. März 2007, Az.: S 104 AS 4329/07
ER). Gleichwohl besteht dann ein Anspruch auf Darlehensgewährung nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II, da die
erforderlichen Kosten als unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts anzuerkennen sind und auch die
übrigen Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II vorliegen.
Nach den dargelegten Ausführungen hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Zur
Behebung der Notlage hat die Überweisung der Darlehenssumme auf das Konto der Stromversorgerin zu erfolgen, weil
bei einer Leistungsgewährung an die die Antragstellerin eine zweckentsprechende Verwendung nicht gewährleistet
wäre.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unanfechtbar, da in der Hauptsache der für eine Berufung
maßgebliche Wert des Beschwerdegegenstands gem. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG in Höhe von 750,00 Euro nicht
erreicht ist.