Urteil des SozG Hildesheim vom 19.05.2010

SozG Hildesheim: gerichtsakte, werkstatt, sexuelle belästigung, sachliche zuständigkeit, wechsel, örtliche zuständigkeit, tagessatz, unterbringung, stadt, eltern

Sozialgericht Hildesheim
Urteil vom 19.05.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 34 SO 212/07
1. Der Bescheid des Landkreises Hildesheim vom 26.06.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
15.11.2007 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Kosten der stationären Betreuung der Klägerin in der
Einrichtung H. und der Kosten der mit dieser Einrichtung kooperierenden Behindertenwerkstatt zu übernehmen. 2. Der
Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt im Rahmen von Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 6. Kapitel des Zwölften Buchs des
Sozialgesetzbuchs (SGB XII) die Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme der Kosten der stationären Betreuung
in der Einrichtung I. und der Kosten der mit dieser Einrichtung kooperierenden Behindertenwerkstatt.
Die 1987 geborene Klägerin steht im laufenden Bezug von Leistungen nach den §§ 53 ff. SGB XII, ist leicht geistig
behindert und steht unter gesetzlicher Betreuung ihrer Mutter. Für die Klägerin ist ein GdB von 60 anerkannt (vgl. Bl.
47 f. der Verwaltungsakte). Sie lebt derzeit noch bei ihren Eltern und arbeitet seit September 2006 tagsüber in der
Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) der Lebenshilfe in Hildesheim. Zuvor hatte sie 12 Jahre eine Waldorf-
Schule in J. besucht.
Am 28.11.2006 beantragte die Mutter der Klägerin zunächst fernmündlich und sodann am 10.01.2007 schriftlich (Bl.
37 ff. der Verwaltungsakte) die Kostenübernahme für die stationäre Betreuung in der Einrichtung K ... Die dortige
Betreuung findet auf Grundlage der Waldorfpädagogik statt. In der Zeit vom 14.- bis 19.01.2007 absolvierte die
Klägerin in der genannten Einrichtung ein Probewohnen. Mit Bescheid vom 26.06.2007 lehnte der Beklagte den Antrag
ab (Bl. 200 ff. der Verwaltungsakte). Zur Begründung führte er u.a. aus, dass die begehrte Maßnahme zwar geeignet
und eine betreute Wohnform im Hinblick auf die Ergebnisse eines im Januar 2007 durchgeführten Hausbesuchs auch
erforderlich sei. Es fehle jedoch im Hinblick auf den Tagessatz der Einrichtung in Bremen gegenüber den geringeren
Kosten vergleichbarer Einrichtungen in L. an der Angemessenheit der begehrten Leistung. Hiergegen erhob die
Klägerin am 07.07.2007 Widerspruch, den sie mit Schreiben vom 09.08.2007 (Bl. 210 f.) u.a. damit begründete, dass
sie derzeit in der Behindertenwerkstatt nicht ausreichend gefördert werde. Sie sei mit monotonen Arbeitsgängen
betraut. Die von ihr angestrebte Tätigkeit im Hauswirtschaftsbereich sei nur anfänglich angeboten worden. Ihre
Entwicklung stagniere. Überdies bestehe ein Nachtpflegebedürfnis. Nur die M. Einrichtung gewährleiste diese
Erfordernisse, weshalb es auf das Kostenargument des Beklagten nicht ankomme. Der Widerspruch wurde mit
Widerspruchsbescheid vom 15.11.2007 zurückgewiesen (Bl. 215 ff. der Verwaltungsakte). Zur Begründung verwies
der Beklagte wiederum auf die mit einem Wechsel in die Bremer Einrichtung verbundenen - nach seiner Auffassung
unverhältnismäßigen - Mehrkosten von bis zu 1.086,00 EUR monatlich.
Am 21.11.2007 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie führt ihr Begehren aus dem Verwaltungsverfahren fort und führt aus, dass insbesondere der familiäre und
individuelle Rahmen, wie er eine Einrichtung der Waldorf-Pädagogik anbiete, ihrer Entwicklung zuträglich sei. Bereits
an der von ihr besuchten Waldorfschule in J. habe sie sich wohlgefühlt, auch das Probewohnen in der Bremer
Einrichtung habe ihr gefallen und gezeigt, dass diese Einrichtung die richtige für sie sei. Sie fühle sich dort geborgen
und sicher. Die regelmäßigen Rituale im Tages-, Monats- und Jahresverlauf gäben ihr besondere Sicherheit.
Mitarbeiter einer Waldorfeinrichtung seien überdies gegenüber Behinderten offener und einfühlsamer. Da die
Einrichtung in N. in der Stadt liege, ergäben sich hierbei für sie weitere Möglichkeiten, was ihrem offenen
kontaktfreudigen Wesen entgegenkomme. Sie habe dort u.a. auch die Möglichkeit, die Sparkasse aufzusuchen, weil
die dortigen Mitarbeiter die Menschen der Einrichtung kennen würden. Sie strebe an, im hauswirtschaftlichen Bereich
des Wohnheims (mithin nicht in der dortigen Behindertenwerkstatt) zu arbeiten. Ein Wechsel nach N. und die damit
einhergehende größere Entfernung zu ihrer Familie seien auch für ihre persönliche Fortentwicklung wichtig. Überdies
verweist sie auf das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Herrn Dr. O. vom 27.10.2005 (vgl. Bl. 25 ff. der
Gerichtsakte) und die fachärztliche Stellungnahme von Herrn Dr. P., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom
24.06.2008 (Bl. 24 der Gerichtsakte). In der Lebenshilfewerkstatt in L. werde sie hingegen nicht fortgebildet und nicht
auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereitet. Obwohl die Empfehlung nach dem Berufsfindungsjahr in der
Behindertenwerkstatt mit der Empfehlung geendet habe, die Klägerin solle entweder im Haushalts-, Gärtnerischen-
oder Kleintierpflegebereich eingesetzt werden, sei sie nunmehr seit Dezember 2008 im Arbeitsbereich der Einrichtung
u.a. mit Tätigkeiten wie dem ganztägigen Verpacken von Kondomen oder dem Ausstanzen von Dichtungsringen
betraut. Dies stelle keine Förderung, sondern lediglich eine "Beschäftigungstherapie" dar. Hingegen habe sie in der M.
Einrichtung die Möglichkeit - wie von ihr gewünscht - im hauswirtschaftlichen Bereich tätig zu sein und könne später
als Küchenhilfe arbeiten. Die Klägerin machte im Verfahren zunächst geltend, dass durch einen Vorfall in der
Werkstatt - eine sexuelle Belästigung während der Arbeitszeit - nunmehr das zwischen der Lebenshilfe und den Eltern
bestehende Vertrauensverhältnis gestört sei. Sie sei über einen längeren Zeitraum von einem anderen behinderten
Beschäftigten belästigt worden. Obwohl die Klägerin die Einrichtung hierüber informiert habe, sei die Einrichtung erst
nach 2 bis 3 Wochen tätig geworden und habe den jungen Mann in einen anderen Arbeitsbereich geschickt, um diesen
von der Klägerin fernzuhalten. Die Eltern hätten hiervon jedoch nicht von der Einrichtung, sondern erst von der
Klägerin selbst erfahren. Die Bagatellisierung des Vorfalls durch die Einrichtung zeige, dass dort keine vernünftige
pädagogische Arbeit geleistet und Sorgfaltspflichten verletzt würden. Hingegen hat die Mutter der Klägerin im Termin
zur mündlichen Verhandlung am 19.05.2010 erklärt, dass sich die Situation in der Behindertenwerkstatt nunmehr
verbessert habe und das Problem gelöst sei (Bl. 109 der Gerichtsakte).
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 26.06.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2007 aufzuheben und den Beklagten
Q. und der Kosten der mit dieser Einrichtung kooperierenden Behindertenwerkstatt zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist zunächst auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren und trägt ergänzend vor, einem Anspruch der
Klägerin stehe hier § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII entgegen, wonach das Wunsch- und Wahlrecht des
Leistungsberechtigten dann seine Grenze finde, wenn die Erfüllung der Wünsche mit unverhältnismäßigen Mehrkosten
verbunden wäre. So verhalte es sich hier. Während die Bremer Einrichtung mit dem zuständigen Sozialhilfeträger
einen Tagessatz von 98,82 EUR vereinbarte (vgl. Bl. 75 der Gerichtsakte), betrage dieser in den vergleichbaren
Einrichtungen der "R. lediglich 62,35 EUR und in den "S. " T. lediglich 77,14 EUR (vgl. Bl. 63 der Gerichtsakte). Die
Mehrkosten von ca. 58,5 % bzw. 28,1 % seien unverhältnismäßig. Hierbei legt der Beklagte hinsichtlich der
Maßnahmenpauschale die Hilfebedarfsgruppe 3 zu Grunde, wie dies die Bremer Einrichtung im Rahmen des
Probewohnens der Klägerin geschätzt hatte (vgl. Bl. 71 der Verwaltungsakte). Sowohl bei einer stationären
Unterbringung in der U. als auch im V.W. könne die Klägerin in der Lebenshilfe Werkstatt verbleiben. Der Monatssatz
betrage dort derzeit 1.019,17 EUR. Weil es im Zuständigkeitsbereich des Beklagten insgesamt drei
Behindertenwerkstätten gebe, bestehe für die Klägerin alternativ auch die Möglichkeit, in den X. einer
Werkstatttätigkeit nachzugehen. Hier betrage das monatliche Entgelt 875,06 EUR (vg. Bl. 64 ff. der Gerichtsakte).
Überdies könnten die von der Klägerin benannten Bedarfe auch in Einrichtungen im Zuständigkeitsbereich des
Beklagten gedeckt werden. Die in N. angebotenen Beschäftigungsmöglichkeiten unterschieden sich nicht wesentlich
von denen der Werkstatt Y ... Wenn die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.05.2010 geltend
macht, in N. könne sie die Straßenbahn eigenständig benutzen, gelte dies für die öffentlichen Verkehrsmittel
zwischen Hildesheim und Harsum erst recht. Auch in Z. habe die Klägerin Möglichkeiten, Geschäfte aufzusuchen und
sich mit ihrer unmittelbaren Umgebung vertraut zu machen. Ein Anspruch auf eine Unterbringung in einer Einrichtung,
die der Waldorfpädagogik folgt, ergebe sich auch nicht aus § 9 Abs. 3 SGB XII (Unterbringung in einer Einrichtung des
eigenen Bekenntnisses), denn - soweit man diese Vorschrift hier für anwendbar hielte - sei auch hier der
Mehrkostenvorbehalt zu beachten.
Das Gericht hat mit Verfügung vom 16.11.2009 eine Stellungnahme der AA. eingeholt (Bl. 59, 69 ff. der Gerichtsakte
der Gerichtsakte). Auf Veranlassung des Beklagten hat diese mit Schriftsatz vom 25.02.2010 auch zum Vorwurf der
Klägerin Stellung genommen, sie sei mit der Belästigung der Klägerin nicht angemessen umgegangen (Bl. 41 f. der
Gerichtsakte).
Das Gericht hat überdies mit Verfügung vom 16.11.2009 eine Stellungnahme der K ... eingeholt (Bl. 60, Bl. 72 f. der
Gerichtsakte). Die Einrichtung überreicht überdies ihre aktuelle Vereinbarung mit der Stadt N. nach § 75 Abs. 3 SGB
XII. Aus dem dortigen Punkt 3. ergibt sich, dass bei der Hilfebedarfsgruppe 3 ein Gesamtentgelt von 98,82 EUR pro
Leistungsempfänger und Leistungstag vereinbart wurde (Bl. 75 der Gerichtsakte).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und das dortige
Sitzungsprotokoll vom 19.05.2010 sowie die Verwaltungsakte des Beklagten (1 Band), Bezug genommen. Sie haben
vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach § 54 Abs. 4 SGG zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet.
Der Bescheid vom 26.06.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2007 ist rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in eigenen Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten in den von ihr gewünschten
Einrichtungen.
Der Beklagte ist zur Leistungserbringung in Bremen sachlich und örtlich zuständig.
Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus seiner Eigenschaft als vom nach den §§ 97 Abs. 3 Nr. 1
SGB XII, 6 Abs. 2 Nr. 1 a) nds. AG SGB XII originär zuständigen überörtlichen Sozialhilfeträger herangezogenem
örtlichen Sozialhilfeträger. Rechtsgrundlage für die Heranziehung ist § 8 Abs. 2 S. 1 nds. AG SGB XII. Die
Heranziehung selbst ergibt sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 nds. DVO SGB XII. Der Beklagte konnte nach § 9 Abs. 5 nds.
AG SGB XII eine Entscheidung im eigenen Namen treffen. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten auch nach einem
Wechsel der Klägerin nach Bremen ergibt sich aus § 98 Abs. 2 SGB XII, wonach für stationäre Leistungen (hierzu
gehört auch die Unterbringung in Wohnheimen für geistig behinderte Menschen und zugehörige Werkstätten) der
Träger der Sozialhilfe zuständig ist, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben. Dies ist vorliegend der Wohnort der Klägerin, die Gemeinde AB.,
welche im Zuständigkeitsbereich des Beklagten liegt. § 98 Abs. 2 SGB XII gilt gem. § 3 Abs. 1 der nds. DVO SGB
XII für herangezogene Körperschaften (s.o.) entsprechend.
Die Klägerin gehört unstreitig zum Kreis der nach den §§ 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII, 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX
leistungsberechtigten Personen. Ebenfalls zwischen den Beteiligten unstreitig hat die Klägerin einen Anspruch auf
stationäre Eingliederungshilfe.
Rechtsgrundlage für die begehrte Leistung sind die §§ 53 Abs. 1, 4, 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII, 55 Abs. 2 Nr. 6, 41 SGB
IX i.V.m. § 9 Abs. 2 S. 1, 3 SGB XII.
Hiernach ist bei der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe in einem Wohnheim für behinderte Menschen
und einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) den Wünschen des Leistungsberechtigten zu entsprechen,
soweit diese angemessen sind. In der Regel soll der Träger der Sozialhilfe Wünschen nicht entsprechen, deren
Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre.
1. Die Kammer hatte die Frage der Angemessenheit der Mehrkosten zu beachten, weil a) der Verbleib in der derzeit
von der Klägerin besuchten WfbM nicht unzumutbar ist und b) die Einrichtungen in L. und N. auch vergleichbar sind.
a) Es käme hier auf etwaige Mehrkosten nicht an, wenn ein Verbleib in der derzeit besuchten Einrichtung unzumutbar
wäre (vgl. insoweit z.B. VG Münster, Urteil vom 24.04.2006, Az.: 5 K 783/04 und Landessozialgericht (LSG)
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.07.2007, Az.: L 13 SO 20/07 ER, wonach der Einwand
unverhältnismäßiger Mehrkosten dann unbeachtlich sei, wenn dem Behinderten eine andere - kostengünstigere -
Bedarfsdeckung nicht zugemutet werden kann.) Der von der Klägerin (zunächst) geltend gemachte Vorfall einer
sexuellen Belästigung seitens eines anderen behinderten Menschen kann schon deshalb die Frage der
Verhältnismäßigkeit der Mehrkosten nicht dahinstehen lassen, weil die Mutter der Klägerin im Termin zur mündlichen
Verhandlung erklärte, die Situation in der Behindertenwerkstatt habe sich nunmehr verbessert und das Problem sei
gelöst. Überdies war die Behandlung des Geschehens durch die Einrichtung nach Auffassung der Kammer zwar nicht
unbedingt optimal, hatte aber noch nicht in ein Grad erreicht, dass hier von einer Unzumutbarkeit des Verbleibs der
Klägerin in der Einrichtung auszugehen wäre. Durch einen zwischenzeitlichen Wechsel des anderen Behinderten in
einen anderen Arbeitsbereich besteht - soweit erkennbar - auch keine Wiederholungsgefahr. Darüber hinaus könnte
selbst eine Unzumutbarkeit des Verbleibs in der derzeit besuchten Einrichtung keinen Anspruch auf einen Wechsel
zur Einrichtung nach N. auslösen, weil es im Zuständigkeitsbereich des Beklagten weitere Alternativen (andere
Werkstätten) gibt. Mangels Unzumutbarkeit war die Frage der Verhältnismäßigkeit der Mehrkosten hier beachtlich.
b) Es wäre auf die Frage unverhältnismäßiger Mehrkosten auch nicht angekommen, wenn die Einrichtungen in L. und
N. von vornherein nicht vergleichbar wären (vgl. hierzu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.02.2010, Az.:
L 8 SO 359/09 B ER, wonach es auf die Frage der mit dem Besuch eines heilpädagogischen Förderkindergartens
verbundenen Mehrkosten nicht ankommen sollte, weil diese Einrichtung gegenüber einem Integrationskindergarten
aufgrund eines besseren Angebots bei Öffnungszeiten, Personalausstattung und besserer örtlicher Erreichbarkeit und
Fördermöglichkeiten nicht vergleichbar gewesen seien). Nach Auffassung der Kammer kann hier jedoch keine
Unvergleichbarkeit angenommen werden. Der Unterschied zwischen den Wohnheimen im Zuständigkeitsbereich des
Beklagten und der von der Klägerin bevorzugten Einrichtung in N. besteht vor allem darin, dass in N. eine Betreuung
nach dem anthroposophischen Menschenbild erfolgt. Hieraus ergibt sich aber keine grundsätzlich andere
Vorgehensweise gegenüber Behinderten. Auch sind die Angebote der benannten Wohnheime und ihre Ausgestaltung
jedenfalls grundsätzlich vergleichbar. Dies gilt im Übrigen für die mit dem Wohnheim in N. kooperierende
Behindertenwerkstatt ohnehin, weil dort nicht nach dem anthroposophischen Menschenbild gearbeitet wird.
2. Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen war die Frage der Angemessenheit der mit dem Wunsch der
Klägerin verbundenen Mehrkosten für die Kammer entscheidungserheblich. Im Ergebnis liegt jedoch keine
Unverhältnismäßigkeit vor.
Bei isolierter Betrachtung sind für die WfbM in L. und N. keine Mehrkosten ersichtlich. Während die Lebenshilfe
Werkstatt L. einen monatlichen Satz von 1.019,17 EUR veranschlagt und die AC. monatlich 875,06 EUR kostet (vgl.
Bl. 64 der Gerichtsakte), kostet die Werkstatt Bremen lediglich 853,22 EUR im Monat (siehe Bl. 125 der
Verwaltungsakte).
Hinsichtlich der Wohnheime ist hingegen nicht auf die absolute Höhe etwaiger Mehrkosten, sondern die Höhe der
jeweiligen Tagespflegesätze abzustellen (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.06.2007, Az.: L 8
SO 60/07 ER). Überdies sind bei einer vergleichenden Betrachtungsweise die Durchschnittskosten im
Zuständigkeitsbereich des Sozialhilfeträgers heranzuziehen (wohl h.M., vgl. etwa Luthe in: Hauck/Noftz, Kommentar
zum SGB XII, 17. Erg.-Lfg., § 9 Rn. 31; auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.03.1997, Az.: 6 S 755/95 und
VG Lüneburg, Urteil vom 14.11.2000, Az.: 4 A 212/98). Der Beklagte hat im Verfahren zwei Einrichtungen benannt,
die für die Klägerin in Betracht kämen: die U. und das V. der S ... Der Tagessatz in der erstgenannten Einrichtung
beträgt 62,35 EUR, der Tagessatz im "Haus Jungborn" 77,14 EUR. Hieraus ergeben sich Durchschnittskosten in
Höhe von täglich 69,75 EUR. Diesen Kosten stehen die Kosten des Wohnheims in N. gegenüber, in dem der
Tagessatz 98,82 EUR beträgt. Bei isolierter Betrachtungsweise bestehen hier Mehrkosten von ca. 42 %.
Nach Auffassung der Kammer sind jedoch die Kosten für die WfbM und die Wohnheimkosten nicht isoliert zu
betrachten, sondern müssen insgesamt verrechnet und verglichen werden. Dies zugrunde gelegt, ergibt sich folgende
Berechnung:
Besuchte die Klägerin weiterhin die Lebenshilfe Werkstatt in L. ergäben sich bei einem durchschnittlichen Tagessatz
von 69,75 EUR und angenommenen 30 Tagen je Monat Kosten in Höhe von insgesamt 3.111,67 EUR (69,75 EUR x
30 + 1.019.17 EUR). Besuchte die Klägerin fortan die AC. ergäben sich monatliche Kosten in Höhe von insgesamt
2.967,56 EUR (69,75 EUR x 30 + 875,06 EUR). Bei einem Wechsel nach Bremen fielen indes monatliche Kosten in
Höhe von 3.817,82 EUR (98,92 EUR x 30 + 853,22 EUR) an.
Damit entstehen bei einem Wechsel nach N. gegenüber dem "Modell Lebenshilfe Werkstatt" monatliche Mehrkosten
in Höhe von ca. 23 %, gegenüber dem "Modell X. " monatliche Mehrkosten in Höhe von ca. 29 %.
Nach Auffassung der Kammer sind diese Mehrkosten gegenüber den Wünschen der Klägerin noch nicht als
unangemessen im Sinne des § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII anzusehen.
In der Rechtsprechung ist keine feste Grenze anerkannt, ab der von unverhältnismäßigen Mehrkosten auszugehen
wäre (vgl. etwa OVG Lüneburg unter Bezug auf die Vorgängernorm des § 3 Abs. 2 BSHG, Beschluss vom
25.05.1990, Az.: 4 M 44/90). Vielmehr ist eine wertende Betrachtungsweise unter Berücksichtigung des Gewichtes
des vom Leistungsberechtigten geltend gemachten Wunsches und seiner individuellen Situation vorzunehmen (h.M.,
vgl. nur VG Münster, Urteil vom 24.04.2006, Az.: 5 K 783/04). Der Wunsch des Leistungsberechtigten ist dabei umso
bedeutsamer, je mehr er seiner objektiven Bedarfssituation entspricht (Bundesverwaltungsgericht (BVerwG),
Beschluss vom 18.08.2003, Az.: 5 B 14/03). Hatte das BVerwG in einer älteren Entscheidung (Urteil vom 11.02.1982,
Az.: 5 C 85/80) zur Vorgängernorm des § 3 Abs. 2 BSHG noch 75 % Mehrkosten als ohne weiteres
unverhältnismäßig (nach damaligem Wortlaut der Vorschrift: "unvertretbar") angesehen und das OVG Hamburg,
(Beschluss vom 17.08.1995, Az.: Bs IV 165/95) sowie das LSG Niedersachsen- Bremen (Beschluss vom 07.06.2007,
Az.: L 8 SO 60/07 ER) jeweils Mehrkosten von ca. 50 % Mehrkosten als unverhältnismäßig erachtet, sieht das OVG
Lüneburg (Beschluss vom 16.02.2004, Az.: 4 ME 400/03) bereits Mehrkosten von 21,24 % als unverhältnismäßig an,
wenn offenkundig ist, dass die kostengünstigere Einrichtung für den Behinderten sogar besser geeignet erscheint als
die gewünschte Einrichtung. Schließlich hatte das VG Münster (Urteil vom 24.04.2006, Az.: 5 K 783/04) Kosten, die
nicht mehr als 30 % über den ermittelten Durchschnittskosten liegen, ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen.
Im Fall der Klägerin sind unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung vertretenen Ansichten die Mehrkosten von
23 % bis 29 % jedenfalls nicht von vornherein als unverhältnismäßig anzusehen. Die Kammer berücksichtigt dabei
auch, dass der Träger des Wohnheims, AD., mit der Stadt N. eine Vergütungsvereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII
abgeschlossen hat (Bl. 74 ff. der Gerichtsakte). Da mithin der örtlich zuständige Sozialhilfeträger den Tagessatz der
Einrichtung in Höhe von 98,82 EUR (Hilfebedarfgruppe 3) trägt, können die entstehenden Mehrkosten auch aus
diesem Grund nicht von vornherein als unverhältnismäßig angesehen werden.
Vielmehr hatte die Kammer - wie bereits ausgeführt - die Mehrkosten und den Wunsch der Klägerin in ein wertendes
Verhältnis zueinander zu setzen. Hierbei hatte die Kammer die persönliche Lebenssituation und
Entwicklungsperspektive der Klägerin zu berücksichtigen (vgl. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB IX i.V.m. § 33 S. 2 SGB I). Dies
zugrunde gelegt, hat die Klägerin zur Überzeugung der Kammer dargetan, dass ihr Wunsch des Besuchs der
Einrichtungen in N. ihrer Lebenssituation entspricht, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten widerspiegelt und insgesamt
geeignet ist, den Zielen und Aufgaben der Eingliederungshilfe in einer Weise zu entsprechen, dass die hiermit
verbundenen Mehrkosten noch nicht als unangemessen angesehen werden können.
Zwar ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin auch in den Behinderteneinrichtungen im
Zuständigkeitsbereich des Beklagten gut aufgehoben wäre. So hat die Lebenshilfe Werkstatt auf Anfrage des Gerichts
mit Schreiben vom 17.12.2009 u.a. beschrieben, dass die Klägerin dort einer durchaus abwechslungsreichen und
Frustrationen vermeidenden, den Fähigkeiten eines behinderten Menschen entsprechenden Tätigkeit nachgeht.
Überdies nimmt die Klägerin dort auch die Freizeitangebote der Einrichtung (die Reittherapie und den Chor) war. Auch
komme diese - unwidersprochen von der Klägerin selbst - (weiterhin) gerne in die Einrichtung. Dennoch hatte die
Kammer die Wünsche der Klägerin zu berücksichtigen und zu werten.
Die Klägerin hat ausgeführt, dass sie bei einem Wechsel nach N. mehr Möglichkeiten der Entwicklung hat, weil sich
das Wohnheim in der Stadt befindet und in die Umgebung eingebunden ist. Hingegen befinden sich die beiden vom
Beklagten benannten Wohnheime in einem Vorort bzw. am Stadtrand von Y ... In N. hat die Klägerin bessere
Möglichkeiten, selbstständig und weitgehend in unmittelbarer Nähe zum Wohnheim eigenverantwortlich
Ladengeschäfte zu besuchen. U.a. befindet sich dort auch eine Sparkasse, die mit dem Umgang von Behinderten
vertraut ist. Überdies strebt die Klägerin an, in N. nicht weiter in einer Behindertenwerkstatt, sondern im
hauswirtschaftlichen Bereich des Wohnheims selbst tätig zu werden. Dies entspricht auch der Empfehlung der
Lebenshilfe Werkstatt Y., welche nach Beendigung des Berufsfindungsjahrs empfohlen hatte, dass die Klägerin
entweder im Haushalts-, Gärtnerischen- oder Kleintierpflegebereich eingesetzt werden solle. Eine Tätigkeit im
hauswirtschaftlichen Bereich des Wohnheims kommt auch nach Auskunft der Einrichtung in Bremen in Betracht.
Diese hatte mit Schreiben vom 22.12.2009 ausgeführt, nach einer Aufnahme der Klägerin werde diese in der
Wäscherei, in der Hauswirtschaft und in der Reinigungsgruppe zunächst ein Praktikum absolvieren und im Anschluss
in einem Gespräch mit dem zuständigen Mitarbeiter ihren endgültigen Arbeitsplatz finden. Eine solche Perspektive
eröffnen die Wohnheime in L. der Klägerin hingegen nicht. Vielmehr wäre sie dort gehalten, weiterhin in einer
Behindertenwerkstatt zu arbeiten. Überdies hat die Kammer berücksichtigt, dass die Klägerin bereits durch ihre
Schulzeit in J. mit den Besonderheiten der Waldorfpädagogik und den speziellen dort ablaufenden Ritualen vertraut ist
und deshalb erwartet werden kann, dass sich die Klägerin in Bremen gut in die dortigen Gegebenheiten einfindet und
dort Geborgenheit und Sicherheit findet. Nachvollziehbar ist demgegenüber auch der von der 1987 geborenen Klägerin
geäußerte Wunsch, durch eine größere Entfernung zum Elternhaus ihre persönliche Entwicklung zu fördern und zu
festigen. Von erheblicher Bedeutung war für die Kammer auch, dass die Klägerin bereits Anfang des Jahres 2007 in
der Einrichtung in N. ein Probewohnen absolvierte und dieses - sowohl nach Angaben der Klägerin als auch nach
Angaben des Wohnheims - erfolgreich verlief. Die Klägerin und ihre Eltern sind mithin bereits durch eigene
Anschauung und Erfahrung mit der gewünschten Einrichtung vertraut, weshalb der Wunsch eines Wechsels dorthin
zusätzliches Gewicht erhielt.
Im Ergebnis waren die zahlreichen gut nachvollziehbaren und - soweit möglich - belegten Argumente der Klägerin bei
wertender Betrachtungsweise gegenüber den nicht von vornherein als unverhältnismäßig anzusehenden Mehrkosten
von 23 % bis 29 % gewichtiger, weshalb die Kammer den Wunsch der Klägerin nicht als unangemessen im Sinne des
§ 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII ansah.
Die Klage hatte nach alledem vollumfänglich Erfolg.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.