Urteil des SozG Hildesheim vom 26.02.2010

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Sozialgericht Hildesheim
Urteil vom 26.02.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 26 AS 2278/08
1. Die Klage wird abgewiesen 2. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt im Rahmen ihres Leistungsverhältnisses nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) die
Übernahme von Kosten für die Abmeldung eines zuvor veräußerten Kraftfahrzeuges sowie der Kfz-Steuer und
Versicherungsbeiträge für ihr danach genutztes Kraftfahrzeug.
Die 1959 geborene Klägerin wohnte bis zum 15.12.2009 zusammen mit ihrem Lebenspartner in einem in ihrem
Alleineigentum stehenden Einfamilienhaus in G ... Beide beziehen seit mehreren Jahren Leistungen nach dem SGB II.
Die Klägerin geht keiner Erwerbstätigkeit nach.
Am 20.08.2008 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, sie habe aus Kostenersparnisgründen einen Renault Kangoo
gekauft und mit einem Darlehen finanziert. Sie benötige diesen aus Mobilitätsgründen dringend. Sie bitte um
Übernahme nicht näher bezeichneter Nebenkosten. Dem Antrag beigefügt waren Kopien der Fahrzeugpapiere und ein
Beleg über die Abmeldung des zuvor genutzten Autos Fiat Tempra in Höhe von 11,- EUR.
Mit Bescheid vom 25.09.2008 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die grundsätzlich von der Regelleistung
abgedeckten Kosten seien nicht als Sonderbedarf im Sinne des § 23 SGB II anzuerkennen.
Den gegen den Bescheid vom 25.09.2008 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin im Wesentlichen damit,
dass sie ihren abgelegenen Wohnort wegen wochentags unzureichender und am Wochenende fehlender Verbindungen
nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen könne. Ein Auto sei bereits bei Antragstellung vorhanden gewesen.
Deshalb müssten die Nebenkosten als unabweisbarer Bedarf anerkannt werden.
Mit Bescheid vom 13.11.2008 wies der Beklagte den Widerspruch aus den Gründen der Ausgangsentscheidung
zurück.
Hiergegen richtet sich die Klage. Sie sei auf das Auto auch deshalb angewiesen, weil sie ohne diesen "für den
Arbeitsmarkt nur sehr eingeschränkt beweglich" sei. Auf Hinweis der Kammer hat die Klägerin als weitere
Nebenkosten die Beiträge für Haftpflicht- und Teilkaskoversicherung in Höhe von 239,07 EUR pro Quartal und die Kfz-
Steuer in Höhe von 101,- EUR jährlich geltend gemacht. Daneben hat sie einen Busfahrplan für Verbindungen
zwischen H. und I. vorgelegt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 25.09.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.11.2008 die Kosten für die Abmeldung des Kraftfahrzeuges Fiat Tempra in Höhe
von 11,- EUR und auf das Kraftfahrzeug Renault Kangoo bis zum 15.12.2009 die Kfz-Steuern und die Beiträge für die
Haftpflicht- und Teilkaskoversicherung zu bewilligen, hilfsweise ein entsprechendes Darlehen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ein Anspruch könne auch nicht aus § 16 Abs. 1 SGB II
hergeleitet werden, weil die Klägerin weder an einer Weiterbildungsmaßnahme teilnehme, noch in einem
Arbeitsverhältnis stehe oder konkrete Aussichten auf ein solches habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die
Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
1. Ein Anspruch auf Zahlungen als Mobilitätsbeihilfe zur Beschäftigungsausübung nach § 16 SGB II i. V. m. §§ 53 ff.
SGB III kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil eine Beschäftigung nur förderungswürdig ist, wenn sie
zumindest perspektivisch geeignet ist, die Arbeitslosigkeit und damit auch die Abhängigkeit von staatlichen
Transferleistungen zu beenden. Dies ist nur der Fall, wenn die Beschäftigung wenigstens eine Wochenarbeitszeit von
15 Stunden umfasst oder zumindest perspektivisch zu einer solchen Arbeitszeit führt (vgl. Winkler in Gagel, SGB III,
§ 53 SGB II Rn. 10 unter Hinweis auf § 118 Abs. 2 SGB III). Die Voraussetzung der Förderung einer
sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit gilt gleichermaßen auch im Anwendungsbereich des SGB II (vgl. Eicher in
Eicher/Spellbrink, § 16 Rn 78).
Die Klägerin geht jedoch keiner Tätigkeit nach, die diese Voraussetzungen erfüllt.
2. Ein Anspruch auf ggf. auch darlehensweise Deckung der geltend gemachten laufenden Kosten nach § 23 Abs. 1
SGB II scheidet ebenfalls aus.
Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II erbringt die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als
Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen, wenn im Einzelfall
ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des
Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 noch auf andere Weise gedeckt werden kann.
Die von der Klägerin geltend gemachten Aufwendungen sind nicht von der Regelleistung umfasst.
Zwar sind Aufwendungen für die Mobilität des Hilfebedürftigen in der Regelleistung berücksichtigt. Die Bedarfsposition
"Verkehr" wurde bei der Ermittlung der Regelleistung i. S. d. § 20 Abs. 1 SGB II berücksichtigt. Für die Bemessung
der Regelleistung wird jeweils die im Abstand von fünf Jahren veranlasste Einkommens- und Verbrauchstichprobe,
zuletzt von 2003 (EVS 2003), herangezogen, die in den Abteilungen 1 bis 12 Ausgabepositionen des privaten
Verbrauchs auflistet (näher hierzu Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 20 Rn. 23 ff.). Der
Mobilitätsbedarf ist aktuell der Abteilung 06 zugeordnet. Diese enthält jedoch allein Ausgaben für den Kauf von
Fahrrädern und deren Ersatz- und Zubehörteilen sowie fremde Verkehrsdienstleistungen und keine Ausgaben für
Kraftfahrzeuge und Motorräder einschließlich ihrer Reparatur. Ein Auto sei zu verkaufen, so dass auch deren
Reparatur nicht im Bedarf zu berücksichtigen sei. Der Verordnungsgeber hat deshalb, aufgrund des gewandelten
Verbraucherverhaltens und der in der EVS 1998 enthaltenen Schätzwerte - nach zuvor 37 Prozent (Abteilung 07,
siehe BR-Drucksache 206/04, S. 8) - lediglich 26 Prozent der auf diese Abteilung entfallenden Ausgaben bei der
Bemessung der Regelleistungen berücksichtigt. (BT-Ausschussdrucksache 16(11)286, S. 4, 13; BR-Drucksache
635/06, S. 7).
Soweit das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 , veröff. unter
http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209 1bvl000109.html (Rn. 177 ff.), die Abschläge in der Abteilung 07
(Verkehr) bei der Ausgabenposition Ersatzteile und Zubehör für Privatfahrzeuge (Kürzung um 80 %) als nicht tragfähig
begründet, ist dies für die hier zu entscheidende Frage ebenfalls nicht von Bedeutung. Hieraus folgt gerade kein
Anspruch auf Übernahme der durch den Betrieb eines Kraftfahrzeuges bedingten Kosten. Das
Bundesverfassungsgericht hat die legislative Wertung, dass ein Kraftfahrzeug nicht zum Existenzminimum gehört,
ausdrücklich als vertretbar angesehen (a. a. O., Rn. 179). Somit kommt allenfalls - wenn der auf Kraftfahrzeuge
entfallende Aufwand für Ersatzteile und Zubehör tatsächlich geringer sein sollte als vom Gesetzgeber veranschlagt -
eine zukünftige Erhöhung der Regelleistungen in Betracht.
3. Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich auch nicht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG).
Das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 -, a. a. O. [Rn. 204]) hat es mit Art. 1 Abs. 1 GG
in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar angesehen, dass im Sozialgesetzbuch Zweites Buch eine Regelung
fehlt, die einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschenwürdigen
Existenzminimums unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsieht. Ein solcher sei für
denjenigen Bedarf erforderlich, der nicht schon von den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt werde, weil die Einkommens- und
Verbrauchsstatistik, auf der die Regelleistung beruht, allein den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen
widerspiegelt, nicht aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen. Der
Gesetzgeber sei verpflichtet, bis spätestens zum 31. Dezember 2010 eine Regelung im Sozialgesetzbuch Zweites
Buch zu schaffen, die sicherstelle, dass besonderer Bedarf in diesem Sinne gedeckt werde. Die nach § 7 SGB II
Leistungsberechtigten, bei denen ein derartiger besonderer Bedarf vorliegt, müssten aber auch vor der Neuregelung
die erforderlichen Sach- oder Geldleistungen erhalten. Andernfalls läge eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG vor, die
auch nicht vorübergehend hingenommen werden könne. Zwar blieben die mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art.
20 Abs. 1 GG unvereinbaren Vorschriften über die Höhe der gesetzlichen Regelleistung nach den vorstehenden
Ausführungen weiterhin anwendbar und müssen nicht rückwirkend ersetzt werden. Hinsichtlich der im
Sozialgesetzbuch Zweites Buch gegenwärtig fehlenden Härtefallklausel zur Deckung dieses besonderen Bedarfs sei
jedoch eine andere verfassungsrechtliche Bewertung geboten. Die geltenden gesetzlichen Regelleistungsbeträge
seien zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums zwar im Allgemeinen nicht evident
unzureichend; demgegenüber führe die gegenwärtige Rechtslage bei besonderem Bedarf dazu, dass ein solcher auch
dann ungedeckt bleibe, wenn er von der verfassungsrechtlichen Garantie eines menschenwürdigen
Existenzminimums umfasst sei.
Um die Gefahr einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in der Übergangszeit bis
zur Einführung einer entsprechenden Härtefallklausel zu vermeiden, hat das Bundesverfassungsgericht die
verfassungswidrige Lücke für die Zeit ab der Verkündung des Urteils durch die Anordnung eines entsprechenden
Anspruchs aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG geschlossen.
Für die Ausfüllung des Begriffs des unabweisbaren Bedarfs greift die Kammer auf die Auslegung des gleichlautenden
Tatbestandsmerkmals in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II zurück.
Ein unabweisbarer Bedarf liegt danach vor, wenn er gedeckt werden muss, um dem Leistungsberechtigten ein Leben
in Armut zu ersparen (Bender, in: Gagel, SGB III, 36. ErgLfg 2009, § 23 SGB II Rn. 12), das er wegen des durch
seine individuelle Lage bedingten außergewöhnlichen Umfangs seines Bedarfs an notwendigem Lebensunterhalt sonst
führen müsste.
Auf Grundlage der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts können - anders als bei den Leistungen nach § 23 Abs.
1 SGB II - keine einmaligen Leistungen oder darlehensweise bewilligte Leistungen beansprucht werden, so dass die
von der Klägerin geltend gemachten Aufwendungen für die Abmeldung ihres früheren Autos von vorn herein nicht
bewilligt werden können.
Jedoch ist auch kein durch die individuelle Lage der Klägerin bedingter außergewöhnlicher laufender Bedarf für die
geltend gemachten Aufwendungen gegeben.
Als Ursache eines außergewöhnlichen Bedarfs an Mobilität kommt hier nur der Wohnort der Klägerin in Betracht, der
zwischen rund 14 und 28 Kilometer von den Städten J., H. und K. entfernt liegt.
Es begegnet zwar bereits erheblichen Zweifeln, dass auch ein besonders exponierter Wohnort überhaupt einen
unabweisbaren Bedarf begründen kann, weil große Teile der Bevölkerung in vergleichbaren Wohnsituationen leben.
Die Kammer hält es jedoch nicht für ausgeschlossen, bei Vorliegen hinzutretender besonderer Umstände einen
unabweisbaren Bedarf anzunehmen. Denkbar erschiene dies bei besonders außergewöhnlichen persönlichen und/oder
gesundheitlichen Gegebenheiten, die mit dem exponierten Wohnort und den dadurch bedingten erheblichen, nicht
anders abwendbaren Mobilitätserschwernissen zusammentreffen.
Eine besondere Situation in diesem Sinne liegt hier indes nicht vor.
Gesundheitliche Umstände, die die Benutzung eines Kraftfahrzeugs unverzichtbar erscheinen ließen, liegen nicht vor.
Auch besteht am Wohnort der Klägerin eine noch ausreichende Mobilitätsversorgung. Die Klägerin hat selbst
Busfahrpläne vorgelegt, nach der mehrmals täglich Busverbindungen - wenn auch mitunter nur in mehrstündigem
Abstand - zwischen den regionalen Mittelzentren K., H. und J. und ihrem Wohnort bestehen. Zwar ist der Kammer
nachvollziehbar, dass die Benutzung eines Kraftfahrzeuges unter diesen Voraussetzungen wünschenswert ist.
Allerdings ist gleichermaßen zu berücksichtigen, dass die Fahrtzeit auch nach H. und K. weniger als eine Stunde
beträgt und dies die Klägerin erheblich weniger als viele Arbeitnehmer beansprucht.
Weitere einzubeziehende Umstände, aus denen sich ein unabweisbarer Bedarf auf Benutzung eines Kraftfahrzeuges
ergeben könnte, sind weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.